Читать книгу Gewaltprävention im Alltag - Dirk Zeuge - Страница 7
ОглавлениеSelbstverteidigung
„Ich fürchte nicht den Mann,
der 10.000 Kicks einmal geübt hat,
aber ich fürchte mich vor dem,
der einen Kick 10.000-mal geübt hat.
“ Bruce Lee
Was ist eigentlich unter Selbstverteidigung zu verstehen? Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter dem Begriff der kampfbezogene Aspekt verstanden. In diesem Kontext geht es fast immer darum, einen gewalttätigen, körperlichen Angriff abzuwehren. Diese Definition umfasst den Begriff recht eng und schließt andere Themenbereiche aus. Zudem ignoriert dieser Terminus, dass eine gewalttätige Situation eben nicht plötzlich gegeben ist. Vielmehr spitzt sich die Lage mehr und mehr zu, bis es „plötzlich“ zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommt.
Durch das Ignorieren der Vorphasen und den entsprechenden Warnsignalen hat es dann oftmals den Anschein, dass das Opfer keine Chance hatte, diese gewalttätige Situation zu vermeiden. Dies ist jedoch ein Irrtum. Häufig senden Täter unbewusst unterschiedliche Signale aus, die auf eine drohende Gefahr hindeuten. Diese gilt es zu erkennen. Denn dann ist es möglich, frühzeitig die Maßnahmen zu ergreifen die notwendig sind, um gefährliche Konflikte zu vermeiden.
Bei manchen Selbstverteidigungskursen (häufig ist dies bei Kursen für Frauen zu beobachten) wird der Schwerpunkt fast ausschließlich auf Verteidigungstechniken gelegt. Gleichzeitig neigt manch ein Dozent dazu, den Teilnehmern möglichst viele Techniken zeigen und beibringen zu wollen. Der Gedanke ist dabei, dem Kursteilnehmer ein breites Spektrum an Wissen und Können mitgeben zu wollen. Jedoch wird vergessen, dass sich eine Routine bzw. ein Automatismus nur durch eine Vielzahl an Wiederholung erreicht werden kann. Besser wäre es, wenige, aber realitätsbezogene Techniken immer wieder zu üben, damit der Drill möglichst schnell verinnerlicht wird.
Die Erfahrung zeigt, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, Techniken nachhaltig im Unterbewusstsein zu verankern. Dies geschieht entweder durch viele hunderte, tausende Wiederholungen, wie es beispielsweise im traditionellen Karate der Fall ist. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass der Teilnehmer unter Stress gesetzt wird. Nun muss er die geübten Techniken unter Druck und vor allem ohne nachzudenken abrufen.
In Anbetracht der Kürze der Zeit wird in Kursen i. d. R. die zweite Variante genutzt. Hierzu werden unterschiedliche Situationen möglichst realitätsnah simuliert. Der oder die Teilnehmer haben dann die Aufgabe, sich gegen einen (oder auch mehrere) Angreifer zur Wehr zu setzen. Teilweise wird, auch um den Druck zu erhöhen, aber auch um Verletzungsrisiken zu minimieren, Vollschutzanzüge verwendet.
Diese Methode beinhaltet aber auch ein mögliches Risiko. Nämlich, dass sich in einem Kurs Teilnehmer befinden, die in der Vergangenheit bereits Opfer von Gewalttaten wurden. Es ist daher wichtig, dass sich die Teilnehmer im Vorfeld des Kursbeginns dem Dozenten vertrauensvoll öffnen bzw. öffnen können. Es muss vermieden werden, dass alte Wunden neu aufgerissen werden.
Es sind daher beide, der Dozent als auch der Teilnehmer, gefordert. Zum einen der Teilnehmer, der den Trainer über seine Erfahrung berichten sollte. Zum anderen der Dozent selbst, der nach solchen negativen Erlebnissen fragen sollte! Gleichzeitig sollte der Dozent den Teilnehmern die Möglichkeit einräumen, dass sich Trainierende ihm unter vier Augen offenbaren können. Selbstredend sind die Grenzen der Teilnehmer zu akzeptieren, zu respektieren und dürfen nicht überschritten werden.
