Читать книгу Sophienlust Paket 1 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 18
Оглавление»Fräulein Bolton, bitte zum Diktat.« Die dunkle Stimme ihres Chefs riss Jennifer aus ihren trüben Gedanken. Dr. Kürten war es nicht gewohnt zu warten. Sie musste sich zusammenreißen.
Gestern Abend hatte sie einen Brief vorgefunden, der ihr ganzes Leben verändern konnte. Vielleicht – denn Jennifer wusste nicht, wie sie sich entscheiden sollte. Am unangenehmsten aber war ihr, dass sie ihren Chef, bei dem sie erst seit vier Wochen als Privatsekretärin beschäftigt war, schon um Urlaub bitten musste. Sie war so glücklich gewesen, diese Stelle zu bekommen. Zudem war Dr. Eric Kürten ein angenehmer Chef. Sachlich und zurückhaltend.
Jennifer Bolton war ein ungewöhnlich apartes Mädchen. Kluge graugrüne Augen belebten ein ovales, leicht gebräuntes Gesicht, das verriet, dass sie ihre Freizeit an der frischen Luft verbrachte und nicht in verräucherten Lokalen.
Jennifer war vierundzwanzig Jahre alt, sah aber noch jünger aus. Deshalb hatte Dr. Kürten anfangs wohl auch gezögert, sich für sie zu entscheiden, aber bald schon hatte er gemerkt, dass er es nicht zu bereuen brauchte. Jennifer war zuverlässig und tüchtig.
Deshalb verwunderte es ihn umso mehr, dass sie heute einen zerstreuten Eindruck machte, dass ihre Gedanken immer wieder abirrten.
Dr. Eric Kürten war ein guter Psychologe. Wenn ein Mädchen wie Jennifer Bolton unkonzentriert war, musste es tiefere Gründe haben. Ein Mann?, überlegte er, während er sie prüfend musterte.
Er selbst war erst Anfang Dreißig, wirkte aber gesetzt, da er die verantwortungsvolle Position nach dem plötzlichen Tode seines Vaters früh hatte einnehmen müssen. Zu früh, um richtig jung sein zu können.
»Fehlt Ihnen etwas, Fräulein Bolton?«, fragte er freundlich.
Es war eigentlich das erste Mal, dass er ein persönliches Wort an sie richtete. Jennifer war überascht.
»Verzeihen Sie, bitte«, erwiderte sie leise, »aber ich möchte Sie nicht mit meinen Sorgen belästigen.«
»Sie belästigen mich nicht. Immerhin kennen wir uns doch schon vier Wochen«, er lächelte. »Sie sind eine tüchtige Sekretärin, warum sollten Sie nicht auch einmal Ihr Herz ausschütten, wenn Ihnen danach zumute sein sollte?«
Jennifer errötete. »Es ist mir sehr unangenehm, Herr Doktor, aber ich müsste Sie um einen Tag Urlaub bitten. Ich erhielt gestern die Nachricht, dass mein Bruder und seine Frau ums Leben gekommen sind.«
»Oh, das ist schlimm«, sagte er betroffen. »Meine Anteilnahme.«
»Ich habe meinen Bruder seit sechs Jahren nicht mehr gesehen«, kam es stockend über ihre Lippen. »Er befand sich mit seiner Frau auf einer Expedition in Asien. Sie kamen bei diesem furchtbaren Erdbeben um. Ich wusste bisher gar nicht, dass sie dort waren.«
Er sah sie nachdenklich an. »Sie hatten kein enges Verhältnis zu Ihrem Bruder?«, fragte er behutsam.
»Er lebte nur für die Wissenschaft wie seine Frau. Das Schlimme ist, dass sie zwei Kinder hinterlassen, die in einem Heim untergebracht sind. Ich kenne die Kinder gar nicht. Und nun werde ich plötzlich vor die Entscheidung gestellt, ob ich die Vormundschaft für die Zwillinge übernehmen will.« Sie seufzte tief. »Aber ich halte Sie nur auf«, murmelte sie.
»Sie haben sonst keine Angehörigen mehr?«, fragte er behutsam.
Jennifer schüttelte den Kopf. »John war zwölf Jahre älter als ich. Finanziell hat er sehr gut für mich gesorgt, bis ich auf eigenen Füßen stehen konnte. Aber er war eben Forscher. Darüber hat er wohl auch seine Kinder vergessen.«
»Wie alt sind sie?«, fragte er.
Jennifer überlegte. »Sie müssen ungefähr vier Jahre alt sein. Etwas älter vielleicht. Wahrscheinlich sind sie schon ziemlich lange in diesem Heim. Der Nachlassverwalter bat mich um einen Besuch. Deshalb brauche ich den Urlaub. Ich kann es in einem Tag schaffen, wenn ich nach Frankfurt fliege.«
»Frankfurt – ich muss übermorgen geschäftlich dorthin«, erklärte er zu ihrer Überraschung. »Sie können mich begleiten. Es ist mir sogar recht lieb, denn meine französischen Sprachkenntnisse sind nicht so gut wie die Ihren. Sie erinnern sich, es geht um die Fusion mit dem Werk in Nantes. Oder wollten Sie schon morgen fahren?«, erkundigte er sich.
»Nein, ich habe noch keinen Termin genannt. Ich möchte ungern meine Stellung aufs Spiel setzen, Herr Doktor.«
»Das brauchen Sie nicht«, erwiderte er ruhig. »Ich wechsle ungern und habe mich bereits an Sie gewöhnt. Also verbinden wir unsere Interessen miteinander.«
*
Später in ihrer kleinen Wohnung, überlegte Jennifer, ob John ihr eigentlich etwas bedeutet hatte. Gewiss, er war ihr Bruder, aber der Altersunterschied hatte sie immer getrennt. Als sie geboren wurde, war er schon im Internat. Als sie die Schule verließ, hatte er sich bereits einen Namen als Forscher gemacht und war verheiratet. An seiner Hochzeit hatte sie nicht teilgenommen, da kurz zuvor ihre Mutter gestorben war, bei deren Beerdigung sie John zum letzten Mal gesehen hatte. Seine Frau hatte sie nie kennengelernt, und die Geburt der Zwillinge hatte er ihr beiläufig mitgeteilt.
Nun war er tot und seine Frau auch. Zurückgeblieben waren zwei Waisen, die außer ihr keinen Familienangehörigen mehr hatten. Es war ein eigentümliches Gefühl, denn eigentlich liebte Jennifer Kinder, aber diese beiden kannte sie gar nicht. Odette und Oliver, etwas mehr als vier Jahre alt, das war alles, was sie von ihnen wusste, außer dass sie in einem Kinderheim untergebracht waren, das den Namen »Kinderheim Sophienlust« trug. Alles andere würde sie erst durch den Nachlassverwalter erfahren.
Nett war es von Dr. Kürten gewesen, dass er sie so freundlich angehört hatte. Ein eigenartiger Mann war er schon. Erstmals, seit Jennifer bei ihm beschäftigt war, zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sich wohl sein Privatleben gestalten mochte. Soweit sie wusste, war er unverheiratet und lebte mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammen. Das war aber auch alles, was sie bisher über ihn erfahren hatte.
*
»Nun fliegst du doch nach Frankfurt?«, fragte Elena Kürten ihren Sohn erstaunt. »Ich dachte, du wolltest Herrn Hanke schicken.«
»Ich habe es mir anders überlegt. Die Sache ist mir zu wichtig.«
Frau Kürten hatte allen Grund, sich zu wundern, denn sprunghaft änderte ihr Sohn seine Entscheidungen sonst nie.
Elena Kürten war eine resolute Frau, zugleich jedoch eine Grande Dame. Mit ihren sechzig Jahren wirkte sie noch außerordentlich jugendlich, und wenn überhaupt etwas sie bedrücken konnte – denn sie war durch und durch Optimistin –, dann die Tatsache, dass ihre beiden Kinder ziemlich schwierig waren.
»Wo ist eigentlich Angelika?«, fragte er plötzlich.
»Sie hat heute mal wieder ihren sentimentalen Tag«, stellte Frau Kürten gelassen fest. »Frank hat geschrieben, und da versinkt sie in Schwermut.«
»Ich weiß nicht, warum sie so eigensinnig ist«, meinte er. »Sie liebt ihn doch, da ist es doch wahrhaftig kein Verbrechen, dass sie keine Kinder bekommen kann.«
»Sie redet es sich aber ein«, bemerkte Frau Kürten sinnend. »Und sie wird das noch so lange tun, bis ihre Ehe wirklich in die Brüche geht. Ich gebe es auf. Es wird wohl mein Schicksal sein, niemals Großmutter zu werden. Angelika kann keine Kinder kriegen, und du denkst nicht daran zu heiraten.«
»Warum adoptiert Angelika eigentlich nicht ein Kind oder gar zwei?«, erwiderte er. »Es gibt doch so viele elternlose Kinder, die glücklich wären, wenn sie ein richtiges Zuhause hätten.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Frau Kürten erstaunt.
»Warum? Das liegt doch nahe.«
»Nun, vielleicht gelingt es dir dann auch, Angelika das beizubringen. Sie meint, dass ihr fremde Kinder nichts bedeuten könnten.«
»Es müssten natürlich Kinder sein, die liebenswert sind und von denen man wüsste, woher sie kommen«, erläuterte er seinen Standpunkt. »Ich habe da einen seltsamen Fall bei meiner Sekretärin.«
»Deiner Sekretärin?«, fragte Frau Kürten erstaunt. »Die neue? Wie ist sie eigentlich? Du hast noch gar nicht über sie gesprochen.«
»Sehr tüchtig«, antwortete er sachlich, ließ sich aber auf weitere Fragen nicht mehr ein.
*
Auch auf Gut Sophienlust war ein sehr amtlich und korrekt klingendes Schreiben angekommen. Es störte etwas die Wiedersehensfreude zwischen Denise von Wellentin und ihrer Freundin Claudia Brachmann, die gerade von ihrer Hochzeitsreise zurückgekommen war.
»Die armen Kinder«, sagte Denise von Wellentin leise.
»So bedauernswert sind sie doch gar nicht«, widersprach Claudia. »Sie kennen doch ihre Eltern kaum noch und werden sie deshalb auch nicht vermissen. Sie haben hier ihre Heimat.«
»Aber wie der Nachlassverwalter schreibt, haben sie eine Tante. Es könnte ja sein, dass diese Tante die Kinder zu sich nehmen will.«
»Jammere den Kindern doch nicht schon nach, solange sie noch hier sind, Isi.«
»Du bist jetzt schon weit entfernt von unseren Problemen, Claudi, denn du bist glücklich verheiratet und wirst bald eigene Kinder haben.«
»Das könntest du auch, wenn du dir nicht partout in den Kopf gesetzt hättest, einer Unzahl von Kindern Mutterersatz zu sein. Ich könnte mir vorstellen, dass Alexander dies gar nicht gern sieht.«
Denises schönes Gesicht verschattete sich. »Alexander respektiert meine Argumente«, erklärte sie. »Übrigens kommt er gerade.«
Claudia Brachmann lächelte, als ihre Freundin zur Tür hinausstürzte. Wenigstens bedeutete ihr Alexander von Schoenecker so viel, dass sie ihre Probleme darüber vergaß. Claudia war froh darüber. Sie beobachtete vom Fenster aus, wie sich die beiden begrüßten.
Aber da waren schon Sascha, Andrea und Dominik zur Stelle.
Eines wurde deutlich. Dominik von Wellentin, Denises Sohn, begrüßte Alexander von Schoenecker am herzlichsten. Und Sascha und Andrea, Alexanders Kinder, schienen nichts dagegen zu haben. Also hatte sich während Claudias Abwesenheit nichts geändert. Das beruhigte sie sehr, denn das Wohl ihrer Freundin Denise lag ihr sehr am Herzen.
Claudia hatte keine Zeit, weiter ihren Gedanken nachzuhängen, denn Sascha und Andrea stürmten herein.
»Tante Claudi, Tante Claudi«, jubelten sie, »wie schön, dass du wieder da bist.«
»Sie bleibt ja nicht«, murrte Dominik. »Sie hat ja jetzt ihren Mann.«
»Aber sie wird bestimmt jeden Tag bei uns sein«, rief Andrea. »Nicht wahr, Tante Claudi?«
»Ich kann ohne euch ja gar nicht leben«, dachte die junge Frau, »und Lutz wird sich daran wohl gewöhnen.«
Sie widmete sich den Kindern, sodass Denise Gelegenheit hatte, sich mit Alexander zu unterhalten.
»Du siehst so sorgenvoll aus, Liebes«, meinte er. »Was ist passiert?«
»Noch gar nichts«, erwiderte sie. »Aber lies selbst.« Und sie reichte ihm das Schreiben, das Claudia zuvor gelesen hatte.
Er runzelte die Stirn. »Es wäre doch nur gut, wenn sich jemand um die beiden Kleinen kümmern würde«, stellte er fest. »Vielleicht wird ihnen diese Tante mehr Liebe entgegenbringen als die Eltern, die sie gar nicht kennen. Manchmal verstehe ich dich nicht, Denise. Willst du die Kinder mit Macht hier festhalten? Denkst du gar nicht an uns?«
»Wenn ich nur wüsste, ob es gut für sie ist«, seufzte sie. »Außerdem habe ich doch erst Golo und Heiner hergeben müssen.«
»Heiner hat seine Mutter, Golo seinen Vater wieder. Sie sind in ein gesichertes Leben entlassen worden. Es gibt drei Kinder, die dich viel nötiger brauchen, Denise: Nick, Sascha und Andrea. Sie wollen eine Mutter. Und ich will eine Frau, die mir gehört. Ich bin dankbar um jedes Kind, das Sophienlust verlässt.«
»Du bist egoistisch.« Sie sagte es in aufbegehrendem Ton.
»Gut, das gebe ich zu. Seit Monaten versuche ich dich zu verstehen«, erwiderte er. »Aber seit Monaten verzehre ich mich auch in Sehnsucht nach dir, Denise. Ich bin ein Mann.«
Ungestüm nahm er sie in seine Arme und küsste sie fast verzweifelt. Zärtlich umschloss sie sein Gesicht, dieses so sehr geliebte Gesicht.
»Ich habe auch Sehnsucht nach dir«, gestand sie. »Frau Rennert wird morgen kommen. Wenn ich Sophienlust bei ihr in guten Händen weiß, brauchst du nicht mehr zu warten, Alexander.«
»Frau Rennert?«, fragte er.
»Wolfgang Rennerts Mutter. Sie ist doch Fürsorgerin.«
Er schüttelte den Kopf. »Ein ehemaliger Häftling und seine Mutter? Wird das nicht dem Renommee von Sophienlust schaden?«
»Ich werde mir Frau Rennert ganz genau anschauen«, versprach sie. »Ihr Sohn ist im Grunde ein feiner Kerl. Man darf ihm nicht nachtragen, dass er einmal gestrauchelt ist, Alexander. Fallen ist keine Schande, nur liegen bleiben, das hat schon Goethe gesagt.«
Seine Hände umschlossen ihr Gesicht. »Du zauberhafteste aller Frauen«, seufzte er. »Wer könnte dir widerstehen, wenn du mit deinen Argumenten kommst. Aber denk bitte auch ein klein wenig an uns. Ein Leben ohne dich, Denise, kann ich mir nicht mehr vorstellen.«
Ihr ging es nicht anders, aber es war schwer, alles unter einen Hut zu bringen: die Kinder, ihre Verpflichtungen, ihren Sohn und ihre Schwiegereltern, vor allem aber Alexander und seine Kinder, die sie ebenso liebte wie ihren eigenen Sohn und denen sie Mutter sein wollte.
*
Jennifer Bolton hatte im Büro alles erledigt. Den Nachmittag hatte ihr Dr. Kürten freigegeben, damit sie sich ein wenig auf die Reise vorbereiten konnte. Alles in allem würden sie doch vier Tage unterwegs sein.
Während Jennifer ihren Koffer packte, überlegte sie, ob sie es würde einrichten können, einen Tag nach Gut Sophienlust zu fahren, um sich die Kinder wenigstens anzuschauen. Sie hatte einen Neffen und eine Nichte, Zwillinge, und hatte noch nicht einmal ein Bild von ihnen gesehen. Ja, sie hatte auch nicht gewusst, wo sie sich befanden, sonst hätte sie den Kindern wenigstens ab und zu ein kleines Geschenk gemacht, damit sie merkten, dass es da doch noch jemanden gab, der zu ihnen gehörte.
Was hatten John und seine Frau sich eigentlich dabei gedacht, in die Welt hinauszuziehen und ihre Kinder bei Fremden zurückzulassen? Sie, Jennifer, hatte nicht das geringste Verständnis dafür. Wenn sie einmal heiraten und Kinder haben würden, sie würde sich nie von ihnen trennen. Keinen Tag.
So umkreisten Jennifers Gedanken immer wieder diese beiden kleinen Wesen, die ohne Liebe in einer fremden Umgebung aufwachsen mussten und die nun keine Eltern mehr hatten. Sie konnte nicht ahnen, dass in der Villa Kürten zur gleichen Zeit ein Gespräch zwischen Angelika Frobenius und ihrem Bruder Eric stattfand, das sich ebenfalls um diese beiden Kinder drehte.
Ganz plötzlich war diesem nüchternen Industriellen eine Idee gekommen, denn es behagte ihm schon lange nicht, dass Angelika sich so in ihre Komplexe hineinsteigerte, die ihre Ehe gefährdete. Eine glückliche Ehe, wie er wusste, und er schätzte seinen Schwager Frank, der sich zur Zeit auf einer Vortragsreise durch Skandinavien befand, sehr.
