Читать книгу Das hat ja was mit mir zu tun!? - Dirk Rohr - Страница 6
ОглавлениеVorwort
Die systematische Benachteiligung und Marginalisierung von Menschen, die rassifiziert und so als »Andere« konstruiert, empfunden und bezeichnet werden, wird in Großbritannien seit über zwei Jahrzehnten als institutioneller Rassismus (McPherson 1999) tituliert: Hier handelt es sich um die kollektive Weigerung einer Organisation, Menschen aufgrund ihrer vermeintlichen »Kultur« und/oder Herkunft die angemessenen professionellen Dienstleistungen zukommen zu lassen. Institutioneller Rassismus manifestiert sich in diskriminierenden Verfahrensweisen, Einstellungen und Verhaltensmustern, in denen meist unwissentlich Vorurteile, Ignoranz und rassistische Stereotypisierungen reproduziert werden, die zur Abwertung von Menschen, die von der hiesigen Mehrheitsgesellschaft außerhalb der eigenen »weißen Normalität«1 verortet werden, führt. Besonders stark betroffen von solchen Diskriminierungserfahrungen sind People of Color und Schwarze2 Menschen sowie Personen, die als muslimisch gelesen werden. Sie sind nicht nur den rassistischen Strukturen von Organisationen, wie z. B. der Polizei, Lehreinrichtungen oder dem Gesundheitswesen, ausgesetzt, sondern ähnliche rassistische Strukturen werden auch im Kontext der Systemischen Beratung reproduziert.
Das mag auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen, da gerade Systemische Berater*innen in ihrer Selbsteinschätzung meinen, besonderes Verständnis und Toleranz für verschiedene kulturelle Werte und Sichtweisen zu haben. Aber es braucht mehr als das – und gerade dann, wenn es darum geht, als weiße Berater*innen mit Schwarzen Klient*innen und Klient*innen of Color zu arbeiten. Hier ist es wichtig, über die oft unsichtbaren, gesellschaftlich machtvollen und rassistischen Strukturen und die davon beeinflussten therapeutischen Modelle und deren begrenzte Anwendbarkeit zu reflektieren. Weiße Systemische Berater*innen sollten verstehen, dass viele Modelle eigentlich »WEIRD« (engl. = seltsam, unheimlich, schräg) sind. Das Akronym WEIRD (Henrich et al. 2010) steht für »Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic«. Man könnte noch ein weiteres W (für »White«) hinzufügen, aber dann wäre das Akronym noch »schräger« oder WWEIRDer … Worum geht es hier? Es geht um die Tatsache, dass ein Großteil der psychologischen Forschung routinemäßig davon ausgeht, dass ihre Ergebnisse im Großen und Ganzen repräsentativ sind, obschon 96 % der Proband*innen – und die Mehrzahl der Forscher*innen – aus westlichen Ländern stammen, die allerdings nur 12 % der Weltbevölkerung beherbergen. So sind die meisten gängigen therapeutischen Ansätze geprägt von diesen »eurozentrischen« (und nordamerikanischen) Forschungen und Erkenntnissen, und sie spiegeln wissenschaftliche Machtstrukturen wider, die auch rassistisch geprägt sind.
Institutioneller Rassismus findet sich überall und natürlich auch in der systemischen Praxis. Ich erinnere mich lebhaft an das zweitägige Antirassismus-Training mit einem Follow-up sechs Monate später, das vor mehr als 20 Jahren in der systemisch inspirierten Londoner Klinik, die ich damals leitete, stattfand. Alle nahmen daran teil, einschließlich Haus- und Reinigungskräfte, Verwaltung, Sekretär*innen und Berater*innen. Es war ein Schock für alle von uns, den unbewussten Rassismus in unseren Annahmen und Praktiken zu entdecken – ein wahrhaft deprimierendes und gleichzeitig lehrreiches Erlebnis. Die »Weißheit« aller Mitarbeitenden und die totale Abwesenheit von Schwarzen Berater*innen in unserem Team sahen wir nun als Beweis für den institutionellen Rassismus in unserer Klinik. So begannen wir umgehend, neue Mitarbeitende zu gewinnen, die die Heterogenität der Menschen unserer Versorgungsbezirke abbildeten. Wir begaben uns in einen sehr wichtigen gemeinsamen und gegenseitigen Lehr- und Lernprozess, in dem wir uns mit systemischen, rassismuskritischen und transkulturellen Inhalten beschäftigten. Wir begannen selbstreflexive Fragen zu stellen, wie: Welche Stereotype und Vorurteile sind in meinem Kopf wirkmächtig? Wie beeinflussen diese meine systemische Praxis? Wie mögen sie wohl auf die Ratsuchenden wirken? Welche Vorstellungen habe ich in der Schule und in meiner Herkunftsfamilie über die Anderen gelernt? Bin ich mir meiner eigenen gesellschaftlichen Position und Privilegien bewusst und wie mögen diese wohl meine therapeutischen Interventionen beeinflussen?