An dieser Stelle möchte ich anführen, dass häufig die Sinnhaftigkeit von Selbstverteidigungskursen angezweifelt wird. Erfahrene Kampfsportler, die oftmals über Jahre eine oder mehrere Kampfsportarten trainieren, äußern ihre Bedenken in Bezug auf solche Kurse. Wie soll es denn möglich sein, dass ein Teilnehmer eines solchen Kurses sich nach wenigen Stunden verteidigen können soll, wenn man doch selbst viele Jahre hart trainiert?!
Verständlich. Doch zugleich zeigt die Fragestellung auf, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden. Die Vielzahl von Kampfsportlern lernen, sich einem (reglementierten Wett-)Kampf zu stellen und (unter diesen Bedingungen) zu kämpfen. Personen, die sich in Selbstverteidigung üben oder gar einen solchen Kurs besuchen, haben jedoch das Ziel, den Kampf zu vermeiden und suchen stattdessen den Sieg in der Flucht.
Ein Kampfsportler konzentriert sich im Training zumeist nur auf die Kampfphase, während es im SV-Training auch um die Analyse von realistischen Bedrohungslagen geht. Es geht darum, zu schauen, wie Täter sich verhalten, wie sie ihre Opfer aussuchen. Ebenso um die Entwicklung des Problembewusstseins sowie eines Plans (Stichwort: roter Faden), wie man einer solchen Bedrohungslage begegnen kann. Aus diesen Gründen sind die körperlichen Fähigkeiten wie bspw. Fitness, Ausdauer oder Kraft weniger wichtig als im Kampfsport. Darüber hinaus wird in guten SV-Kursen mehr Wert auf Simulations- und auch Szenarientraining gelegt. Selbstredend ist es immer besser, wenn eine gute und solide Grundfitness vorhanden ist. Dies erleichtert auch die Flucht.
All diese Unterschiede zeigen auf, dass ein Selbstverteidigungskurs nie das Ziel hat bzw. haben kann, aus einer Person einen Kämpfer zu machen. Denn um einen Kämpfer oder auch guter Kampfsportler zu werden, bedarf es eben eines regelmäßigen und intensiven Trainings in einer oder mehreren Kampfsportarten.
Es geht vielmehr darum, die Sinne des Teilnehmers zu schärfen, das Selbstbewusstsein zu stärken und Strategien und Taktiken zu entwickeln und zu üben, die es einem erlauben, gefährliche Situationen frühzeitig zu erkennen, diese zu vermeiden oder mithilfe von einfach zu erlernenden Techniken UND mithilfe eines Überraschungsmoments zu entkommen. Nur unter diesen Gesichtspunkten machen Selbstverteidigungskurse Sinn.
Daher ist ein SV-Kurs von seinem didaktischen Aufbau nicht geeignet, um einen tieferen Einblick in eine Kampfsportart zu geben. Ziel eines solchen Selbstverteidigungskurses muss es sein, dass den Teilnehmern ein roter Faden an die Hand gegeben wird, um im Ernstfall einen taktischen und strategischen Vorteil gegenüber einem Angreifer zu haben. Mithilfe dieses Vorteils sowie einigen wenigen (max. 4 bis 6) Selbstverteidigungstechniken kann das kurze Zeitfenster des Überraschungsmoments genutzt werden, um die Flucht zu ergreifen. Die Flucht bzw. das Verlassen einer Gefahrenzone sollte immer das Ziel sein.
Nur dann, wenn es keine andere Möglichkeit gibt (ist beispielsweise eine Deeskalations-Strategie gescheitert) und das eigene und/oder das Leben der Familie auf dem Spiel steht, gilt es zu kämpfen, und zwar mit allen verfügbaren Mitteln und darüber hinaus mit klarer Entschlossenheit!
In diesem Ratgeber werden keine Techniken i. S. v. „auf Angriff A erfolgt Verteidigung B“ in einer Bildreihenfolge gezeigt. Solche Bücher gibt es zur Genüge. Vielmehr wird der Blick auf den nachfolgenden Seiten auf die anderen Aspekte, wie Eigensicherung, Selbstbehauptung, Rechtsgrundlagen, dem Mindset u. a. geworfen.