»Wenn man dich anschaut, könnte man wirklich meinen, du hättest den tyrannischsten Mann der Welt«, meinte Eric Kürten jetzt ungehalten, als er in das vergrämte Gesicht seiner einst so attraktiven Schwester blickte. »Himmel noch mal, der arme Kerl kann genauso wenig dafür, dass eure Ehe kinderlos ist, wie du.«
»Ich bin ja schuld daran«, erwiderte sie schmerzlich. »Ich weiß es doch. Verstehst du denn nicht, dass ich darunter leide? Zehn Jahre sind wir verheiratet, und alle Behandlungen waren vergeblich. Da muss man doch verzweifeln.«
»Frank liebt dich dennoch, er hat dir niemals einen Vorwurf deshalb gemacht. Willst du ihn denn gewaltsam in die Arme einer anderen Frau treiben, die vielleicht ein Kind bekommen kann, ihm aber nicht so viel bedeutet wie du? Andere werden doch auch damit fertig. Denk doch einmal daran, dass ihr ein Kind adoptieren könntet.«
»Du kennst meine Einstellung, Eric. Man weiß nicht, woher diese Kinder kommen und was aus ihnen wird. Man kann sie doch gar nicht so lieben wie ein eigenes Kind.«
»Das redest du dir ein. Man kann auch Pech mit eigenen Kindern haben. Kinder sind nicht ein Produkt ihrer Erbmasse, sondern ihrer Umgebung. Nehmen wir mal an, ich wüsste ein Kind oder auch zwei, deren Herkunft erstklassig ist, die aus unserem Milieu kommen, die kluge, charaktervolle Eltern hatten, die ihnen durch den Tod genommen wurden. Denk einmal darüber nach, Angelika.«
»Du redest so komisch«, sagte sie wachsam. »Hast du etwa Ausschau gehalten?«
»Ich habe nicht Ausschau gehalten, sondern durch Zufall von einem solchen Fall Kenntnis erhalten. Ich habe dabei auch nicht gleich an dich gedacht. Dieser Gedanke kam mir erst später. Und ich weiß auch gar nicht, ob sich diese Idee realisieren lassen würde.«
»Worum geht es?«, mischte sich Elena Kürten ein, die eben eingetreten war.
»Mein lieber, besorgter Bruder will mir ein oder gar zwei Kinder schmackhaft machen«, erwiderte Angelika ironisch, »und er meint sogar, welche auf Abruf zu haben.«
Frau Kürten sah ihren Sohn befremdet an.
»Angelika missversteht mich«, brummte er. »Ich habe eine Idee, aber sie zerflückt sie schon wieder und unterstellt mir Motive, die unsinnig sind. Ich habe doch gesagt, dass ich gar nicht weiß, ob sich der Gedanke realisieren lässt.« Er war ärgerlich, weil nun auch seine Mutter eingeweiht war, was er hatte vermeiden wollen. Sie griff diese vagen Andeutungen natürlich sofort auf und wollte bis ins Kleinste informiert werden. Seufzend begann er daher seinen Bericht.
»Ich kam eigentlich nur darauf, weil meine Sekretärin kürzlich die Nachricht erhielt, dass ihr Bruder und seine Frau bei einem Erdbeben ums Leben gekommen sind. Sie hinterlassen zwei Kinder, Zwillinge von etwa vier Jahren. Ihr Bruder war ein anerkannter Forscher, seine Frau ebenso. Vielleicht habt ihr den Namen John Bolton schon mal gehört.«
»Natürlich«, riefen die beiden Frauen wie aus einem Munde. »Deine Sekretärin ist die Schwester eines so bekannten Mannes? Warum hast du das nicht schon mal erwähnt?«
»Weil ich es bisher selbst nicht wusste«, antwortete er widerwillig.
»Und es ist völlig ungewöhnlich, dass du dich für die Privatangelegenheiten deiner Angestellten interessierst«, bemerkte Frau Kürten anzüglich. »Ist sie hübsch?«
»Hat das etwas mit dieser Angelegenheit zu tun?«, fragte er ungehalten.
Angelika war für einen Augenblick von ihren eigenen Sorgen abgelenkt. »Immerhin wäre es an der Zeit, dich daran zu erinnern, dass es auch noch Frauen gibt, nicht nur Geschäfte. Es braucht ja nicht ausgerechnet deine Sekretärin zu sein.«
»Ach, lass mich in Ruhe«, sagte er aggressiv. »Du kommst völlig vom Thema ab. Es tut mir leid, dass ich überhaupt damit angefangen habe.«
»Mir nicht«, meinte Frau Kürten. »Es interessiert mich irrsinnig, was du dir da ausgedacht hast.«
»Gar nichts habe ich mir ausgedacht«, antwortete er wütend. »Fräulein Bolton wäre wahrscheinlich entsetzt, wenn sie wüsste, dass ich hier ihre persönlichsten Dinge zur Sprache bringe.«
»Aber sie hat zu dir davon gesprochen. Wieso eigentlich?«
»Weil sie einen Tag Urlaub haben wollte, liebste Mama«, erklärte er steif, »und das ist etwas ungewöhnlich, wenn man erst vor vier Wochen eine Stellung angetreten hat. Sie muss den Nachlassverwalter ihres Bruders aufsuchen und sich entscheiden, ob sie die Vormundschaft für die Kinder übernehmen will, die sich in einem Heim befinden.«
»Und will sie das nicht tun?«, fragte Elena Kürten drängend.
»Sie ist ein junges Mädchen, das sich seinen Lebensunterhalt verdienen muss. Kannst du mir vielleicht sagen, wie sie da auch noch zwei kleine Kinder versorgen soll?«
»Sei doch nicht gleich so bissig«, meinte seine Mutter nachsichtig. »Ich finde es ergreifend, dass du dich plötzlich für solche Dinge interessierst. Ich dachte manchmal schon, dass du ein Holzklotz seiest, zwar mit viel Verstand, aber nicht mit Herz.«
Kannst du dich über mich beklagen?«, konterte er unwirsch.
»Ich nicht, Eric«, erwiderte sie versöhnlich. »Aber reden wir doch vernünftig. Was hast du mit diesem Fräulein Bolton besprochen?«
»Gar nichts, Mama, außer dass sie mich nach Frankfurt zu den Verhandlungen begleiten wird und so keinen Urlaub zu nehmen braucht, um mit dem Nachlassverwalter zu sprechen, da dieser in Frankfurt wohnt.«
Eric Kürten drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer, bevor seine Mutter noch weitere Fragen stellen konnte.
»Er nimmt sie mit nach Frankfurt«, staunte Frau Kürten. »Was sagt man dazu?«
»Na, vielleicht bringt er diese Zwillinge gleich mit«, meinte Angelika spöttisch. »Vielleicht hat er sich in dieses Fräulein Bolton verliebt und will nun mir die Kinder aufhalsen, damit er seine Ruhe hat.«
Kopfschüttelnd sah Frau Kürten ihre Tochter an. »In was du dich alles hineinsteigerst, Angelika«, sagte sie missbilligend. »Du solltest dankbar sein, dass du einen Bruder hast, dem dein Wohl so sehr am Herzen liegt wie mir auch. So geht es nämlich nicht mehr weiter, mein liebes Kind. Nächste Woche kommt Frank zurück. Ich hoffe sehr, dass du bis dahin zur Vernunft gekommen bist. Wie du aussiehst – als wärest du bereits vierzig und nicht erst dreißig. Wundern würde es mich wirklich nicht, wenn dir dein Mann davonlaufen würde. Ich kann seine Engelsgeduld nur bewundern.«
»Soll er doch davonlaufen«, erwiderte Angelika trotzig.
Frau Kürten sah sie nachdenklich an. »Sage mir nur nicht, dass du dann glücklicher wärest. Du liebst ihn doch. Raff dich lieber auf und tu etwas, um dein Glück zu retten.«
*
Denise von Wellentin sah sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, die Zwillinge vom Tod ihrer Eltern zu unterrichten. Immerhin konnte diese fremde Tante in Kürze hier aufkreuzen, und dann mussten die Kinder wenigstens vorbereitet sein.
Noch einmal hatte sie alle Unterlagen über sie durchgesehen. Die beiden befanden sich bereits seit zwei Jahren in Heimen und waren nur einmal von ihren Eltern besucht worden. Erinnern würden sie sich also wohl kaum noch an sie, aber deren Tod war trotzdem ein entscheidender Einschnitt in ihrem Leben.
Als die beiden Kleinen dann vor ihr standen, fand Denise nicht so rasch Worte. Sie waren zwei ausgesprochen reizende Kinder mit braunen, jetzt schuldbewusst blickenden Augen. Oliver war dunkel, Odette blond. Auch sonst sahen sie sich nicht sehr ähnlich. Jedenfalls konnte man kaum annehmen, dass sie Zwillinge waren.
»Ich muss euch etwas sagen«, begann Denise stockend.
»Kommen wir wieder in ein anderes Heim?«, fragte Oliver ängstlich.
»Ich gehe nicht fort«, fiel Odette sofort ein. »Nein, das können sie nicht mit uns machen.«
»Es ist etwas anderes«, murmelte Denise. »Eure Eltern leben nicht mehr.«
Nun war es wenigstens heraus. Oliver riss die Augen auf und starrte Denise an.
»Sie sind tot, richtig tot?«, fragte er. »Dann können wir immer hierbleiben?«
Etwas anderes schien ihn nicht zu interessieren, und Odette schien derselben Meinung zu sein. »Dann können sie uns nicht mehr fortholen«, bemerkte sie. »Können wir nun wieder spielen, Tante Isi?«
Der Tod ihrer Eltern berührte sie nicht. Aber konnte man das von so kleinen Kindern überhaupt erwarten? Sie hatten ihre Eltern doch gar nicht richtig kennengelernt, nie ein Familienleben geführt. Sophienlust war ihre Heimat.
»Ich muss euch noch etwas sagen«, begann Denise wieder. »Ihr habt eine Tante.«
Entgeistert sahen die Kinder sie an.
»Wir brauchen keine Tante«, erklärte Oliver aggressiv.
»Wir haben nie eine Tante gesehen«, mischte sich Odette ein. »Was für eine ist sie?«
»Die Schwester eures Vaters«, gab Denise Auskunft. »Vielleicht wird sie euch besuchen.«
»Das braucht sie nicht. Sie kann bleiben, wo sie ist.«
»Wir werden recht ekelhaft sein«, beteuerte Odette, »dann haut sie gleich wieder ab.«
»Nun hört mir mal gut zu.« Denise wurde energisch. »So geht es auch nicht. Vielleicht ist sie sehr lieb und möchte euch gern kennenlernen.«
»Warum hat sie uns dann nie besucht?«, fragte Oliver. »Jetzt brauchen wir sie nicht mehr. Können wir jetzt wieder spielen, Tante Isi?«
Seufzend gab sie nach. Es war sinnlos, ihnen klarzumachen, dass sie nun einen Vormund brauchten. Verstehen würden sie das doch nicht.
*
»Mutti ist drin«, sagte Nick zu Edith Gerlach, die eben ins Büro gehen wollte.
»Ich muss sie leider stören, Nick. Frau Rennert ist gekommen.«
Seine Augen funkelten neugierig. »Die muss ich mir gleich mal anschauen.« Und schon war er weg.
Draußen stand Wolfgang Rennert bei seiner Mutter, einer rundlichen, gutmütig aussehenden Frau. Nick hörte, wie sie sagte: »Fühlst du dich hier wohl, Wolf? Es ist sehr schön hier. Ich muss Frau von Wellentin sehr dankbar sein, dass …«
»Sag ihr das lieber nicht, Mutter. Sie hört es nicht gern«, fiel er ihr ins Wort. »Ja, es ist sehr schön hier. Für mich hat ein neues Leben begonnen. Ich dachte nicht, dass ich noch einmal so viel Freude erleben könnte.«
Er sah gesünder aus als vor Wochen, als er nach Sophienlust gekommen war, und aus seinen Augen war der schwermütige Ausdruck verschwunden.
Denise von Wellentin trat aus der Tür, und Nick machte, dass er davonkam.
»Guten Tag, Frau Rennert«, begrüßte Denise die Besucherin. »Es freut mich sehr, dass Sie gekommen sind. Bitte, treten Sie doch ein!«
»Ich muss wieder zu den Kindern«, entschuldigte sich Wolfgang Rennert stockend. »Wir haben Gesangstunde.«
Während er wegging, versicherte Else Rennert dankbar: »Dass Sie ihm diese Chance gegeben haben, werde ich Ihnen nie vergessen. Er hätte sich im Leben nicht mehr zurechtgefunden. Jeder hätte doch mit dem Finger auf ihn gezeigt, auf den ehemaligen Strafgefangenen. Und er ist doch ein guter Junge.«
»Ich weiß es, Frau Rennert«, erwiderte Denise herzlich.
»Er macht seine Sache sehr gut. Die Kinder haben ihn gern, und die Vergangenheit soll endgültig begraben sein.«
»Dann haben Sie mich nicht seinetwegen kommen lassen?«, fragte Frau Rennert erstaunt.
»Nein, eigentlich nicht, wenngleich ich mir dachte, dass es Sie freuen würde, Ihren Sohn in seinem neuen Wirkungskreis zu sehen. Ich habe ein persönliches Anliegen an Sie, Frau Rennert.«
»An mich?«
»Sie sind doch Fürsorgerin, also in etwa mit den Gegebenheiten, die die Führung eines solchen Heimes mit sich bringt, vertraut. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich zutrauen würden, dieses Heim zu leiten. Vorerst mit mir gemeinsam, später jedoch allein, natürlich mit Unterstützung geübter Kräfte.«
»Dieses Heim …, dieses wunderschöne Heim soll ich leiten?«, fragte Frau Rennert staunend.
So rasch hatte Denise ihr Anliegen eigentlich gar nicht vorbringen wollen. Sie hatte diese Frau zuerst einer genauen Prüfung unterziehen wollen, aber ihr mütterliches Wesen war ihr auf Anhieb sympathisch. Was Wolfgang Rennert einmal getan hatte, hatte er für seine Mutter getan, und Denise verstand ihn nun erst recht.
»Sie sind zu gütig, Frau von Wellentin«, murmelte Else Rennert.
»Sie sollen Ihre Entscheidung natürlich nicht überstürzen, sondern sich alles genau anschauen und die Kinder kennenlernen. Es gibt ja nicht nur Freude mit ihnen, sondern auch Sorgen.«
»Wem sagen Sie das? Es ist in einer kleinen Familie nicht anders als in einer großen.«
Das gefiel Denise. Ja, eine große Familie sollte in Sophienlust bestehen bleiben, wie Sophie von Wellentin es gewollt hatte. Und diese Frau konnte die Liebe geben, die diese Familie benötigte, das fühlte Denise. Vom Schicksal hart gebeutelt, hatte Frau Rennert ganz sicher das entsprechende Verständnis für die manchmal recht schwierigen Kinder, denen sich Denise nicht mehr widmen konnte, wenn sie Alexander von Schoeneckers Frau wurde. Und darum wollte sie sich bald entscheiden, damit sie noch eine Zeit lang Hand in Hand arbeiten konnten.
»Ich könnte dann auch bei meinem Jungen sein«, überlegte Frau Rennert. »So viel Glück kann ich noch gar nicht fassen. Wolf wird doch auch hierbleiben dürfen?«
»Er ist uns bereits unentbehrlich geworden«, lächelte Denise. »Wer sollte den Kindern sonst Musik- und Zeichenunterricht geben und Nachhilfestunden? Und nun werden Sie es sich in aller Ruhe überlegen, Frau Rennert. Schauen Sie sich alles an. Edith wird Sie herumführen.«
Wie im Traum ging Else Rennert durch Sophienlust. Ihr war als hätte sich der Himmel für sie aufgetan. Denise aber dachte an Alexander und presste ihre Hände auf ihr stürmisch klopfendes Herz. »Nun rückt unser Glück doch in greifbare Nähe, Liebster«, dachte sie sehnsüchtig.
*
Dr. Kürten hatte Jennifer den Wagen mit dem Chauffeur geschickt. Er selbst wurde von Angelika zum Flugplatz gebracht. Dabei kam diese auf das gestrige Gespräch zurück.
»Ich habe es überschlafen, Eric«, sagte sie gedankenvoll. »Vielleicht könnte ich mich doch an den Gedanken gewöhnen, ein fremdes Kind zu adoptieren. Ich muss natürlich erst mit Frank darüber sprechen.«
»Fein, Angelika«, sagte er herzlich. »Vielleicht ist dies ein Weg. Leider ist das Schicksal oft so ungerecht, dass es gerade denen ein Kind versagt, die gern eines haben möchten, während anderen die Kinder im Wege sind. Aber mit etwas gutem Willen kann man einen Ausgleich schaffen.«
Sie warf ihm einen gedankenvollen Blick zu.
»Fast möchte ich meinen, ich kenne dich erst seit gestern richtig«, sagte sie leise, und als sie wenig später am Flughafen eintrafen, umarmte sie ihn und küsste ihn herzlich auf die Wange.
Das gerade sah Jennifer Bolton, und es gab ihr einen Stich. »Er hat also doch eine Frau!«, dachte sie traurig.
Der schnittige Sportwagen fuhr schon wieder davon, als sie der dunklen Limousine entstieg. Dr. Kürten kam auf sie zu und begrüßte sie freundlich.
»Ich gebe telefonisch Nachricht, Karl, wann Sie mich wieder abholen können. Inzwischen halten Sie sich bitte meiner Mutter zur Verfügung«, sagte er zu dem Chauffeur.
»Guten Flug, Herr Doktor«, wünschte Karl. »Ihnen auch, Fräulein Bolton.«
»Es ist mein erster Flug«, gestand Jennifer leise.
»Na, hoffentlich bekommt er Ihnen«, meinte Dr. Kürten leichthin. Er war ganz und gar nicht so steif wie im Büro, sondern gab sich ganz leger.