Unser zunehmend heterogenes Team schickte so ein wichtiges Signal an unsere Klient*innen – und auch an andere Kliniken und Organisationen. Und wir erlebten täglich, dass rassismuskritisches Lernen am besten in heterogenen und multi-professionellen Teams erfolgt. So sind wir auch oft auf vorher unbeachtete rassistische Problematiken aufmerksam geworden, und wir mussten als Institution immer wieder neue Wege finden, um mit spezifischen rassistischen Situationen umzugehen, wenn z. B. ein Klient ablehnte von einer Schwarzen Therapeutin behandelt zu werden. Unsere Klinik entschied sich ein Jahr später, über die Universität eine systemische Ausbildung anzubieten, mit dem zentralen Fokus auf »Race and Culture«. Andere systemische Ausbildungsinstitute nahmen ebenso »Race and Culture« zentral in ihre Curricula auf, nicht als eine einmalige »ethnic hour Zugabe«, sondern als einen integralen Bestandteil der systemischen Ausbildung in jeder Fort- und Weiterbildungsstunde. Auch heutzutage gibt es in Großbritannien keine systemischen Aus- und Fortbildungen, bei denen nicht »Race and Culture« einen zentralen Platz einnimmt.
Und trotzdem müssen Berater*innen täglich auf der Hut sein: Rassismus ist wie ein Virus, gegen den man sich regelmäßig impfen muss. Leider kommt es nie zu einer Immunität, obschon man schnell und leicht vergessen kann, wie endemisch und eigentlich unausrottbar dieses Virus ist. Obschon ich seit nun sieben Jahren am Anna Freud Centre arbeite, waren es der Mord an George Floyd und die neubelebte Black Lives Matter-Bewegung, die den Anstoß gaben, den institutionellen Rassismus unserer Klinik, die in der Vergangenheit vor allem psychoanalytisch orientiert war, zu untersuchen. Das führte im Sommer 2020 zu dem Entschluss, dass jeder der fast 300 Angestellten und Mitarbeitenden verpflichtet war, an einem von der Institution organisierten Antirassismus-Training teilzunehmen. Ich sage das selbstkritisch, und während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, warum das erst jetzt passierte und was meine eigene Verantwortung für diese Unterlassung ist und war. Und es wird mir bewusst, was die Autor*innen des vorliegenden Buches immer wieder betonen: Rassismus wirkt als permanente Machtstruktur im gesamten Gesellschaftssystem und infolgedessen auch in vielen alltäglichen Situationen.
In den USA und Großbritannien beschäftigen sich seit mehr als 40 Jahren Systemische Therapeut*innen mit Multikulturalität und entsprechenden kultur-kompetenten und -sensitiven Ansätzen (z. B. McGoldrick et al. 1982; Falicov 1983). In diesen Ländern ist interkulturelle Kompetenz seit Jahrzehnten wichtig und gefragt und im systemischen Familientherapiebereich voll in Lehrprogramme integriert. Seit mindestens 20 Jahren befassen sich angelsächsische Systemische Therapeut*innen auch explizit mit institutionellem Rassismus und dessen Einfluss auf die Praxis. Lehrtherapeut*innen of Color sowie Schwarze Lehrtherapeut*innen lehren in Ausbildungsinstituten, sind auf dieser Ebene stark repräsentiert und beeinflussen so Lehre und Lernen. In Deutschland hat sich das Feld der »interkulturellen Beratung« im systemischen Bereich vor zwei Jahrzehnten zu entwickeln begonnen (siehe z. B. El Hachimi u. v. Schlippe 2000; Hegemann u. Salman 2001), aber Begriffe wie »Kultur« oder »Religion« sind meist an die Stelle von »Rasse« getreten und die spezifische Fokussierung auf »Kultur« hat mit sich gebracht, dass Rassismus und implizite Machtverhältnisse, wenn, dann nur randläufig thematisiert wurden und werden. Eine systematische und gleichzeitig systemische Auseinandersetzung mit Rassismus als einer speziellen Form von Diskriminierung ist, soweit ich die deutsche systemische Szene kenne, längst überfällig.
