Читать книгу Das hat ja was mit mir zu tun!? - Dirk Rohr - Страница 7
1Einleitung
ОглавлениеRassismus prägt als Machtverhältnis Biografien und Strukturen in unserer Gesellschaft. In den letzten Jahren hat sich die Situation von Menschen, die in Deutschland durch Rassismus diskriminiert werden, erneut enorm zugespitzt. Sowohl rassistische Gewalttaten, aber auch öffentliche rassistische Äußerungen – nicht zuletzt vonseiten verschiedener politischer Akteur*innen – haben deutlich zugenommen. Die Art und Weise, wie öffentliche Diskurse geführt und verschiedene Themen behandelt werden, führt zu einer weitreichenden Marginalisierung von Menschen, die in Deutschland leben und durch Rassismus diskriminiert werden. Die Anschläge in Halle (09.10.2019) und Hanau (19.02.2020) stellen abermals eine erschreckende Zuspitzung von rassistischer Gewalt und Terror in Deutschland dar (vgl. Agar u. Kalarickal 2020). Auch die weltweiten Proteste im Rahmen der Black Lives Matter-Bewegung, die infolge des Mordes an George Floyd (25.05.2020) die häufig ignorierte rassistische Polizeigewalt in den Fokus öffentlicher Diskurse rückten, weisen erneut auf die Folgen von strukturellem Rassismus hin. Gleichzeitig sind es nicht nur rassistisch motivierte, physische Gewalt und intentional diskriminierende Verhaltensweisen, die die Lebensrealität vieler Menschen prägen. Auch die Auswirkungen von (un)bewussten Grundhaltungen und verinnerlichten Bildern haben einen enormen Einfluss auf das gesellschaftliche und individuelle Leben. Rassistische Diskriminierung drückt sich auch durch alltägliche Handlungen, Denkweisen und Verhaltensmuster aus. Dies wiederum führt zu einem Aufrechterhalten und damit zur kontinuierlichen Reproduktion von rassistischen Strukturen in unserer Gesellschaft (vgl. Ogette 2019, S. 16 f.). Wenn davon ausgegangen wird, dass diese gesellschaftlichen Machtstrukturen in allen Bereichen des Lebens wirken, werden rassistische Strukturen auch im Kontext Systemischer Beratung3 reproduziert – trotz aller Reflexion der Berater*innen. Das vorliegende Buch versteht sich als Annäherung hinsichtlich der Zusammenführung von Systemischer Beratung mit dezidiert macht- und rassismuskritischen Perspektiven. Dabei sind drei Aspekte grundlegend: Erstens bilden die Betroffenenperspektiven einen fundamentalen Bestandteil einer macht- und rassismuskritischen Auseinandersetzung. Vor allem gilt dies für den Kontext der Beratung, da nur so Menschen mit eigenen Rassismuserfahrungen ernst genommen und die individuellen (psychischen und physischen) Auswirkungen von Rassismus auch im wissenschaftlichen bzw. praxisbezogenen Diskurs sichtbar werden. Zweitens sind alle Menschen Teil von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Das Gesellschaftssystem in Deutschland ist von multidimensionalen Machtstrukturen bzw. sozialen Hierarchien geprägt, die diskriminierend und als strukturelle Gewalt wirken (vgl. Galtung 1975, S. 12 ff.). Neben anderen relevanten Machtstrukturen, wie der klassistischen oder der (hetero-/cis-) sexistischen, stellt die rassistische Machtstruktur eine wesentliche Dimension dar. Weiße Menschen profitieren – in der Regel unbewusst – davon, Bi_PoC (Black, indigenous People_and People of Color) sind entsprechend mit den negativen Auswirkungen konfrontiert. Drittens und daraus folgend wird eine Verortung von Rassismus und anderen Diskriminierungsformen an vermeintliche gesellschaftliche oder politische »Ränder« abgelehnt, da sie die Reflexion eigener Verstricktheit in eben jene Machtverhältnisse erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wo Systemische Beratung in Theorie und Praxis Anschlussmöglichkeiten bietet, wo aber auch Widersprüche zu Macht- und Rassismuskritik bestehen und Systemische Beratung Gefahr läuft, Rassismus selbst zu reproduzieren.