Dr. Kürten hatte ihr den Fensterplatz überlassen. Er las ohnehin Zeitung, beobachtete sie dabei aber, ohne dass sie es bemerkte. Es gefiel ihm, wie schick und dennoch unauffällig sie gekleidet war. Noch mehr gefielen ihm allerdings ihre schönen schlanken Hände und ihr klares Profil. Und er wunderte sich, dass ihm dies alles erst heute auffiel.
Viel zu rasch verging der Flug. »Schade«, sagte Jennifer, als die Maschine zur Landung ansetzte. »Es war herrlich.«
Er lächelte, und diesmal lächelten auch seine Augen. Das irritierte Jennifer, und er selbst wurde auch unsicher, als er ihren Blick auffing.
»Jetzt haben wir ja noch Zeit für ein gemütliches Essen«, sagte er schließlich betont gleichmütig. »Ich darf Sie doch einladen?«
Jennifer fragte sich, ob das nicht etwas zu weit ging, doch sie nahm die Einladung an.
Er sah auf die Uhr. »Für den Besuch beim Nachlassverwalter ist jetzt eine ungünstige Zeit«, überlegte er. »Es wird auch besser sein, wenn Sie ihn vorher anrufen.«
»Dr. Marquardt erwartet mich gegen 14 Uhr«, erwiderte sie.
»Marquardt?«, fragte er überrascht. »Sagen Sie nur, dass es Heinz Marquardt ist.«
»Er heißt allerdings Heinz«, erwiderte sie befangen.
»Na, wenn das nicht ein ulkiger Zufall ist«, lächelte er. »Wir haben zusammen Jura studiert. Ein cleverer Bursche. Da werde ich Sie am besten begleiten. Er wird Augen machen, wenn er mich sieht.«
»Haben Sie denn keine Verabredung für heute Nachmittag?«, fragte Jennifer verlegen.
»Erst um siebzehn Uhr. Und bis dahin ist noch viel Zeit.
Dann saßen sie einander in dem wirklich gemütlichen Lokal gegenüber. Das Essen war delikat, wie Jennifer zugeben musste, und es war auch schon eine Ewigkeit her, dass sie mit einem Mann ausgegangen war.
Dr. Kürten war so aufgeschlossen, wie Jennifer ihn noch nie erlebt hatte. Seinen drückenden Pflichten entronnen, lernte sie ihn von einer ganz anderen Seite kennen. Und ganz plötzlich kamen sie auf die Kinder zu sprechen.
»Die Ehe meiner Schwester ist kinderlos«, begann er gänzlich unmotiviert.
»Ich würde es für sehr sinnvoll halten, wenn meine Schwester ein Kind adoptieren würde oder auch zwei. Finanziell bestünden keine Bedenken. Sie wundern sich über mich, Fräulein Bolton? Sie werden sich sicher noch mehr wundern, wenn ich Ihnen sage, dass ich dabei an die Kinder Ihres Bruders dachte.«
Ihre Augen weiteten sich. Ihr Mund stand ein klein wenig offen. Sie sah sehr jung, sehr verschreckt und sehr lieblich aus.
Eric Kürten beobachtete sie, und ganz erschrocken machte er sich Vorwürfe, dass er so mit der Tür ins Haus gefallen war.
»War ich sehr taktlos?«, erkundigte er sich rau.
Sie schwieg überrumpelt.
»Es ist doch so«, fuhr er stockend fort, »in einem komplizierten Fall wie dem meiner Schwester möchte man gern wissen, woher die Kinder kommen, wer ihre Eltern waren und was man eventuell von ihnen erwarten kann. Guter Gott, wahrscheinlich sage ich alles ganz falsch und verdreht. Können Sie mir nicht eine kleine Brücke bauen, Fräulein Bolton?«
Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich mich auf den Weg zu Dr. Marquardt mache«, antwortete sie mit belegter Stimme. »Ihr Vorschlag kam sehr überraschend für mich, Herr Doktor. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich verwirrt bin.«
»Es war taktlos von mir«, beschuldigte er sich selbst. »Verzeihen Sie.«
»Es war gut gemeint«, flüsterte Jennifer. »Wollen Sie mich wirklich zu Dr. Marquardt begleiten?«
»Wenn Sie es jetzt noch gestatten?«, fragte er rau.
»Ich bin so durcheinander«, sagte sie hilflos. »Ich wäre froh, wenn Sie dabei wären.«
Er half ihr in ihr Kostümjäckchen. Für den Bruchteil einer Sekunde blieben seine Hände auf ihren Schultern liegen, aber sie verspürte ein ungestümes Verlangen, sich an seine Brust zu lehnen und Schutz bei ihm zu suchen. Er war ein Mann, auf den man sich verlassen konnte, das fühlte sie. Aber er war auch ihr Chef, der reiche Fabrikant Dr. Eric Kürten, der nicht an sie, sondern an seine Schwester dachte. Und es gab da eine Frau, die ihn zum Abschied geküsst hatte …
Er ließ ein Taxi rufen. Jennifer folgte ihm wie im Traum. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihr Leben in eine entscheidende Phase getreten war.
*
Dr. Heinz Marquardt war so ungefähr in allem das Gegenteil von Eric Kürten. Er war lebhaft, untersetzt, sehr charmant und redselig.
»Menschenskind, Eric«, rief er aus, als er seinen Besuchern gegenüberstand, »was führt dich denn hierher? Wie dumm, dass ich gleich eine geschäftliche Besprechung habe.«
»Ich bringe sie mit«, erwiderte Eric Kürten gelassen.
»Wen? Deine Frau? Reizend, wirklich reizend.«
Jennifer errötete glühend. »Ich bin Jennifer Bolton«, sagte sie rasch.
Dr. Marquardt war konsterniert. »Sie?«, fragte Dr. Marquardt gedehnt.
»Sie ist meine Sekretärin, und zufällig kamen wir darauf, dass wir, du und ich, alte Studienfreunde sind, deswegen bin ich mitgekommen.«
»Das darf doch nicht wahr sein«, brummte Dr. Marquardt. »Du hast Geschmack. Ich möchte auch einmal eine so hübsche Sekretärin bekommen.«
Jennifer wurde abwechselnd rot und blass. Sie wagte nicht, Dr. Kürten anzuschauen.
»Fräulein Bolton zeichnet sich durch besondere Tüchtigkeit aus«, erwiderte Dr. Kürten distanziert.
»Entschuldige, aber ich bin ganz perplex. Die Freude, dich wiederzusehen, hat mich regelrecht verwirrt. Was ist die Welt doch für ein Dorf. Ich war mit John Bolton nämlich recht gut bekannt. Ich habe alle seine Geschäfte in Deutschland abgewickelt.«
Plötzlich schien sich Dr. Marquardt an den Grund ihres Besuches zu erinnern. Er wurde sachlich.
»Ist es Ihnen recht, wenn Dr. Kürten an der Unterredung teilnimmt, gnädiges Fräulein?«, fragte er höflich. »Es geht um die beiden Kinder und um das Vermögen.«
»Wenn es Ihnen lieber ist, Fräulein Bolton, fahre ich jetzt zum Hotel«, mischte sich Eric Kürten rasch ein.
Sie blickte ihn wieder Hilfesuchend an. »Wenn Sie bleiben könnten?«, meinte sie bittend. »Ich habe noch nie mit so etwas zu tun gehabt.«
»Sie brauchen keine Angst zu haben, dass ich Sie übervorteilen will«, erklärte Dr. Marquardt leicht beleidigt, aber der Blick, mit dem er Jennifer maß, gab für Eric Kürten den letzten Anstoß, hier auszuharren. Heinz Marquardt war allem Anschein nach noch immer derselbe Schwerenöter wie in seiner Studentenzeit. Und das behagte Eric Kürten gar nicht.
»Ich habe Ihnen noch gar nicht mein Beileid ausgedrückt, gnädiges Fräulein«, sagte Dr. Marquardt formell. »Es tut mir schrecklich leid um John und Susan. Vor drei Monaten traf ich sie zum letzten Mal in Pakistan. Ihr letztes Buch wird ein Bombenerfolg werden, dessen können Sie sicher sein. Kommen wir also zu dem Nachlass.«
Er hatte eine Abschrift des Testamentes vor sich liegen, aus dem hervorging, dass die Zwillinge zwei Drittel des Vermögens und Jennifer ein Drittel erben sollten.
»Es war eigenartig bei den beiden«, versicherte Dr. Marquardt, »sie waren überzeugt, dass sie gemeinsam sterben würden. Sie ergänzten sich in jeder Beziehung. Zwei ungewöhnliche Menschen.«
»Sie waren sich auch einig, die Erziehung ihrer Kinder fremden Menschen zu überlassen«, dachte Jennifer mit aufsteigender Bitterkeit.
»Zurzeit wird das Vermögen ungefähr dreihunderttausend Euro betragen«, fuhr Dr. Marquardt sachlich fort. »Ein Drittel also für Sie, gnädiges Fräulein. Es versetzt Sie in die Lage …«
»Es gehört den Kindern«, fiel Jennifer ihm ins Wort. »Es kann gar keine Rede davon sein, dass ich etwas für mich beanspruche.«
»Sagen Sie das nicht so rasch. Wenn Sie die Vormundschaft über die Zwillinge übernehmen sollten, ist es nur recht und billig, dass Sie auch in den Genuss des Erbes kommen. Es werden natürlich laufend Tantiemen aus dem Verkauf der Bücher, aus Zeitungsartikeln und dergleichen hinzukommen. Für die Zwillinge ist also ausreichend gesorgt. Sie sind in einem ausgezeichneten Heim untergebracht. Vielleicht haben Sie den Wunsch, sich davon zu überzeugen, Fräulein Bolton?«
»Diesen Wunsch habe ich allerdings«, erwiderte sie kühl. »Wie lange sind die Kinder bereits in diesem Heim?«
Dr. Marquardt sah sie befremdet an. »In Sophienlust erst seit einigen Wochen. Vorher waren sie in einem Schweizer Kinderheim, das aufgelöst wurde. Ich habe eingehende Informationen eingeholt, bevor ich zustimmte, dass sie nach Sophienlust kamen. Frau von Wellentin, die Besitzerin, erfreut sich eines ausgezeichneten Rufes.«
»Aber mein Bruder hat sich davon nicht überzeugt?«, fragte Jennifer.
»Dazu hatte er doch gar keine Möglichkeit. Er war ganz mit seinen Forschungen beschäftigt. Er wollte dem Wohl der Menschheit dienen.«
»Dem Wohl der Menschheit – und seinen Kindern?«, fragte sich Jennifer und sank noch mehr in sich zusammen.
»Sein früher Tod und natürlich auch der seiner Frau sind ein großer Verlust auf die Forschung«, beteuerte Dr. Marquardt. »Sind Sie sich dessen eigentlich bewusst, Fräulein Bolton?«
»Ich werde mich damit vertraut machen«, erwiderte sie abweisend. »Gut, ich werde die Vormundschaft für die Kinder übernehmen.«
Sie vernahm einen raschen Atemzug neben sich, aber sie wagte nicht, Dr. Kürten anzusehen. »Diese armen kleinen Kinder«, dachte sie. »Sie sind reich an Geld und arm an Liebe.«
»Dann werde ich alles in die Wege leiten«, sagte Dr. Marquardt. »Sind Sie länger in Frankfurt?«
»Zwei Tage«, erwiderte Dr. Kürten für Jennifer und erhob sich. »Dann wird Fräulein Bolton wohl nach Sophienlust fahren. Du weißt, wo du sie erreichen kannst, wenn es nötig ist.«
Dr. Marquardt grinste. »Sehen wir uns noch, Eric? Es wäre doch nett, Erinnerungen aufzufrischen. Ich bin frei und ungebunden. Abends kann ich es einrichten.«
»Mal sehen«, wich Eric Kürten aus.
»Gnädiges Fräulein, darf ich Ihnen einstweilen alles Gute wünschen. Ich freue mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu werden.«
Jennifer neigte nur leicht den Kopf. Draußen taumelte sie unwillkürlich, und Eric Kürten stützte sie.
»Er wollte dem Wohl der Menschheit dienen«, flüsterte sie. »Seine Kinder waren nur ein Teil davon. Entschuldigen Sie bitte, Herr Doktor, aber ich habe meinen Bruder wohl gar nicht gekannt.«
Mitfühlend betrachtete er sie. »Es war alles ein bisschen viel. Ruhen Sie sich jetzt aus. Ich komme ohne Sie zurecht.«
»Nein, nein«, sagte sie rasch. »Ich werde gleich wieder okay sein. Ich danke Ihnen sehr. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das ohne Ihre Hilfe überstanden hätte.«
»Aber ich habe doch gar nichts für Sie tun können«, widersprach er.
»Er war da, und das genügte«, dachte Jennifer.
*
Die Konferenz hatte sich ziemlich lange hingezogen. Jennifer war ganz bei der Sache gewesen, obgleich sie feststellen konnte, dass Dr. Kürtens Französisch mindestens so gut war wie ihres. Dagegen hatte Dr. Kürten beobachtet, dass die anwesenden Herren Jennifer weit mehr Aufmerksamkeit zukommen ließen, als bei solchen Anlässen üblich war. Ein überaus befriedigender Abschluss war das Ergebnis.
»Auch Ihr Erfolg«, bemerkte Dr. Kürten mit einem feinen Lächeln.
»Wieso?«, fragte sie verwirrt.
»Weibliche Anmut verwirrt die Sinne nüchterner Verhandlungspartner. So schnell bin ich noch nie zu einem guten Abschluss gekommen.«
Sie war schrecklich verlegen. »Herzlichen Dank für das Kompliment«, sagte sie stockend, »aber in erster Linie ist es doch wohl Ihr Erfolg, Herr Doktor.«
»Wir haben jedenfalls einen Grund zum Feiern«, meinte er. »Und wir haben einen Tag gespart.«
»Dann fliegen Sie morgen schon zurück?«
»Eigentlich habe ich nicht die Absicht. Nachdem ich nun so engagiert in Ihrer Sache bin und Sie sich so für meine eingesetzt haben, würde ich darum bitten, Sie nach Gut Sophienlust begleiten zu dürfen.«
Zarte Röte färbte ihre Wangen. »Ich habe Ihre Zeit doch schon viel zu sehr beansprucht«, murmelte sie.
»Soll das heißen, dass Sie mich rasch loswerden wollen?«, fragte er mutig.
»Nein, gewiss nicht«, bekannte sie.
Er betrachtete sie nachdenklich. »Sie wären jetzt eine recht vermögende junge Dame, die ihre Stellung aufkündigen könnte«, gab er ihr mit belegter Stimme zu verstehen.
»Ich möchte diese Stellung aber sehr gern behalten. Und Sie haben doch gehört, dass ich das Geld nicht haben will. Es steht den Kindern zu, nicht mir. Offen gestanden wusste ich gar nicht, dass die Arbeit meines Bruders so viel einbringt.« Sie machte eine Pause. »Er hätte sich doch mit seiner Frau die Muße gönnen können, sich wenigstens ein paar Monate im Jahr den Kindern zu widmen.«
»Menschen, die so besessen sind von ihrem Forschungsdrang, sollten sich besser keine Kinder anschaffen«, erwiderte er trocken. »Kinder brauchen ein Heim und liebevolle Eltern. Das ist durch nichts zu ersetzen. Ich habe meinen Vater früh verloren. Ich war zwar schon erwachsen, aber ich habe ihn dennoch schmerzlich vermisst. Aber mir ist wenigstens meine Mutter geblieben. Ich habe eine wundervolle Mutter, Fräulein Bolton«, fügte er warm hinzu.
»Das glaube ich gern.« Sie senkte den Kopf. Hatte sie damit schon zu viel gesagt?
Seine Hand schob sich unter ihren Arm. Plötzlicher Übermut hatte ihn gepackt, wie er ihn noch niemals kennengelernt hatte.
»Vergessen wir das alles mal für ein paar Stunden. Vergessen wir auch, dass wir Sekretärin und Chef sind. Allerdings möchte ich bemerken, dass ich Sie wirklich nicht gern verlieren würde.«
Seine Stimme hatte einen eigenartigen Klang. Die Wärme seiner Hand teilte sich ihr mit, und alle Beklemmungen lösten sich in ihr. Ein zauberhaftes Lächeln blühte um ihren Mund, als sie zu ihm emporblickte.
»Für einen solchen Chef muss man dankbar sein«, sagte sie mit schwingender Stimme. »Ich bin glücklich.«
Sie ist glücklich? Wirklich?, fragte er sich. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, aber eine quälende Angst bewegte ihn, ob er sie dann nicht verlieren würde. Er wusste doch gar nichts von ihr. Vielleicht gab es einen anderen Mann?
»Wenn doch diese Frau nicht wäre«, dachte Jennifer gleichzeitig. Nein, sie durfte sich nicht in Unmögliches versteigen. Sie wollte dankbar sein für diese Stunden, dankbar für seine Nähe und dankbar dafür, dass es einen Mann wie ihn gab. Und sie war sich nicht bewusst, dass in ihrem Herzen schon eine tiefe Liebe zu ihm keimte.
*
»So betrübt, Denise?«, fragte Alexander von Schoenecker, als sie den Telefonhörer auf die Gabel legte. »Eben noch warst du froh.«
»Morgen kommt Fräulein Bolton, die Tante von den Zwillingen. Ihre Stimme klang eigentlich ganz sympathisch«, antwortete sie.
»Dann wird sie selbst hoffentlich auch sympathisch sein«, bemerkte er. »Komm, Claudia und Lutz warten auf uns.«
Das junge Ehepaar wollte nun doch endlich den Einstand im neuen Heim geben. Und Denise freute sich auf den Abend mit ihnen und Alexander.
