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Die Legende vom schlauen Esel
ОглавлениеWie immer in Märchen, Sagen und Legenden hat sich die Sache vor vielen, vielen Jahren zugetragen, und die Menschen haben sich die Geschichte abends an den Feuern oder bei Kerzenschein weiter erzählt.
So veränderten sich Höhen und Tiefen und aus Flachland wurde Berg und Tal, ein kleines Rinnsal war plötzlich ein reißender Strom und ein harmloser Wanderer mit Spazierstock wurde zum Leibhaftigen oder zu einem von Gott gesandten Wesen.
Ja, so sind sie die Legenden, Märchen und Sagen.
Unsere Legende handelt von einem armen Bauern, der irgendwo weitab mit seinen beiden Söhnen das karge Land bearbeitete und einzig einen Esel sein Eigen nannte, auf dessen Rücken er das Wenige, das der Boden hergab, nachhause in die ärmliche Hütte, oder, sofern etwas übrig blieb, zum Marktverkauf transportierte.
Besonders wichtig war der Esel aber zum Transport der beiden Ziegenbälge, in denen aus einem entfernten Brunnen das Wasser geholt werden musste.
Rund um den Brunnen gab es auch noch saftiges grünes Gras, und während die Söhne das Wasser schöpften, konnte der Esel sich wieder einmal richtig satt fressen, weshalb er auch nicht gleich das Weite suchte, wenn man ihn von der Leine ließ.
Auf dem Wege zum Brunnen floss ein kleiner Bach, den man mühelos durchschreiten konnte. Nur war das Wasser daraus ungenießbar. Es war sehr schmutzig und trug oft Sand und Geröll mit sich, das es wohl droben in den Bergen aufgenommen und nun mit ins Tal gebracht hatte. Hier floss der Bach nicht mehr so schnell und Sand und Geröll setzten sich am Boden ab. Der Bach wurde zwar flacher, aber immer breiter.
Den beiden Burschen machte das nichts aus, sie zogen ihre Sachen aus, banden sie auf des Esels Rücken und sielten sich im flachen Gewässer.
Das brauchte seine Zeit und der alte Mann wunderte sich oft, warum seine Söhne so spät vom Brunnen zurück kamen. Er wusste ja nichts von dem fröhlichen Bad in dem breiter gewordenen Bach. Bisja, bis eines Tages auch der Esel Lust bekam ein Bad zu nehmen. Er drehte sich auf den Rücken und scheuerte sich den Schmutz herunter. Aber da waren ja die Kleider der Knaben. Manches, es war ja alt und mürbe, kam dabei zu Schaden.
Von ihren Badefreuden mochten sie zuhause nichts erzählen und so erfanden sie die Geschichte, dass sich der Esel an ihren Sachen geschabt hätte.
Der muss das wohl verstanden haben, denn wie zur Demonstration rieb er seine Schnauze am Rücken des einen, dann auch des anderen Sohnes, genau da, wo die Löcher und Ritzen waren.
Am nächsten Tag mussten sie kein Wasser holen und stellten alle Behälter, die sie hatten, vor das Haus. Es regnete in Strömen und es hörte sieben lange Wochen nicht auf.
Als die beiden Jungen mit dem Esel danach zum Bach kamen, war der ein breiter, reißender Strom geworden, den man nur schwimmend überqueren konnte.
Der Esel machte es ihnen vor und erreichte als erster das andere Ufer.
Als sie jedoch zum Brunnen kamen, rundherum war es glitschig und nass, staunten sie nicht schlecht. Der Brunnen hatte kaum noch Wasser. Geröll, Steine Schlamm waren durch den großen Regen hinein gespült worden. Und während sie noch erstaunt in die Tiefe blickten, wollte das auch der Esel tun, rutschte aus und stürzte über die niedrige Brunnenmauer in die Tiefe.
Was sie auch taten, nichts half, den Esel wieder heraus zu bekommen.
Lange saßen sie da und grübelten, was zu tun sei, und sie hörten dabei das klagende „Iah“ aus dem Brunnen.
Endlich fasste sich einer der Brüder ein Herz und sagte:
„Es hilft alles nichts, wir müssen ihn lebendig begraben.
Wir müssen den Brunnen, der sowieso kein Wasser mehr gibt, zuschütten.“
Stumm nickte der Bruder, und sie begannen Geröll und Sand und vom Regen angeschwemmte Erde mit bloßen Händen in den Brunnen zu schütten.
Als es zu Dunkeln begann, traten sie verzweifelt den Heimweg an, durchschwammen den Strom und gestanden schließlich ihrem besorgten Vater das Unglück, das sich ereignet hatte.