Im systemischen Denken werden Familiensysteme und andere soziale Konstellationen als grundlegend und relevant für die Situation eines jeden Individuums gesehen und maßgeblich mit in die Beratung einbezogen (vgl. Hanswille 2015, S. 697). Daher erscheint es in hohem Maße anschlussfähig, naheliegend und längst überfällig, dass die systemische Community in Deutschland Rassismus als gesellschaftlich wirkmächtige Konstruktion mit ganz konkreten und realen Auswirkungen in der systemischen Arbeit berücksichtigt. Denn was bedeutet es für die Systemische Beratung, wenn Machtstrukturen wie Rassismus mitgedacht werden? Und wenn dies im Hinblick auf die innere Haltung der Beratenden4, auf die Beziehungsebene zwischen Beratenden und Beratungsnehmenden, auf deren Lebensrealitäten sowie auf die strukturellen Kontexte, in denen Systemische Beratung stattfindet, geschieht? Inwiefern ist eine angemessene Beratung überhaupt möglich, ohne gesellschaftliche Machtverhältnisse zu berücksichtigen?
Das vorliegende Buch hat primär zum Ziel, dass sich weiße Berater*innen in Bezug auf die eigene systemische Arbeit mit Macht- und Rassismuskritik auseinandersetzen und lieb gewonnene systemische Gewissheiten und Methoden vor diesem Hintergrund kritisch hinterfragen. Die hier zu lesenden Ausführungen sind aus einer weißen Perspektive geschrieben. Daher ist zu betonen, dass zwar die Bemühung besteht, sich vor allem auf Texte von Personen mit Rassismuserfahrungen zu beziehen, dass aber trotzdem ein Bewusstsein darüber herrscht, dass von einer privilegierten Position aus geschrieben wird und somit internalisierte Denkmuster reproduziert werden können. Gerade die Relevanz, sich als weiße Berater*innen mit der rassistischen Machtstruktur und den eigenen Privilegien in eben dieser auseinanderzusetzen, wird hier als entscheidend gesehen und soll durch das vorliegende Buch betont werden.
Um dies zu verdeutlichen, wird in Kapitel 2 unter anderem eine Selbstpositionierung durch die Autorin und die Autoren unternommen. Im Anschluss daran wird in Kapitel 3 zunächst Diskriminierung als allgemeines Phänomen mit unterschiedlichen Formen und Ebenen beschrieben. Kapitel 4 legt den Fokus auf Rassismus als ein gesellschaftliches Machtverhältnis und dementsprechend auch auf gesellschaftliche Kontinuitäten, Strukturen und Diskurse. In Kapitel 5 erfolgt die Betrachtung von Rassismus als mögliche Traumatisierungserfahrung. Vor dem bis dahin erarbeiteten Hintergrund werden in Kapitel 6 macht- und rassismuskritische Anforderungen an die systemische Theorie und Praxis ausgesprochen. Diese adressieren systemische Grundhaltungen und problematisieren sogenannte interkulturelle Ansätze, die auch im Kontext Systemischer Beratung Anwendung finden. Abschließend werden in Kapitel 7 Komponenten einer systemischen, macht- und rassismuskritischen Praxis formuliert.
Darüber hinaus sind drei umfangreiche Interviews mit Expertinnen in dem vorliegenden Buch enthalten. Durch sie werden wichtige und wertvolle Perspektiven sichtbar, die wir als weiße Autorin und Autoren nicht hätten darstellen können. Wir danken an dieser Stelle Souzan AlSabah, Sandra Karangwa, Berivan Moğultay-Tokuş und Amma Yeboah von ganzem Herzen für ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen und für das Teilen ihres Wissens, das für den Buchprozess prägend war.
Außerdem danken wir Souzan AlSabah und Holla e. V. herzlich für ihre Arbeit und Forschung zu den Themenfeldern Rassismus und Gesundheit sowie Rassismus und Traumatisierung, auf denen die entsprechenden thematischen Ausarbeitungen in diesem Buch zu großen Teilen basieren.
Unser weiterer Dank geht an Bahar Dağtekin und Maurice Soulié für das rassismuskritische Lektorat und ihre wichtigen sowie kritischen Hinweise.
3Gleichwohl wir im Untertitel dieses Buches »Beratung, Therapie und Supervision« aufgeführt haben, verstehen wir im Folgenden Beratung als den Oberbegriff (vgl. Schubert, Rohr u. Zwicker-Pelzer 2019).
4Ziel dieser Arbeit ist es, eine Sprache zu verwenden, die alle Geschlechter mit einbezieht. So sind im Folgenden alle auf das Geschlecht bezogene Wörter in einer geschlechtsunabhängigen Schreibweise oder mit Sternchen (*) geschrieben. In einigen wörtlichen Zitaten wird nicht gegendert. Nach unserem Verständnis sind in den allermeisten Fällen dann sicherlich nicht nur männlich gelesene Personen gemeint.