»Frau Rennert ist genau richtig«, erklärte er unterwegs. »Es war eine blendende Idee von dir, Liebes. Ich sehe für uns einen Silberstreifen am Horizont.«
Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Es gehört wohl jemand hierher, der reifer und abgeklärter ist als ich«, flüsterte sie. »Ich habe viel zu viel persönliche Wünsche.«
»Gott sei Dank, mein Liebling«, erwiderte er warm. »Manchmal hatte ich wirklich Angst, du könntest mich über all den Kindern vergessen.«
»Man wächst mit ihnen zusammen. Du musst das verstehen, Alexander. Oliver und Odette …«
»Könntest du nicht wenigstens für diesen Abend einmal abschalten, Liebste?«, bat er.
Jetzt waren sie vor dem hübschen Haus angelangt. Claudia und Lutz kamen ihnen auch schon entgegen.
Es gab viel zu erzählen, und das entzückende Heim des jungen Ehepaares musste natürlich auch besichtigt werden. Losgelöst von allem, was sie beschwerte, war auch Denise einmal wieder richtig heiter, und Alexander konnte sich nicht satt sehen an ihr.
Dann zeigten Claudia und Lutz ihre Filme von der Hochzeitsreise, und Alexander seufzte tief.
»Hoffentlich ist uns das auch bald beschieden«, meinte er sinnend. »Einmal zu zweit, ohne Anhang, könnt ihr es mir nachfühlen, wie ich euch beneide?«
»Es wird schon«, meinte Lutz zuversichtlich. »Nicht viel reden. Schlepp sie aufs Standesamt, pack die Koffer – und dann los!«
»Du hast gut reden«, seufzte Alexander, »du hast ja nicht so viele Kinder am Hals.«
*
»Morgen kommt die Tante von den Zwillingen«, raunte Dominik Andrea zu. »Ich habe gehört, wie Mutti es zu Alexander gesagt hat. Ob wir sie nicht warnen sollten?«
»Lieber nicht«, meinte Andrea, »sonst rennen sie weg. Es kann doch sein, dass sie sie gar nicht haben will – oder dass sie sehr nett ist. Die Zwillinge sind ja noch so klein, für sie wäre es doch auch schön, wenn sie eine richtige Familie hätten, so wie wir es uns auch wünschen, Nick. Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn wir immer nur in einem Heim leben müssten und niemals Mutti und Papi hätten. Das würde uns doch auch nicht gefallen.«
»Hier haben sie es aber gut, und Schläge kriegen sie auch nicht gleich, wenn sie mal was anstellen. Oliver hat gesagt, dass er lauter Dummheiten machen würde, damit sie ihn gern wieder hergeben würde, falls sie ihn von hier wegnehmen sollte.«
»Ach, das sagt sich so rasch«, versicherte Andrea. »Bei Roli und Robby ist es was anderes. Roli ist schon richtig groß, und Robby hat immer noch seine Mutter hier, aber wenn wir heiraten und mehr in Schoeneich sind, dann haben die Zwillinge doch niemanden mehr, der sie ganz lieb hat.«
»Frau Trenk bleibt doch und Edith auch, wenn sie nicht den Doktor Wolfram heiratet«, überlegte Nick. »Heute ist er schon wieder mit ihr weggegangen. Magda sagt, dass es ein großes Glück wäre, wenn Petra einen so netten Vater bekäme. Findest du nicht, dass alles schrecklich schwierig ist im Leben, Andrea? Mit den Kindern und so und auch mit den Eltern?«
»Seid endlich ruhig«, murrte Sascha aus dem Nebenzimmer. »Ich bin müde. Ich will schlafen.«
Nick legte seinen Finger auf den Mund. Mit Sascha wollte er es sich nicht verderben.
So schwiegen sie denn, und jeder kroch in sein Bett. Als Frau Trenk durch die Zimmer ging, war es ganz still.
*
Dr. Kürten hatte einen Mietwagen genommen. Er wollte nicht mit einem Taxi fahren, denn er wollte mit Jennifer allein sein.
Sie hatten am Tag zuvor einen wundervollen Abend verbracht. Es war beglückend für ihn gewesen, über alles mit ihr sprechen und selbst geheime Gedanken verraten zu können. Und je länger sie miteinander gesprochen hatten, umso näher waren sie einander gekommen.
Und nun fuhren sie nach Sophienlust, um die beiden Kinder zu besuchen, die so geheimnisvolle Bande zwischen ihnen geknüpft hatten.
»Man könnte sie doch erst einmal mitnehmen«, meinte Eric Kürten. »Sozusagen auf Probe, um festzustellen, ob sie sich überhaupt in eine Familie einleben können.«
Jennifer hielt den Atem an. »Sie haben diesen Gedanken noch immer nicht fallen lassen?«, fragte sie leise.
»Meine Mutter ist sehr kinderlieb, und wenn sich meine Schwester erst einmal an den Umgang mit Kindern gewöhnt hätte, würde es ihr vielleicht leichterfallen, sich zu entscheiden. Ganz sicher gibt es ja auch reizende Kinder, die keinen finanziellen Rückhalt haben.«
»Vielleicht sind Oliver und Odette gar nicht reizend«, bemerkte Jennifer gedankenvoll. »Mein Bruder war ein schwieriger Mann, und seine Frau kann ich gar nicht einordnen. Warten wir es ab.«
»Ihnen ist bange, nicht wahr?«, fragte er leise.
»Ja, mir ist bange«, gab Jennifer zu. »Und wäre ich jetzt allein, würde ich wahrscheinlich sogar umkehren.«
»Das müsste Sophienlust sein«, sagte er plötzlich.
Jennifer blickte durch das Fenster. »Das ist ja unwahrscheinlich schön«, rief sie überrascht. »Wenigstens sind die Kinder gut untergebracht. Dennoch – ich würde meine Kinder niemals in ein Heim geben. Nicht einmal für kurze Zeit.«
»Wünschen Sie sich Kinder?«, fragte er leise.
»Sehr«, nickte sie.
»Und gibt es einen Mann, den Sie sich als Vater dieser Kinder vorstellen?«
Ihr Herz klopfte stürmisch. »Dich«, dachte sie, »keinen anderen.« Ihr Blick war verschleiert, als sie ihren Kopf hob, aber dann sah sie plötzlich die Frau vor sich, die ihn geküsst hatte.
»Ich weiß nicht«, murmelte sie.
Seine Hände legten sich so fest um das Steuerrad, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Was erwarte ich eigentlich«, dachte er. »Dass sie mir gleich um den Hals fällt? Sie ist nicht die Frau dafür.«
»Kommt es auf den ersten Augenblick an?«, fragte sie plötzlich.
Das Blut hämmerte in seinen Schläfen. Er dachte an sie. Auf den ersten Augenblick? Nein, gewiss nicht. Aber es gab bestimmt einen entscheidenden Augenblick.
»Wie meinen Sie das?«, fragte er.
»Wenn mich die Kinder nun gleich ablehnen?«, erläuterte sie.
Enttäuscht senkte er den Kopf. Er dachte an sie, und sie dachte an die Kinder. Es schmerzte ihn.
»Wir werden es bald wissen. Seien Sie zuversichtlich«, sagte er.
*
»Sie ist reizend, und der Mann ist sehr sympathisch«, dachte Denise von Wellentin. Ihr zukünftiger Mann? »Was konnte das für die Zwillinge bedeuten?«
»Wissen die Kinder, dass ich komme?«, fragte Jennifer befangen.
Denise schüttelte den Kopf. »Ich dachte, es ist besser, wenn Sie sie erst einmal aus der Entfernung in Augenschein nehmen. Ich habe ihnen allerdings gesagt, dass ihre Eltern tot sind.«
»Wie haben sie es aufgenommen?«, fragte Jennifer tonlos.
»Es wird Sie vielleicht erschrecken, aber es hat sie nicht berührt.«
»Wie könnte es sie berühren, da sie die Eltern doch kaum kannten«, meinte Jennifer entschuldigend. »Es sind Kinder. Wo sind sie jetzt?«
»Bei den Ponys. Wollen Sie hinübergehen? In dieser Richtung.« Denise deutete zum Fenster hinaus.
»Danke, Frau von Wellentin. Hoffentlich sind Sie über mein Benehmen nicht befremdet.«
»Durchaus nicht.« Denise wunderte sich nur, dass Dr. Kürten zurückblieb, und noch mehr erstaunte sie, was er ihr zu sagen hatte.
Währenddessen ging Jennifer über den weichen grünen Rasen. Sie folgte den Stimmen der Kinder, die an ihr Ohr schallten. Dann sah sie sie zwischen den Ponys herumtollen. Ein paar ritten sogar auf den putzigen kleinen Tieren.
Es war seltsam, aber Jennifer wusste sofort, welche Kinder Odette und Oliver waren. Odette erinnerte sie an ein Kinderbild von ihr selbst, Oliver an eines von ihrem Bruder. Und das waren Zwillinge!
»Da kommt wer«, hörte sie einen bildhübschen dunkelhaarigen Jungen sagen, der gleich darauf auf sie zusteuerte.
»Ich bin Dominik von Wellentin«, sagte er mit einer höflichen Verbeugung.
»Guten Tag, Dominik«, erwiderte sie leise. »Ich bin Jennifer Bolton.«
Seine Augen wurden ganz groß. »Die Tante?«, fragte er erstaunt.
Sie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, und er nickte verständnisvoll.
Neugierig kamen nun ein paar Kinder näher, unter ihnen auch Odette, während Oliver auf einem Pony herumritt.
»Wie sagt man?«, rief Dominik mahnend.
»Guten Tag«, ertönte es teils schüchtern, teils unbefangen.
Jetzt musste Jennifer sich vorstellen.
»Das ist Odette«, sagte Dominik zu Jennifer.
»Ich bin deine Tante, Odette«, sagte sie verhalten.
»Meine Tante? Du bist doch noch ein Mädchen.« Odette drehte sich um. »Oliver, komm mal her. Und ihr könnt ruhig wieder spielen«, sagte sie zu den andern. Dann fuhr sie, zu ihrem Bruder gewandt, fort: »Das ist unsere Tante. Wie heißt du eigentlich?«
»Jennifer.«
»Lass sie doch«, maulte Oliver. »Sie kann wieder gehen.«
»Sie ist aber ganz nett«, widersprach Odette. »Tante Isi ist es bestimmt nicht recht, wenn du unhöflich bist.«
»Guten Tag!« Oliver machte nun doch eine kleine Verbeugung, dann fragte er: »Bleibst du lange?«
In Jennifers Augen stiegen Tränen: »Wie soll ich dir das verzeihen, John«, dachte sie. »Du bist tot, und ich darf dich nicht einmal anklagen.«
»Uns ist es egal, dass unsere Eltern tot sind«, sagte Oliver. »Wir wollen hierbleiben.«
»Sei doch nicht so«, flüsterte Odette. »Jennifer ist doch noch ein Mädchen, sie ist gar keine richtige Tante.«
»Können wir uns nicht ein wenig unterhalten?«, fragte Jennifer erstickt.
Odette kniff ihren Bruder in den Arm. So fest, dass er aufschrie. Er warf den Kopf in den Nacken.
»Warum kommt sie jetzt, wo die Eltern tot sind?«, schrie er aufgebracht. »Warum ist sie nicht gekommen, als wir noch bei Madame Merlinde waren?«
»Ich habe es doch gar nicht gewusst«, flüsterte Jennifer, und dann stand plötzlich Eric Kürten hinter ihr. Sie fühlte seine Nähe, noch bevor er sprach.
»Guten Tag, Kinder«, sagte er freundlich.
»Ist das dein Mann?«, fragte
Odette verwundert.
»Mein Chef. Ich habe keinen Mann«, erwiderte Jennifer.
»Dein Chef«, meinte Oliver nachdenklich. »Was ist das?«
»Ich bin seine Sekretärin. Ich arbeite für ihn«, erwiderte Jennifer, ein Schluchzen unterdrückend.
»Du musst arbeiten? Dann hast du gar keine Zeit für uns?«
Jennifer fühlte sich überfragt. Sie bebte am ganzen Körper, und sie konnte die Tränen auch nicht mehr zurückhalten. Sie lief wie gehetzt davon, auf das Haus zu, und sie landete in Denise von Wellentins Armen, die sich tröstend um sie schlossen.
Dr. Eric Kürten, der noch nie mit Kindern zu tun gehabt hatte, folgte einer Eingebung. »Kommt einmal her, ihr beiden«, sagte er zu den Zwillingen. »Ich möchte mit euch reden. Mit euch allein.«
*
»Ich verstehe es nicht«, schluchzte Jennifer. »Wie konnten John und Susan die Kinder nur allein lassen.«
Behutsam streichelte Denise die kalte Hand des jungen Mädchens. »Warum?«, sagte sie leise. »Wie oft fragt man sich das! Sie tragen doch keine Schuld, Fräulein Bolton. Dr. Kürten hat mir alles erzählt.«
»Fremde Menschen nehmen an einem Schicksal teil, das sie gar nichts angeht«, meinte Jennifer leise. »Wie sollen Kinder das begreifen?«
»Oliver und Odette können hierbleiben«, antwortete Denise ruhig. »Sie können selbst entscheiden, was sie wollen.«
»Sie sind doch noch viel zu klein, um Entscheidungen zu treffen. Sie geben ihrem Gefühl nach. Eine Tante, die sich nie um sie gekümmert hat, ist für sie keine richtige Tante.«
Denise ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. »Sie vermissen ihre Eltern nicht, jetzt noch nicht. Aber eines Tages werden sie Elternliebe vermissen. Wissen Sie, Fräulein Bolton, solch ein Heim ist etwas Eigenartiges. Viele Kinder finden sich zusammen. Alle haben ein ähnliches Schicksal. Doch hin und wieder besinnen sich Eltern, Mütter oder Väter, dass sie ein Kind haben, und holen es zu sich. Dann stehen die andern abseits. Dann erst wird ihnen bewusst, was ihnen fehlt. Ich gestehe gern, dass ich mit Angst und Schrecken Ihrem Besuch entgegengeblickt habe, weil die Zwillinge mir besonders ans Herz gewachsen sind, aber Dr. Kürten hat mir bewusst gemacht, dass meine Einstellung falsch ist.«
»Dr. Kürten?«, fragte Jennifer leise.
»Sie haben großes Glück, solch einen Chef zu haben«, fuhr Denise fort.
»Ich weiß es seit einigen Tagen«, erwiderte Jennifer leise.
»Vertrauen Sie ihm. Ich glaube, er kann die Entscheidungen treffen, zu denen Sie jetzt nicht fähig sind.«
*
Oliver hatte skeptisch, Odette neugierig das angehört, was Dr. Kürten ihnen zu sagen hatte.
»Will sie uns verkaufen«, fragte Oliver.
»Das ist doch Unsinn. Ihr könnt frei entscheiden«, erklärte Eric Kürten. »Wir nehmen euch mit zu uns, und wenn es euch nicht gefällt, könnt ihr wieder nach Sophienlust zurückgehen.«
»Und wenn wir nun gar nicht wollen?«, fragte der Junge.
»Sei doch nicht gemein, Oliver«, mischte sich Odette ein. »Ich mag Jennifer eigentlich ganz gern. Sie kann doch nichts dafür, dass die Eltern tot sind.«
»Wir haben nie gewusst, dass wir ’ne Tante haben«, begehrte Oliver auf.
»Dafür kann Jennifer auch nichts«, erwiderte Eric Kürten ruhig. Er verstand sich selbst nicht mehr. Mit Engelszungen redete er hier auf diese fremden Kinder ein und dachte dabei gar nicht mehr an Angelika, seine Schwester, sondern nur an Jennifer. Er musste ihr helfen, die richtige Entscheidung zu treffen.
»Ein paar Tage können wir doch mitfahren«, meinte Odette.
Oliver sah den Mann misstrauisch an. »Aber wenn wir wieder nach Sophienlust wollen, dürfen wir auch?«
»Ehrenwort«, versicherte Eric Kürten mit einem tiefen Seufzer.
*
Eng aneinandergeschmiegt saßen die Kinder auf dem Rücksitz des Wagens. Jennifer konnte es immer noch nicht fassen, dass die Kinder bei ihnen waren.
»Schlaft jetzt nicht ein«, mahnte Eric Kürten. »Wir sind gleich in Frankfurt, und dann fliegen wir nach Hamburg. Im Flugzeug könnt ihr schlafen.«
Er hatte von Sophienlust aus telefoniert. Die Plätze in der Maschine waren gebucht. Sie schafften es gerade noch, ihre Sachen aus dem Hotel zu holen.
Natürlich hatte Eric Kürten vergessen, den Chauffeur Karl anzurufen, und niemand hatte mit seiner so raschen Rückkehr gerechnet. So ließ er ein Taxi rufen und nahm Oliver auf den Arm, während Jennifer Odette trug.
Er nannte dem Taxichauffeur seine Adresse.
»Das geht doch nicht«, flüsterte Jennifer.
»Warum sollte es nicht gehen?«, fragte er.
»Meine Mutter wird sich freuen, Sie kennenzulernen.« Warm und zärtlich ruhte sein Blick auf ihr, sodass Jennifer erbebte.
Es war wohl für alle Beteiligten ein seltsamer Augenblick, als sie die Villa Kürten betraten.
Versteinert standen das Hausmädchen und der Butler, als Eric Kürten, den schlafenden Oliver im Arm, an ihnen vorbeischritt, gefolgt von einer jungen Dame, die die beiden noch nie gesehen hatten und die ebenfalls ein Kind trug, das aber schläfrig um sich blickte.
Aus ihrem Salon kam Elena Kürten. Sie lehnte sich an die Tür und strich sich über die Augen, als meinte sie, an Halluzinationen zu leiden. Und oben an der Treppe erschien Angelika und stieß einen spitzen Schrei aus.