„Kommt einmal mit“, sagte der Alte und ging seinen Söhnen voraus in den Stall, in dem sonst der Esel stand.
„Aber da steht er ja!“, schrie völlig außer sich der Bursche der den Vorschlag für das lebendige Begräbnis des Esels gemacht hatte.
Die Buben waren außer sich vor Freude und umarmten den Esel wie einen Bruder.
Was war geschehen? Wie konnte das möglich sein?
Nun, anstatt sich lebendig begraben zu lassen, war der Esel bei jedem Stoß Sand oder Geröll darauf herum getrampelt und war so immer weiter nach oben gekommen. Als die Brüder sich auf den Heimweg begaben, war es nur noch wenig Mühe, auch das letzte Stück zu überwinden, die niedrige Mauer einzureißen und davon zu galoppieren. Und in seiner überschäumenden Lebensfreude fand er doch tatsächlich eine Furt, die ihn mühelos durch den Strom führte. So kam er früher zuhause an, als die beiden Jungen, die nun richtig stolz waren auf ihren klugen Esel.
Wie kommt man nun von dem klugen Esel auf unsere Wanderung? Nun, wir waren sicher auch Esel, wenn auch keine klugen, die sich auf einen langen Wanderweg machten, um den Eselsbrunnen zu sehen.
Da wir uns unserer Sache nicht ganz sicher waren, schlossen wir uns lieber einer Wandergruppe mit streckenkundiger Führung an einem sonnigen Herbsttag an.
Den Strom fanden wir als erstes und bestaunten seine gewaltigen Ausmaße.
Er hatte sich wohl nie mehr zu dem kleinen Rinnsal oder Bach zurück gebildet, von dem in der Legende die Rede war.
Aber es war eine herrliche herbstliche Landschaft, durch die wir wanderten.
Immer und überall Ausschau haltend nach dem Eselsbrunnen.
Doch wir sahen nur den Fluss, der träge dahin zog und nicht im Geringsten darauf schließen ließ, dass sich die Legende so zugetragen haben könnte, jedenfalls nicht hier, wo wir auf Wanderschaft waren.
Immer tiefer tauchten wir in den Herbstwald ein, der Wanderleiter machte ein geheimnisvolles Gesicht, die Gespräche verstummten, als würde gleich ein Wunder geschehen, das wir auf keinen Fall verpassen wollten.
Erika schaute mich bedeutungsvoll an und sagte: „Nun mal ehrlich, Micke, glaubst Du an die Legende von dem klugen Esel und dem Brunnen? – Wir sind doch hier nicht in einer kargen, verödeten Gegend, eine Stadt ist in der Nähe und der Fluss, der sich immer noch rechts von uns dahin wälzt heißt meines Wissens Mulde, die Stadt Grimma.“
Ich musste ihr innerlich recht geben, aber es wäre doch so schön, wenn sich der Titel dieser Wanderung erfüllen würde „Auf den Spuren des Eselsbrunnen“.
Ich bemerkte, dass auch andere Wanderfreunde langsam unruhig wurden, zweifelten und nach dem wirklichen Ziel fragten.
„Wir sind am Ziel“, sagte der Wanderleiter, als sich vor uns eine Lichtung öffnete. Dort sahen wir keinen Brunnen, aber einen Turm.
„Das ist er, ihr Esel, die ihr einen Brunnen gesucht und einen Turm gefunden habt. Denn das ist der wirkliche Kern der Legende vom klugen Esel, dass er wirklich in dem Brunnen verschüttet wurde. Vielleicht aber auch nicht, bei Legenden weiß man das nie so genau. Viele Jahre später errichtete man auf den Mauern des Brunnens diesen Turm, damit niemand die Ruhe des Esels stören konnte. Wer wollte das anfechten, wer wollte es bezweifeln? Der Zeit entsprechend, alles bekam seinen Namen nach Persönlichkeiten, hieß der Turm plötzlich ‚der Bismarck-Turm‘. Der Esel aber, den der alte Vater seinen Söhnen zeigte, war vielleicht ein Trugbild, eine Art Fata Morgana, die die Söhne gerne annahmen und glaubten, weil sie sich mit Schuld beladen und den Vater schon oft belogen hatten. Die Lüge ist nie ein guter Ratgeber.“
Sehr nachdenklich begaben wir uns in das Wirtshaus „Zur Schiffsmühle“. Aber nach dem Essen und einigen Bierchen war die trübe Stimmung wie weggeblasen.
Er war zwar ein Schlitzohr, unser Wanderleiter, aber er hatte uns einen wundervollen Herbsttag auf den Spuren der „Legende vom klugen Esel“ geschenkt.