Das nun ist der Fokus dieses Buchs, nämlich rassismuskritische Perspektiven einzubringen und so einen wichtigen Beitrag zu liefern, um die gähnende Lücke in deutschen systemischen Arbeitskontexten zu füllen. Systemische Berater*innen in Deutschland – das wahrlich auch eine Kolonialgeschichte hat, wenn auch eine andere als Großbritannien – sollen ermutigt werden, Rassismus als gesellschaftlich wirkmächtige Konstruktion – mit ganz konkreten und realen Auswirkungen! – bei ihrer therapeutischen Arbeit und in Supervisionen zentral zu berücksichtigen. Die Autor*innen, die sich in ihrer Selbstpositionierung als »weißes Autor*innenteam« beschreiben, betonen ausdrücklich, dass das vorliegende Buch aus einer weißen Perspektive geschrieben ist und sich primär an weiße Berater*innen richtet, die sich mit Macht- und Rassismuskritik in Bezug auf die eigene systemische Arbeit befassen und diese kritisch hinterfragen wollen. Sie zeigen auf, wie weiße Personen, einschließlich Berater*innen, von allgegenwärtigen rassistischen Machtstrukturen profitieren, sei es bewusst oder unbewusst. Sie zeigen auch auf, wie wichtig die Reflexion über die eigene Positioniertheit und insbesondere das Bewusstsein der eigenen weißen Privilegien sind, um die Machtverhältnisse wenigstens im systemischen Beratungssetting ein bisschen auszugleichen. Aber sie betonen auch, wie wichtig es ist, dass in Aus- und Weiterbildungskontexten und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Systemischer Beratung die Auseinandersetzung mit Weißsein als ein zentrales Element mit einbezogen wird. Auf diese Weise, so sagt das Autor*innenteam, können Systemische Berater*innen die eigene Positioniert- und Verstricktheit innerhalb dieser Machtverhältnisse kritisch reflektieren, Macht- und Rassismuskritik konkret in ihre Arbeit integrieren und zu einer Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen beitragen. Die drei umfangreichen Expertinnen-interviews enthalten bedeutende Erfahrungen und Sichtweisen, die alle weißen Systemischen Berater*innen und Supervisor*innen zu überraschenden Perspektivwechseln und Erkenntnissen auffordern.
Ich selbst habe viel von der Lektüre dieses Buches gelernt und sehe es als eine echte Bereicherung und Inspiration für die systemische Lehre, Supervision und Praxis. Ich wünsche dem Buch und dem Autor*innenteam von ganzem Herzen den Erfolg und die weite Leser*innenschaft, die sie voll verdienen.
Prof. Dr. Eia Asen Anna Freud Centre und University College London
Literatur
El Hachimi, M. u. A. v. Schlippe (2000): Therapie und Supervision in multikulturellen Kontexten. In: System Familie 13: 3–13.
Falicov, C. (1983): Cultural perspectives in family therapy. Rockvill, ML (Aspen).
Hegemann, T. u. R. Salman (Hrsg.) (2001): Transkulturelle Psychiatrie: Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Bonn (Psychiatrie Verlag).
Henrich, J., S. Heine a. A. Norenzayan (2010): Most people are not WEIRD. Nature 466: 29.
McGoldrick, M., J. K. Pearce a. J. Giordano (1982) (Hrsg.): Ethnicity and family therapy. New York (Guilford).
McPherson, W. (1999): Stephen Lawrence Inquiry Report. London (H. M. O.).
1Weiß bezieht sich hier auf eine soziale Konstruktion, bezeichnet Menschen, die nicht durch Rassismus diskriminiert werden und soll kursiv geschrieben deutlich machen, dass damit nicht eine reale Hautfarbe gemeint ist (siehe Kap. 2.2).
2Schwarz ist hier bewusst mit einem großen »S« geschrieben, da es sich in diesem Kontext nicht um die Farbe, sondern um eine politische Selbstbezeichnung von Menschen handelt, die durch Rassismus diskriminiert werden.