»Nur keine Aufregung«, brummte Eric Kürten. »Mama, ich werde dir alles später erklären. Das ist Fräulein Bolton, und das sind die Zwillinge Odette und Oliver.«
Frau Kürten hatte sich rasch gefasst. Mochte es auch eine große Überraschung sein, es kamen zwei Kinder ins Haus, zwei müde kleine Kinder. Ihr mütterliches Herz strömte über vor Mitgefühl.
Jennifer blickte zu der schlanken blonden Frau hinauf, die sich an das Treppengeländer klammerte, und instinktiv wusste sie plötzlich, dass dies Eric Kürtens Schwester sein musste.
»Herr Dr. Kürten hat es so gewollt«, stammelte sie verlegen, als ihr Frau Kürten Odette abnahm.
»Später – wir können später über alles sprechen«, kam die leise Antwort. »Was haben wir denn da für müde kleine Kinderchen?«
Odette blinzelte. »Bist du eine Großmama?«, fragte sie schüchtern.
Ein Seufzer zog durch den Raum, dann antwortete Elena Kürten fest: »Ja, ich bin eine Großmama.«
»Angelika, möchtest du uns nicht helfen?«, rief Eric Kürten seiner Schwester zu, und da schrak Oliver aus seinem Schlummer auf. Weit riss er die Augen auf und blickte staunend um sich.
»Ist das ein Heim?«, wollte er wissen, und seine Lippen schürzten sich trotzig. »Ich bleibe aber nicht lange, ich will wieder nach Sophienlust.«
»Jetzt werden wir uns erst mal waschen und danach essen«, meinte Frau Kürten energisch. Ihr Sohn warf ihr einen dankbaren Blick zu, während Angelika nun langsam die Treppe herunterkam.
»Willst du mich überrumpeln?«, fragte sie aggressiv.
»Dich? Das könnte wohl eher Mama fragen«, entgegnete Eric gereizt.
»Ich fühle mich nicht überrumpelt«, lächelte Elena Kürten. »Vielleicht wäre es geschickter gewesen, wenn du angerufen hättest, Eric, dann hätte ich alles vorbereiten können. Aber mit vereinten Kräften werden wir schon zurechtkommen. Du bist also Odette?«
Die Kleine nickte zutraulich. »Es ist ein schönes Haus«, meinte sie anerkennend. »Gehört es dir?«
»Uns«, erwiderte Frau Kürten.
Odette sah nachdenklich zu
Erick. »Dem Doktor von Jennifer auch? Und wo wohnt Jennifer?«
Verlegen schaute Jennifer zu Boden. »Nicht hier«, erwiderte sie.
»Warum sind wir dann hier?«, wollte Odette wissen. »Du bist doch die Tante.«
»Hier ist mehr Platz«, erklärte Eric Kürten.
»Ist das nicht alles sehr überstürzt?«, mischte sich nun Angelika ein.
»Hilf lieber«, erwiderte ihre Mutter unbekümmert. »Die Kinder müssen sich erfrischen. Und Sie haben wohl auch das Bedürfnis«, wandte sie sich lächelnd an Jennifer. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Fräulein Bolton. Meine Tochter Angelika Frobenius.«
*
Frisch gewaschen, gekämmt und sehr brav saßen die Kinder dann bei ihnen am Tisch. Oliver ließ seine Blicke stumm von einem zum andern schweifen, während Odette aufgeregt von dem Flug erzählte, obgleich sie doch gar nicht viel davon mitbekommen hatte.
»Mich ärgert’s, dass ich geschlafen habe«, war das Erste, was Oliver sagte. »Warum habt ihr uns nicht geweckt?«
»Wir waren alle ziemlich müde«, antwortete Eric, und sein Blick streifte Jennifer.
»Möchtest du noch Nachspeise?«, fragte Angelika den Jungen.
Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Wenn ich noch welche haben darf? Sie schmeckt sehr delikat.«
Frau Kürten lachte leise. »Du drückst dich aber gewählt aus.«
»Das sagt Tante Isi auch immer. Wir müssen anständig sprechen«, erklärte er wichtig. »Habt ihr noch mehr Kinder hier?«
»Nein. Ihr seid die ersten seit langer Zeit in diesem Haus«, erwiderte Frau Kürten leise.
Mit einer heftigen Bewegung legte Angelika ihre Serviette auf den Tisch und verließ rasch den Raum.
»Was hat diese Tante?«, fragte Odette. »Haben wir etwas falsch gemacht?«
»Aber nein. Sie hat Kinder sehr gern, aber sie ist nicht an sie gewöhnt.«
»Hat sie keine?«, fragte Oliver.
»Leider nicht.«
»Hat sie einen Mann?«, fragte er weiter.
»Ja, einen Mann hat sie«, lächelte Frau Kürten.
»Mag er Kinder nicht?«
»Doch, er mag Kinder sehr gern.«
»Warum haben sie dann keine?«
»Oliver, sei nicht vorlaut«, ermahnte ihn Jennifer.
»Bin ich vorlaut?«, fragte er erschrocken.
»Frag nur. Wir wollen uns doch kennenlernen.«
Aufmunternd nickte Frau Kürten den Kindern zu.
Odette lächelte schelmisch. »Ich kenne dich schon ganz gut«, behauptete sie. Dann fragte sie: »Wie lange sollen wir hierbleiben, Jennifer?«
»Das wird sich finden«, antwortete Frau Kürten, bevor das junge Mädchen etwas erwidern konnte.
Jennifer wusste nicht, was sie sagen sollte. Dr. Kürtens Initiative war ihr etwa unheimlich, und die Gelassenheit und Geschwindigkeit, mit der Frau Kürten sich mit der Situation abgefunden hatte, ließ sie staunen.
»Vielleicht möchtet ihr jetzt schlafen?«, fragte Frau Kürten die Kinder.
»Wir haben doch erst geschlafen«, meinte Oliver.
»Dann gehen wir noch ein Weilchen in den Garten«, schlug Eric vor. »Du willst dich sicher mit Fräulein Bolton unterhalten, Mama.«
Die Kinder trotteten hinter ihm her, Odette zutraulich, Oliver zögernd, und Jennifer blieb mit Frau Kürten allein zurück, denn Angelika ließ sich noch immer nicht blicken.
»Es ist mir sehr peinlich, Frau Kürten, dass wir Sie so überfallen haben«, sagte Jennifer stockend. »Herr Doktor Kürten war so rasch entschlossen. Ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte.«
Elena Kürten sah sie prüfend an. Mit ihrem mütterlichen Instinkt hatte sie sogleich erfasst, aus welchem Grunde ihr Sohn so rasch entschlossen gewesen war. Dieses Mädchen war reizend. Und die Kinder waren es auch.
»Ich finde, dass mein Sohn eine durchaus erfreuliche Initiative bewiesen hat«, antwortete sie schmunzelnd. »In diesem Hause fehlen schon lange Kinder.« Sie stockte. »Könnten Sie sich entschließen, uns die Zwillinge wenigstens eine Zeit lang zu lassen? Angelikas Ehe ist kinderlos. Es ist so notwendig, dass meine Tochter endlich Kontakt zu Kindern findet, damit sie sich mit dem Gedanken vertraut machen kann, vielleicht eines zu adoptieren, und damit sie erkennt, dass man auch fremden Kindern Liebe schenken kann. Wollen Sie die Zwillinge später zu sich nehmen, oder wollen Sie sie in das Heim zurückgeben, Jennifer?«
Sie hatte sich rasch entschlossen, das junge Mädchen mit dem Vornamen anzusprechen. Es nahm die Fremdheit und schlug eine Brücke. So hoffte sie zumindest.
»Die Kinder haben ein beträchtliches Vermögen geerbt«, erwiderte Jennifer ausweichend. »Ihre Zukunft ist gesichert, so weit man das voraussehen kann.«
»Sie wollen Ihre Stellung nicht aufgeben?«, fragte Frau Kürten.
Jennifer senkte den Kopf, um die glühende Röte zu verbergen, die ihr in die Wangen schoß.
»Nicht jetzt«, flüsterte sie. »Ich weiß gar nicht, wie die Kinder sich entscheiden werden. Sie hängen an Sophienlust, und es ist wirklich sehr schön dort.«
»Aber Sie haben nichts dagegen einzuwenden, dass sie vorerst hier in unserem Hause bleiben?«
»Kinder machen Mühe und bringen Unruhe mit sich«, gab Jennifer zu bedenken.
»Nun, das dürfen Sie meine Sorge sein lassen. Kinder bringen vor allem Freude. Ich habe meinen Sohn noch niemals so gelöst und froh gesehen, seit er erwachsen ist. Er hatte nicht viel von seiner Jugend. Eine Riesenverantwortung ist ihm frühzeitig aufgebürdet worden. Deswegen mag er auch älter wirken, als er ist. Sie kommen gut mit ihm aus?«
»Er ist ein vorbildlicher Chef«, bekannte Jennifer stockend. »Und er ist ein bewundernswerter Mensch.«
Mehr brauchte sie gar nicht zu sagen. In ihrer Stimme lag alles, was sie für ihn fühlte. Frau Kürten hatte ein feines Gespür dafür.
Es wird sich manches bei uns ändern durch diese Kinder, dachte sie, und Zuversicht drückte sich in ihrer Miene aus.
*
Angelika stand am Fenster ihres Zimmers und sah mit tränenverschleierten Augen in den Garten, wo Eric und die Kinder herumspazierten. Aus dem gemächlichen Gehen wurde aber bald ein Tollen, und Angelika konnte sich nicht genug wundern, dass ihr ernsthafter Bruder sich daran beteiligte.
»Fängst du mich?«, rief Oliver ihm zu und rannte davon. Eric setzte ihm nach und fing ihn tatsächlich ein.
Ganz sacht hatte Angelika das Fenster geöffnet.
»Du kannst aber schnell rennen«, hörte sie Oliver bewundernd sagen. »Du bist doch gar kein Junge mehr.«
»Das kommt vom Tennisspielen. Und ein alter Herr bin ich ja schließlich auch noch nicht.«
»Nein, du bist kein alter Herr, du bist prima«, jauchzte Odette. »Können wir auch Tennis spielen?«
»Ein bisschen klein seid ihr zwar noch, aber vielleicht versucht ihr es mal mit Angelika. Sie spielt sehr gut. Bei ihr könnt ihr es lernen.«
»Sie mag uns ja nicht«, stellte Odette traurig fest. »Sie ist gleich fortgegangen.«
»Wenn ihr recht lieb seid zu ihr, wird sie euch bestimmt mögen«, sagte er ganz leise, und das konnte Angelika nicht hören. »Sie ist nämlich sehr traurig, weil sie keine Kinder hat.«
»Und andere wollen keine. Sie wollen nicht mal ihre haben«, meinte Oliver ernsthaft, und das konnte Angelika wieder hören. »Verstehst du das … Wie können wir dich eigentlich nennen?« Er blickte Eric an und lächelte schüchtern.
»Sagt doch einfach Eric«, meinte Dr. Kürten.
»Ich hoffe, wir werden gute Freunde. Jennifer dürft ihr darüber natürlich nicht vergessen.«
»Ich bin schon deine Freundin«, erklärte Odette. Schmeichelnd drückte sie ihre Wange an seine Hand. »Ihr habt auch einen schönen Garten, und die Großmama sieht sehr lieb aus.«
»Sie ist auch lieb und freut sich sehr, wenn sie euch um sich haben kann.«
Oliver überlegte eine Weile. »Es ist alles so komisch. Ich dachte nicht, dass es hier so schön ist, und es ist fein, dass es auch einen Garten gibt. Wir können uns auch allein beschäftigen. Das haben wir gelernt. In Sophienlust waren wir ja so viele Kinder, da konnten sie sich nicht um jedes einzelne kümmern. Doch, ich glaube, ich bin sehr gern hier.«
»Sie sind so süß«, dachte Angelika. »Warum können es nicht meine Kinder sein? Warum ist das Schicksal so ungerecht? Ich hätte mich nicht einen Tag von ihnen getrennt. Ich wäre die glücklichste Mutter der Welt.« Und heiße Tränen strömten über ihr Gesicht, schmerzliche Tränen, die sie zugleich aber auch befreiten.
Schnell ging sie danach hinunter in den Garten. Schüchtern und verlegen sahen die Kinder sie an.
»Unsere kleinen Herrschaften wollten eben doch ins Bett gehen«, sagte Eric.
»Vielleicht soll ich ihnen noch eine Geschichte erzählen«, schlug Angelika vor.
»Aber keine traurige«, bettelte Odette. »Kannst du auch lustige erzählen? Aber warum hast du denn geweint?«
»Es ist schon vorbei«, erwiderte Angelika. »O ja, ich kenne auch lustige Geschichten.«
*
Während Dr. Kürten Jennifer heimbrachte, denn auch sie war todmüde, saß Angelika im Sessel zwischen den beiden Betten des reizend eingerichteten Gästezimmers und erzählte den Kindern heitere Geschichten. Sie wusste selbst nicht, wie sie ihr zuflogen. Sie war nur beseelt von dem Gedanken, ihnen eine Freude zu bereiten.
»In Sophienlust durften wir nicht in einem Zimmer schlafen«, sagte Oliver in einer Pause hinein. »Ich musste mit Mario in einem Zimmer schlafen und Odette mit Verena in einem anderen. So finde ich es schöner. Aber irgendwie ist das alles komisch. Wenn ihr uns doch gar nicht kennt, warum dürfen wir dann hier sein?«
»Wir haben Kinder sehr gern«, erwiderte Angelika leise.
»Das hat Eric auch gesagt. Aber ihr seid gar nicht fremd.« Grübelnd sah er sie an. »Seid ihr vielleicht doch unsere Eltern und sie sind gar nicht tot? Traut ihr euch bloß nicht, es zu sagen, weil ihr so lange fort wart?«
Angelika wurde ganz seltsam zumute.
»Könnt ihr euch denn gar nicht mehr an sie erinnern?«, fragte Angelika leise.
Oliver schüttelte den Kopf. »Mutti hatte auch blonde Haare wie du, und sie war auch so groß. Stimmt es, Odette?«
»Ja, Mutti hatte blonde Haare«, nickte die Kleine. »Ich glaube schon«, fügte sie jedoch unsicher hinzu.
»Und Dad hatte eine Brille, das weiß ich genau, weil ich sie runtergeworfen habe, als sie uns mal besuchten. Es ist schon viele Jahre her.«
Viele Jahre! Angelika schnürte es die Brust zusammen. Viele Jahre, dabei waren sie erst vier Jahre alt oder viereinhalb, wie Jennifer gesagt hatte.
Frank trug auch eine Brille. Warum ging ihr das jetzt durch den Sinn?
»Ihr solltet jetzt schlafen, meine Kleinen«, ertönte plötzlich Elena Kürtens Stimme von der Tür her. Wie lange sie dort schon gestanden und gelauscht hatte, wusste niemand.
»Vielleicht bist du doch Mutti«, murmelte Odette schläfrig. »Ich möchte es gern wissen, auch wenn Dad tot ist. Nick hat gemeint, eine Schlange hätte ihn gebissen oder so was. Tante Isi sagt, es war ein Erdbeben. Was ist das eigentlich?«
»Das erzähle ich euch morgen«, erwiderte Angelika und gab jedem Kind einen Kuss auf die Stirn.
»Ich wäre dir gar nicht böse, wenn du meine Mutti wärst«, raunte Oliver noch, bevor ihm die Augen zufielen.
Angelika konnte sich nicht von dem Anblick der Kinder losreißen, aber mit sanfter Gewalt zog ihre Mutter sie aus dem Zimmer.
»Auf die Kinder ist viel eingestürmt«, sagte sie leise, »und auf dich auch, Angelika. Willst du noch mit mir sprechen, mein Kind?«
Angelika nickte stumm. »Wäre das nicht eine Lösung, Mama?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Sie können sich nicht an ihre Eltern erinnern.«
»Ich habe es gehört, aber was willst du damit sagen, Angelika?«
»Sie denken, dass ich ihre Mutter bin. Sie war auch blond und groß, wenigstens meinen sie, sich daran erinnern zu können.«
»Angelika«, rief Frau Kürten atemlos, »willst du damit sagen, dass du die Stelle ihrer Mutter einnehmen willst? Die Kinder heißen Bolton!«
»Was bedeutet schon ein Familienname für Kinder. Sie heißen Odette und Oliver, und sie können nicht begreifen, dass es uns gibt. Eine Großmama, Eric, mich, und ihr Vater trug auch eine Brille wie Frank. Sie suchen nach einer Erklärung und wären mir auch nicht böse, haben sie gesagt.«
»Du bist verwirrt, Kind«, murmelte Frau Kürten. »Gewiss wäre es wunderschön für dich, wenn sich diese Lösung auftun würde. Aber die Kinder sind keine armen Waisenkinder. Sie sind vermögend.«
»Ich will doch kein Geld. Wir brauchen keines. Es kann für sie angelegt werden. Ich möchte doch nur, dass sie nicht eine fremde Frau in mir sehen, sondern ihre Mutter. Ihr habt so lange auf mich eingeredet – wollt ihr mir die Adoptivkinder nun wieder ausreden?«
»Aber doch nicht so – so habe ich es mir nicht gedacht, und Eric auch nicht. Und dann vergiss Jennifer Bolton nicht.«
Angelika sah ihre Mutter gedankenverloren an. »Sie ist jung. Sie wird heiraten und selbst Kinder haben. Vielleicht sogar von meinem Bruder. Er ist doch verliebt in sie, hast du es nicht bemerkt?« Ihre Wangen hatten sich gerötet, ihre Augen glänzten fiebrig, als sie gequält aufschrie: »Nehmt mir die Kinder doch nicht wieder weg, da ich sie nun endlich gefunden habe.«
»Angelika, mein Liebes, leg dich hin. Es war wirklich zu viel«, sagte Frau Kürten besorgt.
»Ich will sie behalten«, jammerte die junge Frau, »nehmt sie mir doch nicht wieder weg!« Und da merkte Frau Kürten, dass Angelika tatsächlich fieberte. Die Nervenbelastung war für die sensible Frau zu viel gewesen.
*
»Sehen Sie, Jennifer, so einfach lösen sich manchmal Probleme«, sagte Eric Kürten behutsam, als sie vor Jennifers Wohnung angekommen waren.
Lösten sich die Probleme wirklich? Ihr war, als türmten sich jetzt erst recht unüberwindliche Schwierigkeiten vor ihr auf.
Er nahm ihre Hand und zog sie an seine Lippen. Ganz nahe war er ihr, und alle Zärtlichkeit strömte in ihrem Herzen zusammen.
»Die Kinder werden sich rasch an uns gewöhnen«, sagte er leise.
An uns! Es hallte in ihren Ohren.
»Mama ist eine kluge Frau. Und Angelika wird endlich einsehen, wie recht wir gehabt haben. Es gibt viele liebenswerte Kinder, die sich nach Mutterliebe sehnen. Die Zwillinge werden bei uns bleiben. Wir verstehen uns schon blendend. Hätten Sie das gedacht?«
Eigentlich hatte er etwas ganz anderes sagen wollen. Dass er den Wunsch habe, sie bei sich zu haben, für immer, um sie nie mehr herzugeben. Aber so leicht kamen die Worte nicht über seine Lippen.
»Odette ist Ihnen so ähnlich«, versicherte er. »Sie hat das gleiche bezaubernde Lächeln wie Sie, Jennifer. Bitte, lächeln Sie doch!«
Langsam hob sie den Kopf, aber rasch schloss sie wieder die Augen unter seinem sehnsüchtigen Blick, und dann spürte sie seine Lippen an ihrer Schläfe.
»Die ganze Welt hat sich verändert. Du hast mich verzaubert, Jennifer«, flüsterte er. »Wenn ich dir doch nur etwas bedeuten könnte.«
»Mein Gott«, dachte sie, »kann er überhaupt noch zweifeln? Aber was bin ich denn neben ihm?«
Ihre Stirn sank an seine Schulter, kraftlos hingen ihre Arme herab, die sich doch so gern um seinen Hals gelegt hätten. Aber was würde er von ihr denken, wenn sie sich ihm an den Hals werfen würde? Und sie wollte ihn doch nicht verlieren.
»Ich danke Ihnen für alles«, flüsterte sie. »Sie haben so viel für mich getan. Ich bin tief in Ihrer Schuld.«
Sie ist mir dankbar, nichts weiter, dachte er niedergeschlagen, als er zu seinem Wagen ging. Und vielleicht überlegt sie sich nun alles anders. Finanzielle Sorgen hat sie ja nun nicht mehr. Möglicherweise hat sie sich bereits für die Kinder entschieden und gegen mich.
*
Beklommen saß Jennifer am nächsten Morgen an ihrem Arbeitsplatz und wartete auf das Erscheinen ihres Chefs, der bisher immer pünktlich gewesen war. Eine Viertelstunde verging, eine halbe, dann läutete das Telefon.
Doch nicht Dr. Kürten verlangte sie zu sprechen, sondern seine Mutter.
»Würden Sie bitte zu uns kommen, Jennifer«, tönte die dunkle Stimme an ihr Ohr. »Meine Tochter ist plötzlich erkrankt.«
Karl stand schon bereit, um sie zur Villa Kürten zu fahren.
»Der Chef ist zum Flugplatz gefahren, um seinen Schwager abzuholen«, berichtete er während der Fahrt.
»Frau Frobenius muss ziemlich krank sein. Das war eine Aufregung heute Nacht. Keiner ist ins Bett gekommen. Gott sei Dank hat man Dr. Frobenius in Stockholm erreicht.«
Frau Kürten sah blass und übernächtigt aus. »Gut, dass Sie da sind, Jennifer«, sagte sie müde. »Ich habe die Kinder mit Milli zum Markt geschickt. Sie sollen nicht hören, was ich mit Ihnen zu besprechen habe.«
»Frau Frobenius ist durch die Zwillinge aufgeregt worden?«, fragte Jennifer leise. »Ich bedauere es so sehr.«
»Aber ganz anders, als wir erwartet hatten«, erwiderte Elena Kürten rasch. »Es ist so schwer zu erklären, mein liebes Kind. Angelika steigert sich in den Gedanken hinein, die Mutter der Zwillinge zu sein. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen begreiflich machen soll, aber die Kinder haben sich wohl auch eingebildet, dass wir irgendwie zusammengehören müssten. Sie glauben jetzt, dass ihre Eltern gar nicht tot sind, dass wir es ihnen nur schonend beibringen wollten.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Jennifer beklommen.
»Oliver hat damit angefangen. Es war so!« Wortgetreu gab Elena Kürten das Gespräch wieder, das die Kinder am gestrigen Abend mit Angelika geführt hatten.
»Ja, und dann war Angelika plötzlich ganz verändert. Sie müssen wissen, dass sie sich immer glühend Kinder wünschte. Sie wird aber leider niemals eigene haben können. Alle Ärzte haben es zu unserem Kummer bestätigt. Sie litt maßlos darunter, und jetzt ist ihr die Idee mit dem frommen Betrug gekommen. Sie glaubt, Oliver und Odette davon überzeugen zu können, dass sie und Frank ihre Eltern sind. Nein, sie ist nicht verrückt, wenn Sie das jetzt denken sollten. Es ist ein Wunschgedanke, den sie verwirklichen will.
Wenn ihr die Kinder jetzt genommen würden, wäre es ein entsetzlicher Schock für sie. Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, Jennifer, meiner Tochter zu helfen. Angelika ist so sensibel. Sie ahnen nicht, wie sie gelitten hat. Aber sie hat sich jetzt etwas gefangen. Bitte, wenn Sie selbst mit ihr sprechen wollen … Aber als Mutter kann ich Sie nur um Ihr Verständnis bitten. Rauben Sie ihr nicht die Hoffnung!«
*
Dr. Frank Frobenius eilte auf seinen Schwager zu. »Was ist mit Geli?«, fragte er erregt. »Haben diese lächerlichen Komplexe sie etwa zu einer Dummheit veranlasst? Herrgott, wie kann man ihr nur helfen?«
Er war völlig aufgelöst.
»Diese Hilfe sieht ganz anders aus, als wir uns vorgestellt haben«, berichtete Eric Kürten. »Hör mir jetzt mal gut zu, Frank, und bitte unterbrich mich nicht. Es bringt mich aus dem Konzept. Ich habe eine aufregende Nacht hinter mir.«
»Denkst du, ich nicht?«, fragte er.
»Du sollst mich nicht unterbrechen. Ich muss dir klarmachen, dass du Vater von Zwillingen bist.«
»Mach mich nicht wahnsinnig, Eric. Solche Scherze vertrage ich augenblicklich nicht. Kinder kommen nicht von heute auf morgen auf die Welt. Zwillinge schon gar nicht.«
»Sie kamen bereits vor viereinhalb Jahren zur Welt«, erläuterte Eric Kürten. »Ihre Eltern waren John und Susan Bolton. Sie kamen bei einem Erdbeben ums Leben.«
Konsterniert sah ihn sein Schwager an. »Ich habe die Nachrufe gelesen«, brummelte er. »Was haben Boltons Zwillinge mit mir zu tun?«
»Oliver und Odette, so heißen sie, bilden sich ein, dass ihre Eltern gar nicht tot sind. Sie haben euch, Angelika und dich, zu ihren Eltern auserwählt. Wenn du mich mal nicht unterbrechen würdest, könnte ich es dir der Reihe nach erzählen.«
»Bitte …, ich bitte sehr darum«, entgegnete Frank Frobenius resigniert. »Ich gebe mich geschlagen.«
Auf der Fahrt zur Villa Kürten erzählte Eric. Ab und zu machte er eine Pause, aber Frank Frobenius sagte auch dann nichts.
»So, das wäre es«, murmelte er, als er seinen Bericht beendet hatte. »Nun kommst du an die Reihe.«
»Und was soll ich jetzt sagen?«, ächzte Frank Frobenius.
»Nichts weiter als ja, wenn dich die Kinder fragen sollten, ob du ihr Vater bist.«
»Allerhand«, murmelte Frank Frobenius. »Gönn mir bitte ein paar Minuten, damit ich mich mit dem Gedanken vertraut machen kann, Vater von Zwillingen zu sein. Aber was würde ich für Geli nicht tun …«
*
»Verstehen Sie mich wirklich, Jennifer?«, fragte Angelika mit erstickter Stimme. »Oder halten Sie mich für wahnsinnig?«
»Das gewiss nicht. Die Kinder selbst haben Sie doch auf diese Idee gebracht. Wenn man nur wüsste, was in diesen kleinen Köpfen vor sich geht. Wahrscheinlich ist es doch der Wunschtraum eines jeden Kindes, Eltern zu besitzen. Ich kann meinen Bruder nicht verstehen, aber ich könnte mir vorstellen, dass auch er Ihnen die Kinder überlassen hätte. Wenn er nur eine Spur von Liebe für die Kleinen empfunden hätte, dann hätte er daran denken müssen,
dass es mich auch noch gibt.« Sie konnte nur mit Mühe die Tränen
unterdrücken. »Verzeihen Sie«, sie lauschte, »ich glaube, jetzt kommen sie. Ich werde mit ihnen sprechen und versuchen, ihre Gedanken zu ergründen.
»Da bist du ja, Jennifer«, riefen die Zwillinge freudig aus. »Es war toll auf dem Markt. Wir durften alles mit Milli aussuchen.«
Jeder wollte erzählen, und jeder wusste etwas anderes. Aber plötzlich verstummte Oliver und sah Jennifer eindringlich an.
»Ich muss dich was fragen«, sagte er entschlossen. »Gehn wir in den Garten? Angelika fühlt sich nicht wohl, hat Großmama gesagt. Wir wollen nicht laut sein, damit sie noch schlafen kann.«
Was würden sie fragen? Frau von Wellentin hatte gesagt, sie hätten eine rege Phantasie.
»Du musst es doch wissen, Jennifer«, begann Oliver stockend. »Wir sind noch ziemlich klein und …«
Odette kam ihm zu Hilfe. »Warum sagt Mutti uns nicht, dass sie gar nicht tot ist? Weißt du es, Jennifer?«
»Manche Leute haben vielleicht nur gedacht, dass sie tot ist«, überlegte Oliver. »Und das haben sie dann Tante Isi geschrieben, nicht wahr?«
»Und nun traut sie sich nicht, uns die Wahrheit zu sagen, weil wir lieber in Sophienlust bleiben wollten«, überlegte Odette mit kindlicher Logik. »Sie hat geweint. Sie war traurig. Bestimmt dachte sie, dass wir sie nun gar nicht mehr haben wollen.«
Oliver drehte sich plötzlich um, weil er ein Geräusch gehört hatte. Mit weiten Augen blickte er zu den beiden Männern hinüber, die auf der Terrasse erschienen waren. Seine kleine Hand klammerte sich an Jennifers Arm.
»Da ist Dad«, flüsterte er atemlos. »Ich erkenne ihn ganz genau. Er hat noch die gleiche Brille.«
»Die hat Oliver nämlich mal runtergeworfen«, seufzte Odette. »Er ist auch nicht tot. Jetzt erkenne ich ihn auch.«
»Daddy!«, schrie Oliver und stürzte auf Frank Frobenius zu. »Nun bist du auch da.«
Der Mann wusste gar nicht, wie ihm geschah, als plötzlich zwei Kinder an seinem Hals hingen. Seine Brille geriet ins Wanken und fiel zu Boden. Glas klirrte, und ganz erschrocken schaute Oliver drein. »Nun habe ich sie wieder runtergeworfen«, jammerte er. »Bist du böse?«
»Ich habe ja noch eine«, wich Frank Frobenius aus.
»Ich habe dich gleich erkannt«, jubelte Oliver. »Nun wird Mutti auch nicht mehr weinen. Gehen wir zu ihr?«
Jennifer war vergessen. Stumm stand sie da und blickte ihnen nach. Plötzlich legte sich ein Arm um ihre Schultern.
»Jennifer«, sagte Eric Kürten leise.
»Nichts sagen«, flüsterte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Tut es weh?«, fragte er behutsam.
»Sie haben sich ihre Eltern ausgesucht«, murmelte sie. »Für sie wird alles gut werden. Was John und Susan versäumt haben, bekommen sie nun von anderen Eltern geschenkt. Sie werden nicht mehr fragen, warum man sie so lange allein ließ. Kinder vergessen so schnell. Sie brauchen mich nicht.«
»Aber ich brauche dich«, sagte Eric Kürten leise. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und zog sie an sich. »Ich liebe dich, Jennifer, das sagte ich dir doch gestern schon.«
Es war ein ganz neues Leben. Zwischen gestern und heute lag eine Ewigkeit. Ein Leuchten verklärte ihre Züge. Sie fühlte seine Lippen auf ihrem Mund.
Schnell trat Elena Kürten vom Fenster zurück. Kinderlachen erfüllte das Haus, und draußen fanden sich zwei Menschen. Was konnte sie jetzt noch wünschen?
»Und wenn du dich wieder wohlfühlst, Mutti, fahren wir mal nach Sophienlust«, sagte Oliver zur gleichen Zeit strahlend. »Tante Isi wird sich vielleicht freuen, dass ihr ganz lebendig seid. War das Erdbeben schlimm?«
»Na danke«, meinte Frank Frobenius. »Es hat uns gewaltig durchgeschüttelt.«
Das, was er während dieser Stunden erlebt hatte, kam einem Erdbeben gleich.
»Nun habt ihr aber genug von den fremden Ländern, nicht wahr?«, fragte Odette ängstlich.
»Restlos«, beteuerte Frank.
»Und wenn ihr mal wieder wegfahrt, nehmt ihr uns mit?«, wollte Oliver wissen.
»Wir werden uns bestimmt nie wieder von euch trennen«, versicherte Angelika. Sie blickte zu ihrem Mann, der ihr zublinzelte. Danke, sagte ihr Blick.
»Na, Großmama«, sagte Frank Frobenius wenig später zu seiner Schwiegermutter, »kannst du dir vorstellen, dass wir mal keine Kinder hatten?«
»Du hast deine Rolle meisterhaft gespielt, Frank«, sagte sie dankbar.
»Na, na, wo Oliver mich doch gleich erkannt hat«, brummte er gerührt.
*
Denise von Wellentin musste den ausführlichen Brief von Jennifer Bolton ein paarmal lesen, bevor sie alles begriff. Als sie ihn beiseitelegte, hob ein tiefer Seufzer ihre Brust.
»Warum schnaufst du denn so, Mutti?«, fragte Nick.
»Oliver und Odette kommen nicht mehr nach Sophienlust zurück«, erwiderte sie.
Seine Augenbrauen schoben sich zusammen. »Da sieht man es mal wieder«, stieß er empört hervor. »Erst wollen sie nicht weg, und dann kommen sie nicht wieder. Sie sind undankbar.«
»Sie sind nicht undankbar, sie sind jetzt bei ihren Eltern.«
»Sie sind auch tot?«, fragte er entsetzt.
»Aber nein, es geht ihnen sehr gut.«
»Du hast doch aber gesagt, dass ihre Eltern tot sind.«
»Sie haben jetzt sehr liebe Eltern, Nick. Und sie werden uns auch mal besuchen. Für sie ist das alles sehr schön. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Sie denken, dass sie bei ihren richtigen Eltern sind, verstehst du das?«
»Aber das sind gar nicht ihre richtigen Eltern«, nickte er. »Ja, das verstehe ich. Die Zwillinge sind ja noch so klein. Denen kann man was vormachen. Aber haben sie es auch gut?«
»Sehr gut. Sie haben Eltern, die sich Kinder sehr gewünscht haben.«
»Na ja, wenn sie es gut haben, dann wird Alexander froh sein, dass wir wieder weniger sind. Die Straße wird bald fertig sein, Mutti. Opa meint, schon nächste Woche. Wir waren schon lange nicht mehr in Schoeneich.«
»Du hast recht. Wir könnten mal wieder hinüberfahren.«
*
Es schien wirklich alles in bester Ordnung zu sein. Niemand dachte daran, dass es noch Schwierigkeiten geben könnte. Liebevoll umsorgt und verwöhnt, waren die Zwillinge der Mittelpunkt in der Villa Kürten, und damit sich auch die Großmama an ihnen erfreuen konnte, war Frank Frobenius vorerst dorthin übergesiedelt.
Alle Schatten der Schwermut waren aus Angelikas Gesicht gewichen. Ihre geheimsten Wünsche hatten sich erfüllt. Sie hatte nicht nur ein, sie hatte zwei Kinder, denen sie all ihre Liebe schenken durfte.
Konnten sich zwei lebhafte, aufgeweckte Kinder noch mehr wünschen als eine fröhliche Mutti und einen überaus geduldigen Daddy, da sie zudem auch noch eine liebevolle Großmama, Eric und Jennifer um sich hatten? Und alle gehörten ihnen. Sie brauchten sie nicht mit anderen Kindern zu teilen. Sie hatten es noch viel besser als Nick, an den sie zwar oft dachten, den sie aber nicht mehr beneideten.
Jennifer hatte sich entschlossen, noch einige Zeit als Eric Kürtens Sekretärin zu arbeiten. Doch niemandem konnte verborgen bleiben, dass sie mehr verband als die Arbeit.
»So schwer es mir fällt, auf meine unersetzliche Sekretärin zu verzichten, Liebes, so muss ich leider feststellen, dass ich deinen Ruf untergrabe, wenn wir diesen Zustand nicht bald beenden«, meinte Eric Kürten. »Ich kann nur hoffen, dass ich dir als Ehemann den Chef ersetzen werde.«
»Bitte erst die Unterschriften, Herr Doktor«, erwiderte sie schelmisch.
Da wurde ihm der Besuch von Dr. Marquardt gemeldet. »Der hat mir jetzt gerade noch gefehlt«, seufzte er. »Fräulein Bolton, betrachten Sie sich als entlassen.«
»Fristlos?«, fragte sie lächelnd. »Oder hast du Angst, dass ich seinem Charme erliegen könnte?«
Die Tür tat sich auf. Dr. Marquardt trat ein. »Sie sind für heute beurlaubt, Fräulein Bolton«, sagte Eric gelassen.
»Vielen Dank, Herr Doktor«, erwiderte sie sachlich.
Heinz Marquardt war irritiert. »Eigentlich wollte ich Sie sprechen, Fräulein Bolton«, sagte er überstürzt.
»Während der Bürozeit?«, fragte sie reserviert.
»Es ist eine äußerst dringende Angelegenheit«, erklärte Dr. Marquardt. »Gestattest du, dass ich mit Fräulein Bolton unter vier Augen spreche, Eric?«
»In der Vormundschaftsangelegenheit?«, fragte Jennifer hastig. »Dr. Kürten ist doch eingeweiht.«
»Worum handelt es sich?«, fragte er. »Gibt es Schwierigkeiten? Du kannst offen sprechen, Heinz. Zwischen Jennifer und mir gibt es keine Geheimnisse. Wir werden heiraten.«
Maßlose Überraschung zeigte sich auf Heinz Marquardts Zügen.
»Warum hast du dann eben noch so dienstlich getan?«, fragte er pikiert.
»Weil es eigentlich noch nicht offiziell ist. Also, was ist?«
»Es ergeben sich Schwierigkeiten, sehr große sogar. Man ist sich plötzlich nicht mehr sicher, ob John und Susan sich im Erdbebengebiet befanden. Die Nachrichten widersprechen sich.«
Jennifer wurde totenblass.
»Willst du damit sagen, dass die Möglichkeit besteht, dass sie noch leben?«, fragte Eric atemlos.
»Sogar die Wahrscheinlichkeit«, erwiderte Heinz Marquardt hintergründig. »Doch das scheint euch nicht zu freuen, sondern zu erschrecken.«
»Aber …« Jennifer hielt inne, denn ein warnender Blick aus Erics Augen traf sie.
»Ja, ich muss Ihnen leider sagen, dass ein amtlicher Totenschein noch nicht ausgestellt werden konnte«, fuhr Dr. Marquardt fort. »In dem Chaos wurden viele Falschmeldungen herausgegeben. Vorgestern bekam ich den Bescheid, dass man die Leichen von John und Susan noch nicht identifiziert hat. Das Haus, in dem sie wohnten, ist zwar zerstört, aber man hat keine Hinweise gefunden, dass sie sich darin befanden.«
Schwer atmend lehnte Jennifer an der Wand. »Aber wenn sie noch leben würden, müssten sie sich doch längst gemeldet haben«, stieß sie hervor. »Es sind doch bereits mehr als zwei Monate vergangen.«
Dr. Marquardt kniff die Augen zusammen. Er erfasste die Zusammenhänge nicht, denn er wusste noch nicht, was hier in der Zwischenzeit geschehen war. Jennifer hatte ihn bewusst nicht informiert, um keine Unruhe in Angelikas jetzt so friedvolles Leben zu bringen.
»Erwiesen ist bisher nur, dass John und Susan für den fraglichen Tag einen Flug nach Djakarta gebucht hatten. Die Maschine startete noch vor dem Beben und erreichte auch ihr Ziel. Ob die beiden allerdings die Maschine auch tatsächlich benutzt haben, konnte bisher noch nicht festgestellt werden, da die Unterlagen der Fluggesellschaft bei der Katastrophe vernichtet wurden. Selbstverständlich habe ich sofort alles in die Wege geleitet, um in Erfahrung zu bringen, ob sie an Bord waren. Es wird einige Zeit verstreichen, bis wir Gewissheit erhalten.«
»Aber das ist doch unmöglich«, stöhnte Jennifer. »John hätte doch, wenn er noch leben würde, von dem Erdbeben gewusst. Er hätte sich doch mit Ihnen in Verbindung gesetzt!«
»Meinen Sie?«, fragte Dr. Marquardt ironisch. »Sie kennen Ihren Bruder nicht. Ich habe seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigt und bekam dafür mein Honorar. Selbstverständlich werde ich diese Angelegenheiten auch weiter erledigen, bis eine gerichtliche Entscheidung vorliegt.«
»Eine gerichtliche Entscheidung?«, fragte Jennifer fassungslos.
»Ja, denn John und Susan Bolton gelten so lange als verschollen, bis der Nachweis über ihren Tod erbracht ist.«
»Und wie lange kann das dauern?«, fragte Eric.
»Schlimmstenfalls zehn Jahre«, erwiderte Marquardt. »Aber warum die Aufregung? Für die Kinder ist doch gesorgt. Wo sind sie eigentlich untergebracht, wenn Fräulein Bolton ihrem Beruf nachgeht?«
»Bei meiner Mutter«, erwiderte Eric rasch, bevor Jennifer ein unbedachtes Wort sagen konnte.
»Nun«, meinte Dr. Marquardt sarkastisch, »ich bin überzeugt, dass John unter den gegebenen Voraussetzungen Ihren Entschluss durchaus billigen würde, Fräulein Bolton. Umso mehr, als Sie und Eric ja an eine Heirat denken. Leider kann ich nicht verhindern, dass sich das Vormundschaftsgericht einschalten wird, um sich davon zu überzeugen, dass die Kinder gut versorgt sind. Es könnten allerdings Vorurteile bestehen.«
»Was soll das nun wieder heißen?«, brauste Eric auf.
»Vielleicht könnte man zu der Überzeugung kommen, dass die Kinder in Sophienlust, das ja wirklich ein erstklassiges Heim ist, besser aufgehoben wären.«
»Nein!«, schrie Jennifer auf.
»Ruhig, ganz ruhig, mein Liebes«, sagte Eric leise. Und zu dem Besucher gewandt, fuhr er fort: »Was hast du eigentlich, Heinz? Bist du auf unserer Seite, oder bist du gegen uns?«
»Ich bin Jurist«, erwiderte der andere kühl. »Ich habe allein das zu tun, was die Gesetze verlangen.«
*
Schluchzend lag Jennifer in Erics Armen, als Dr. Marquardt gegangen war.
»Es darf nicht sein, Eric«, flüsterte sie. »Angelika wird verzweifeln.«
»Ihn wurmt es, dass er bei dir nicht zum Zuge gekommen ist«, stieß Eric Kürten wütend hervor. »Wir müssen jetzt selbst etwas unternehmen, Jennifer. Er wird die Sache endlos hinschleppen, erstens, um zu triumphieren, zweitens, weil es ein finanzieller Gewinn für ihn ist.«
»Und wenn John und Susan wirklich noch am Leben sind?«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. »Die Kinder sind so glücklich. Der Gedanke, dass ihr Glück zerstört werden könnte, ist mir unerträglich.«
Was sollten sie tun? Immer wieder fragten sie es sich, und jedes Mal geriet Jennifer dann in ein Stadium, in dem sie sich alle Schuld zuschob. Hätte sie zu Eric nie von ihren Problemen gesprochen, wären die Kinder noch heute in Sophienlust, und Angelika wäre ihnen nie begegnet. Sie hätte dann vielleicht doch ein anderes Kind gefunden, ein Kind, bei dem solche Probleme nicht auftauchen konnten.
Eines stand fest: Angelika musste in die Schwierigkeiten eingeweiht werden, so schlimm das auch war. Aber als sie sie dann sahen, wie sie mit den Kindern spielte, wie sie sie glücklich in den Armen hielt und mit ihnen lachte, brachten sie es nicht übers Herz.
So erfuhren es nur Elena Kürten und Frank Frobenius, und auch für sie zogen drohende Wolken am Himmel auf.
»Ich werde an Ort und Stelle nachforschen«, erklärte Frank Frobenius impulsiv.
»Und wie willst du das Angelika erklären?«
»Wir müssen uns eben etwas ausdenken. Gemeinsam wird uns ja wohl etwas einfallen. Natürlich darf sie nicht erfahren, wohin ich reise, sonst wird sie womöglich stutzig. Aber alle Verpflichtungen kann ich doch nicht absagen.«
»Ich habe einen besseren Vorschlag«, stellte Eric fest. »Wir heiraten und gehen auf die Hochzeitsreise.«
»Eine schöne Hochzeitsreise aus so traurigem Anlass«, brummte Frank.
»Und so plötzlich«, murmelte Jennifer. »Aber eins hat sie für sich. Wenn John und Susan wirklich noch leben sollten, könnte ich ihnen alles erklären und sie vielleicht überzeugen, dass die Kinder nicht wieder aus ihrer Familie gerissen werden dürfen.«
»Wenn uns nur dieser Marquardt keinen Strich durch die Rechnung macht«, gab Eric Kürten zu bedenken. »Es gibt nichts Schlimmeres als einen Mann, der sich in seiner Eitelkeit gekränkt fühlt.«
*
Angelika und die Kinder blieben ahnungslos. Dass Eric und Jennifer so rasch heiraten wollten, rief allerdings recht abwegige Vermutungen in Angelika wach.
»Vielleicht wirst du bald zum dritten Mal Großmama«, meinte sie zu ihrer Mutter. »Könntest du das noch bewältigen, Mama?«
»Können schon, und freuen würde ich mich auch«, kam die rasche Antwort.
Schon eine Woche später fand die Hochzeit im engsten Familienkreise statt. Um das Getuschel kümmerte sich Eric nicht. Er war glücklich und kummervoll zugleich, aber großer Trubel lag ihm ohnehin nicht, und Jennifer war trotz allem eine zauberhafte Braut. Dafür hatten schon Frau Kürten und Angelika gesorgt. Und dafür, dass ihnen auch Blumen auf den Weg gestreut wurden, sorgten die Zwillinge mit Begeisterung.
»Weniger begeistert waren sie darüber, dass das junge Paar eine so lange und weite Hochzeitsreise unternehmen wollte. Auch Angelika wurde stutzig.
»Ich habe den Verdacht, dass du das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden willst«, äußerte sie. »Warten in den fernen Ländern auch Geschäfte auf dich?«
»Nicht so viel, dass wir uns dadurch gestört fühlen müssten«, erwiderte er ausweichend.
»Es gibt nichts Ernüchternderes für eine junge Frau, als wenn ihr Mann sogar auf der Hochzeitsreise an Geschäfte denkt«, sagte Angelika warnend, nicht ahnend, dass allein sie und die Kinder der Grund dieser Reise waren.
Sehr betrübt aber waren die Zwillinge darüber, dass auch ihr Daddy ein paar Tage verreisen wollte. Frank Frobenius meinte, dass Denise von Wellentin eingeweiht werden müsse, um alle Möglichkeiten einer frühzeitigen Entdeckung auszuschließen, und das wollte er persönlich erledigen.
*
Eric und Jennifer flogen nach Djakarta. Sie wollten zuerst erforschen, ob John und Susan Bolton dort angekommen waren, bevor sie etwas anderes unternahmen.
Wohl war ihnen beiden nicht. Sie waren verheiratet, sie hätten glücklich sein müssen, aber sie konnten es nicht sein, weil das Glück anderer, denen sie so herzlich zugetan waren, an einem seidenen Faden hing.
Überall, wohin sie sich auch wandten, stießen sie zuerst auf Nichtbegreifen, dann auf freundliches Entgegenkommen. Manchen war sogar der Name John Bolton ein Begriff, einige kannten ihn persönlich. Es waren Wissenschaftler, Professoren und Politiker.
Ja, man hatte John Bolton und seine Frau hier erwartet, aber gekommen waren sie nicht. Manch einer hatte gehört oder Zeitungsberichten entnommen, dass sie bei dem schweren Erdbeben ums Leben gekommen seien, andere aber schüttelten nur den Kopf und konnten sich nicht vorstellen, dass ein Mann wie John Bolton nicht mehr unter den Lebenden weilen sollte.
»Er hat sieben Leben wie eine Katze«, vernahmen sie einmal. »Irgendwo, irgendwann wird er schon wieder auftauchen.«
Die Auskünfte überschatteten die Stunden des Glücks, die Eric und Jennifer dennoch miteinander verlebten, doch auch den exotischen Reiz der Landschaft konnten sie nicht unbefangen genießen. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Angelika und den Zwillingen.
»Vielleicht haben John und Susan ein neues Leben begonnen, frei von allen Verpflichtungen«, vermutete Jennifer einmal.
»Nach allem, was ich von ihnen gehört habe, würde es mich nicht wundern. Finanziell glaubten sie die Kinder versorgt, und eigentlich waren sie doch immer nur eine Belastung für sie, wie alle festen Bindungen.«
»Du hättest keinen Abenteurer geheiratet«, sagte er gedankenvoll.
»Nein«, erwiderte sie sinnend. »ich will einen Mann, mit dem ich alles teilen, mit dem ich leben kann, der seine Kinder liebt und ihnen Vorbild ist.«
»Hast du ihn gefunden, Jennifer?«, fragte er leise.
Zärtlich schmiegte sie sich in seine Arme und vergaß alles, was sie belastete. »Musst du noch fragen?«
»Und schmerzt es dich nicht, dass die Kinder Angelika und Frank lieber haben als uns? Ich dachte damals doch, dass sie mit uns leben würden.«
»Du dachtest nicht an Angelika?«, fragte sie beklommen.
Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte nur an dich. Natürlich hoffte ich, dass Angelika durch das Zusammenleben mit den Kindern auch für sich eine Lösung finden würde, aber an diese Lösung dachte ich nicht einen Augenblick. In dir sah ich ihre Tante, den einzigen Menschen, der den Kindern nahestand.«
»Und du wolltest sie und mich?«
»Vor allem wollte ich dich«, erwiderte er und küsste sie innig.
Da sie in Djakarta nichts erreicht hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als in das Gebiet zu fliegen, in dem John und Susan Bolton verschollen waren. Ein unfreundliches Ziel für eine Hochzeitsreise.
*
Es war ein herrlicher Augusttag, als Frank Frobenius in Sophienlsut eintraf. Dazu ein Freudentag, denn gestern war die Straße zwischen Sophienlust und Schoeneich fertiggestellt worden, und dieses Ereignis sollte heute gefeiert werden.
Wolfgang Rennert hatte es tatsächlich geschafft, ein kleines Orchester zu gründen. Mit Blockflöte, Ziehharmonika, Trompete und Schlagzeug spielten sie zwar nicht besonders gut, aber doch mit Begeisterung.
Andrea und Kati sangen, und die Erwachsenen stimmten ein. Sogar die kleine Petra krähte munter, und das Krähen wurde zu einem Jauchzen, als auch Dr. Wolfram erschien. Sofort streckte sie ihm ihre Ärmchen entgegen, und Edith Gerlach errötete tief, als Bert Wolfram ihr das Kind abnahm.
»Ich sehe es noch kommen, dass sie noch früher ein Paar werden als ihr«, raunte Claudia ihrer Freundin Denise zu. »Sie lassen sich nicht so viel Zeit wie ihr.«
Dr. Wolfram hatte sich sehr schnell das Vertrauen der Landbevölkerung errungen, sodass Dr. Baumgarten und seine Frau Barbara endlich einmal gemeinsam Urlaub machen konnten, besonders da sie ihre drei Kinder währenddessen in Sophienlust in guter Obhut wussten.
Da die kleine Petra nun schon langsam dem Babyalter entwuchs und auf recht festen Beinchen herummarschierte, war man auf Sophienlust glücklich, die süße kleine Denise für ein paar Wochen bei sich zu haben. Besonders ihre schöne Patin freute sich darüber.
Diese fröhliche Feier verschlief die kleine Denise allerdings, worüber Alexander aber recht froh war, denn er wollte mit seiner Denise die Fahrt nach Schoeneich in einer Kutsche eröffnen.
Sie fuhren im blumengeschmückten Vierspänner, mit prächtig aufgezäumten Pferden. Ihnen folgten Hubert und Irene von Wellentin mit Kati und den Baumgarten-Buben. Und hinter ihnen kamen die anderen Kinder auf ihren Ponys geritten. Nur Edith Gerlach und Dr. Wolfram waren mit den Angestellten, die das Festessen vorbereiten wollten, in Sophienlust zurückgeblieben.
Und in diese plötzliche Ruhe hinein platzte Dr. Frobenius. Er hatte sich zwar angemeldet, aber an diesem Tag hatte niemand daran gedacht.
Frau Rennert konnte ihn damit vertrösten, dass Frau von Wellentin in einer knappen Stunde zurück sein würde, und so genoss er den ländlichen Frieden von dem wunderschönen Platz im Park aus, von dem man die ganze Umgebung überschauen konnte.
Ja, schön war es hier schon, und es war alles vorhanden, woran Kinder sich erfreuen konnten. Der Spielplatz war vorbildlich gestaltet, und schon machte Dr. Frobenius sich Gedanken darüber, dass er für Oliver und Odette etwas Ähnliches auf seinem Anwesen schaffen könnte. Es durfte einfach nicht sein, dass ihnen die Kinder wieder genommen wurden. Wie sie sich heute Morgen von ihm verabschiedet hatten, wie ängstlich prüfend sie ihn angeblickt hatten …
*
»Genau sieben Minuten haben wir gebraucht, Denise«, sagte Alexander von Schoeneich gedankenvoll.
»Und das mit nur vier Pferdestärken«, lächelte sie. »Mit 60 PS geht es noch viel rascher. Und es ist erst Sommer«, fügte sie leise hinzu.
Auf Schoeneich gab es einen Umtrunk für die Erwachsenen, Würstchen und Limonade für die Kinder, und dann hielt Hubert von Wellentin eine feierliche Ansprache, bevor sie die Rückfahrt nach Sophienlust antraten. Die Kinder waren natürlich in ausgelassener Stimmung, besonders Sascha, Andrea und Dominik, für die die Erfüllung ihrer sehnsüchtigen Wünsche nun in greifbare Nähe gerückt war.
»Schau, Mutti«, meinte Nick, »wenn Frau Rennert dich mal benötigt, braucht sie doch nur anzurufen, und schwuppdiwupp bist du schon drüben. Und wenn wir mal nach Sophienlust wollen, setzen wir uns auf unsere Ponys und reiten hinüber. Es ist doch gar nicht gefährlich. Die Straße gehört uns allein, hat Opa gesagt. Fremde dürfen da nicht fahren. Und nächstes Jahr lässt er Badehäuschen am See bauen, und eine große Liegewiese kommt hin und auch ein Sandstrand.«
Er sah seine Mutter erwartungsvoll an, denn er hoffte zu hören, dass die Hochzeit nun bald stattfinden würde. Aber da kam Edith und sagte, dass Dr. Frobenius eingetroffen sei.
»Heute können wir keinen Besuch gebrauchen«, erklärte Dominik ärgerlich, und weil er laut genug gesprochen hatte, hatte es Frank Frobenius gehört.
»Es tut mir leid, dass ich in eine Familienfeier hineinplatze«, sagte er entschuldigend, »aber damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.«
»Herr Dr. Frobenius hatte seinen Besuch angekündigt«, warf Edith Gerlach rasch ein.
»Und das haben wir heute natürlich völlig übersehen«, meinte Denise und überlegte: Frobenius? Das ist doch Dr. Kürtens Schwager. Was mag er wollen? Kommen sie mit den Zwillingen doch nicht zurecht?
Denise zog sich mit ihm in die Bibliothek zurück. Ziemlich fassungslos hörte sie sich dann den Bericht ihres Besuchers an.
»Die Kinder sind überzeugt, dass wir ihre richtigen Eltern sind«, erklärte ihr Frank Frobenius. »Es wäre für alle Beteiligten schrecklich, wenn sich daran etwas ändern würde. Dürfte ich Sie bitten, mir Einblick in die Akten der Kinder zu gestatten, damit ich mich etwas besser über John und Susan Bolton informieren kann?«
»Gern, aber viel werden Sie daraus nicht erfahren können«, erwiderte Denise von Wellentin.
Nein, viel konnte er daraus wirklich nicht entnehmen. Kaum zwei Jahre alt, waren die Zwillinge aus dem Säuglingsheim, in dem sie sich siebzehn Monate befunden hatten, zu Madame Merlinde gekommen. Dort waren ihre Eltern zweimal kurz zu Besuch gewesen. Alles war ordentlich registriert, auch die regelmäßigen monatlichen Zahlungen, die jedoch ausgeblieben waren, bevor Dr. Kürten und Jennifer die Kinder geholt hatten.
»Dann hätten Sie eigentlich noch für zwei Monate Pflegegeld erhalten müssen«, meinte Dr. Frobenius nach kurzer Überlegung. »Selbstverständlich bin ich bereit, die Zahlung zu leisten. Mein Schwager hat daran wohl gar nicht gedacht.«
»Darüber wollen wir nicht sprechen«, lenkte Denise ab. »Mir liegt ebenso wie Ihnen nur das Wohl der Kinder am Herzen, sonst nichts. Es ist wirklich schlimm, dass Sie jetzt in einer so schrecklichen Unsicherheit leben müssen, und ich kann nur hoffen, dass sich für Sie und Ihre Gattin alles zum Guten wendet. Erzählen Sie ein wenig von Odette und Oliver.«
Er tat es mit einem wehmütigen Lächeln, und aus jedem seiner Worte konnte Denise entnehmen, wie innig verbunden er bereits mit den Kindern war. Ausdehnen wollte er seinen Aufenthalt nicht. Frau von Wellentin war nun informiert, und er hatte sich anhand der Aufzeichnungen überzeugen können, dass die Boltons wirklich nur in finanzieller Hinsicht ihren elterlichen Pflichten nachgekommen waren. Frank Frobenius war fest entschlossen, dies als Ausgangspunkt für seine Bemühungen um die Adoption der Zwillingen zu nehmen. Ja, er war bereit, mit allen Mitteln darum zu kämpfen.
*
Endlich hatten Eric und Jennifer eine Spur von John Bolton gefunden. Eine wichtige Spur, wie es schien.
Nach langem Suchen waren sie in dem Erdbebengebiet auf einen Arzt gestoßen, der John Bolton persönlich gekannt hatte. Viele Schwerverletzte seien in ein Nothospital eingeliefert worden, berichtete er, deren Identität man bis heute noch nicht habe feststellen können.
Sie fuhren zu diesem Hospital, aber als Eric die ersten schlimm zugerichteten Opfer gesehen hatte, meinte er, dass es eine zu große Zumutung für Jennifer sei, von Bett zu Bett zu gehen und sich jeden Kranken genau anzuschauen.
Auch ihn selbst kostete es große Überwindung. Zum ersten Mal wurde er ganz persönlich mit einem so grauenhaften Geschehen konfrontiert. Gewiss, man las davon in den Zeitungen, man sah es im Fernsehen, man bedauerte die Opfer, aber in der schnellebigen Zeit vergaß man über neuen Schreckensnachrichten rasch jene, deren Wunden noch lange nicht geheilt würden.
Eric sprach lange mit einem älteren Arzt, einem gebürtigen Deutschen, der schon lange in diesem Lande lebte.
»Wir haben einen Patienten, der manchmal den Namen Susan ruft«, gab er Auskunft. »Nichts anderes sagt er. Nur Susan und immer wieder Susan. Ich fürchte jedoch, dass er trotz aller Bemühungen nicht überleben wird.«
Er fürchtete es. Was Eric fürchtete, wagte er nicht auszusprechen. Schonend brachte er Jennifer diese Nachricht bei.
Dann kam die Stunde, in der sie am Bett dieses Mannes standen, dessen Kopf von einem dicken Verband verhüllt war. Jennifer hätte in ihm auch dann nicht ihren Bruder erkennen können, wenn sie noch eine klare Erinnerung an ihn gehabt hätte. Aber dieser Mann konnte John Bolton sein.
»John«, sagte Jennifer mit aller Überwindung eindringlich. »John Bolton, kannst du mich verstehen? Ich bin Jennifer.«
Seine Augen öffneten sich leicht. Verwundert blickten sie, aber schon weit entfernt von dieser Welt.
»Susan – Jennifer«, wiederholte er. »Jennifer – meine Schwester Jennifer?«
Jennifers Augen brannten. Weinen konnte sie nicht.
»Susan ist tot«, stöhnte er plötzlich. »Ich habe sie verloren. Wir wollten doch zusammen sterben. Was soll ich ohne sie?«
Jennifer konnte nicht einmal seine Hand fassen, da diese ebenfalls von Verbänden verhüllt war, und sie war nicht imstande, ein Wort des Trostes zu sagen.
Eric hatte seinen Arm um sie gelegt und stützte sie. Der Arzt stand neben ihnen wie ein Schatten.
»Es geht um die Kinder, John«, kam es gequält über Jennifers Lippen.
»Um Oliver und Odette. Hörst du mich?«
»Es ist für sie gesorgt«, flüsterte er. »Susan – Susan …« Seine Augen schlossen sich wieder.
»Es ist mein Bruder«, flüsterte Jennifer tonlos. »John Bolton. Sie haben gehört, was er sagte, Herr Doktor? Ich bitte Sie inständig, es zu bezeugen.«
Sie wusste nicht, woher sie die Kraft dafür nehmen sollte. Sie fühlte, dass John Bolton nicht mehr zu helfen war, und so dachte sie nur an die Kinder, denen sie zu einem glücklichen Leben verhelfen wollten, und an Angelika und Frank, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit garantierten.
Gab ein göttlicher Wille John Bolton noch einmal die Kraft, die Augen zu öffnen und auch den Mund?
»Ich bin John Bolton«, flüsterte er. »Susan ist tot. Warum lasst ihr mich nicht sterben?«
Dann war Stille, und wenige Stunden später verhauchte er sein Leben, wie er es sich gewünscht hatte.
»Wie sehr muss er sie geliebt haben«, sagte Jennifer erschüttert. »In seinem Herzen war für niemand anderen Platz. Nun ist er mit ihr vereint.«
»Und das, was er den Kindern nicht geben konnte, werden ihnen Angelika und Frank geben«, vollendete Eric. Fest hielt er Jennifer in seinen Armen und küsste ihr die Tränen von den Wangen, die nun aus ihren Augen strömten.
*
Angelika kam mit den Kindern von einem Einkaufsbummel aus der Stadt zurück. Es hatte ihr Freude gemacht, hübsche Sachen für sie auszusuchen. Odette und Oliver aber hatten es einfach herrlich gefunden, mit ihrer Mutti einkaufen zu gehen. Sie hatten das ja bisher noch nicht kennengelernt.
Vor dem Haus stand ein fremder Wagen. »Großmama hat Besuch«, sagte Oliver missmutig, denn er und Odette liebten Besuch gar nicht so sehr und gingen deshalb lieber gleich zu Milli, um ihr zu erzählen, was sie alles erlebt hatten.
Es war gut, dass sie das taten, denn als Angelika am Salon ihrer Mutter vorbeiging, vernahm sie eine Männerstimme: »Es ist Tatsache, gnädige Frau, John Bolton lebt.«
Um Angelika begann sich alles zu drehen. »Nein«, dachte sie in wildem Aufbegehren, »es ist nicht wahr. Er kann nicht leben.«
»Ich glaube es nicht«, hörte sie auch ihre Mutter sagen.
»Warum wollen Sie es nicht glauben?«, fragte der Fremde.
Da öffnete Angelika mit letzter Anstrengung die Tür.
»Es ist nicht wahr«, ächzte sie. »John Bolton ist tot. Er und seine Frau sind tot.
»Ja, Susan ist tot, aber er lebt«, erklärte der Mann betont.
»Es ist Dr. Marquardt, Angelika«, sagte Elena Kürten leise, aber das vernahm Angelika schon nicht mehr. Mit einem Aufschrei sank sie zu Boden.
Dr. Marquardt war bestürzt, denn er konnte sich die Zusammenhänge nicht erklären.
»Kommen Sie später wieder«, bat Elena Kürten tonlos. Sie rief nach Milli, ohne daran zu denken, dass die Kinder auch in der Nähe sein könnten.
Oliver und Odette kamen angestürzt. »Mutti, was ist mit Mutti?«, riefen sie erschrocken durcheinander. Dann sah Oliver den fremden Mann. »Ist er schuld?«, fragte er zornig. »Großmama, was will er, was hat er mit Mutti gemacht?«
»Bitte, gehen Sie doch«, drängte Elena Kürten.
Dr. Marquardt ging, aber er fragte sich, was hier gespielt wurde. Doch sosehr er auch grübelte, die Lösung des Rätsels fand er nicht. Da er jedoch entschlossen war, den Dingen auf den Grund zu gehen, fuhr er zu den Kürten-Werken – und geriet dort in noch größere Bestürzung. Dr. Kürten sei bereits seit vierzehn Tagen auf Hochzeitsreise, wurde ihm mitgeteilt. Die Geschäfte führe der kaufmännische Direktor, da auch Dr. Frobenius zur Zeit abwesend sei.
Eric Kürten war auf der Hochzeitsreise. In seinem Hause aber waren die Zwillinge, die zu seiner Schwester Mutti sagten. Dr. Marquardt wusste, dass Angelika Erics Schwester war, wenn er sie auch bisher persönlich niemals kennengelernt hatte. Und sein Anblick oder seine Erklärung hatte sie so entsetzt, dass sie ohnmächtig geworden war. Das waren die Tatsachen. Was hatte das alles zu bedeuten?
Nüchterne Überlegungen bewegten ihn. Was ging ihn Eric Kürten, was ging ihn Jennifer an? Solange John Bolton lebte, war er der Vermögensverwalter und profitierte davon. Er war nicht daran interessiert, dass John Bolton starb, jetzt noch viel weniger. Warum sollte er für sich nicht das Bestmögliche herausholen? Hatte er Grund, Eric Kürten einen Freundschaftsdienst zu erweisen?
*
Ganz still und traurig saßen
Odette und Oliver in ihrem Zimmer. Mutti war doch eben noch so vergnügt gewesen, kein bisschen krank, und nun lag sie im Bett. Der Doktor war bei ihr, und Großmama war so aufgeregt, wie sie sie noch nie gesehen hatten. Wenn Daddy wenigstens käme, dachten die Kinder, aber der war heute wieder einmal verreist.
»Ich habe Angst«, flüsterte
Odette. »Ich will nicht, dass sie krank ist. Sie soll immer so lustig sein wie heute Vormittag.«
Das wollte Oliver auch, doch für diesen Tag waren alle Wünsche vergeblich. Die Angst, die Kinder, nach denen sie sich so ungestüm gesehnt hatte, wieder zu verlieren, hatte Angelika ohnmächtig werden lassen, und nichts, auch nicht der liebevolle Zuspruch ihres zurückgekehrten Mannes, konnte sie aus ihrer Bewusstlosigkeit zurückholen.
Bebend klammerten sich die Kleinen an Frank Frobenius, doch er konnte ihnen keine Antwort auf ihre bangen Fragen geben.
*
»Unsere Ehe hat sehr dramatisch begonnen, Jennifer, mein Liebes«, seufzte Eric Kürten, als sie wieder auf dem Heimatflughafen landeten. »Aber ich verspreche dir, dass nun schönere Wochen kommen werden. Einen wunderschönen Platz werden wir uns aussuchen für unsere Flitterwochen.«
»Einen ganz ruhigen Platz«, sagte sie verhalten. Es gab vieles zu vergessen, Leid, Angst, ja, Grauen musste überwunden werden. Frieden sollte in ihr Haus einkehren. Frieden für Angelika und die Kinder, für Frank und die Großmama.
Doch womit wurden sie empfangen? Zwei verschüchterte kleine Wesen kamen angeschlichen, als das Taxi vorfuhr.
»Ein böser Mann hat Mutti krank gemacht, und nun ist er wieder da«, wisperte Oliver ängstlich. »Der Doktor ist bei Mutti, und Daddy ist so zornig wie noch nie.«
Jennifer und Eric ahnten Schlimmes, als sie Dr. Marquardt erblickten.
»Dieser Mann gibt sich als dein Freund aus«, knurrte Frank Frobenius gereizt, »und dabei tut er alles, um uns in die Hölle zu bringen.«
»Ich tue nur meine Pflicht«, erklärte Dr. Marquardt kühl. »Ich kann mir keine Sentimentalitäten gestatten. Du hättest deine Familie eingehend unterrichten müssen, Eric. Ich habe dir gesagt, dass Bolton lebt. Wie konnte ich ahnen, dass du bereits selbstherrlich über die Zukunft der Kinder entschieden hast?«
»Sie haben sich entschieden«, korrigierte Eric Kürten. »Debatten erübrigen sich. John Bolton ist tot. Wir waren zugegen, als er starb. Wir haben den amtlichen Totenschein.«
Totenstille herrschte. Dann sagte Dr. Marquardt aggressiv: »Wie viel hat er dich gekostet?«
Jennifer hatte Eric noch nie unbeherrscht gesehen. Immer hatte er die Ruhe bewahrt. Doch jetzt sprang er auf den andern zu und packte ihn bei der Krawatte.
»Hinaus«, zischte er, »hinaus, bevor ich mich vergesse.«
Dr. Marquardt kniff die Augen zusammen. »Das ist tätlicher Angriff in Gegenwart von Zeugen«, empörte er sich.
Frank Frobenius sah ihn mit unverhülltem Widerwillen an.
»Ich habe nichts bemerkt«, knurrte er.
»Du, Mama? Du, Jennifer?«
»Das ist ein Komplott, aber ich werde diese fadenscheinigen Beweise widerlegen«, geiferte er.
Eric hatte seine Fassung wiedergewonnen. »Worauf willst du hinaus? Worum geht es dir? Um Geld? Hast du während dieser Jahre nicht genug verdient an den Kindern? Willst du alles?«
»Das ist eine gemeine Unterstellung. Ich vertrete die Interessen meines Freundes John Bolton.«
»Deines Freundes«, höhnte Eric. »Er hatte keine Freunde. Für ihn gab es nur einen Menschen auf der Welt, seine Frau. Seine letzten Worte galten ihr. Sein einziger Wunsch war, mit ihr vereint zu sein. Nun ist ihm dieser Wunsch erfüllt worden. Was die Kinder betrifft, werden wir mit den Gerichten verhandeln. Du bist überflüssig.«
»Ist das die Wahrheit?«, fragte Frank Frobenius, als Dr. Marquardt das Haus verlassen hatte. »Habt ihr wirklich Gewissheit?«
»Ja, Frank«, meinte Eric tröstend. »Hoffentlich können wir es Angelika bald begreiflich machen.«
»Mein armes Kleines«, sagte Elena Kürten zu Jennifer, »ich hätte dir einen besseren Beginn für euer gemeinsames Leben gewünscht.«
Jennifer umarmte sie innig. »Ich kann mir keinen besseren Mann wünschen als deinen Sohn«, flüsterte sie. »Das wiegt alles auf. Das Glück erträgt sich leicht, aber geteiltes Leid ist halbes Leid. Es wird schlimm, aber wir können ein ruhiges Gewissen haben. Die Kinder werden ihren Eltern ganz gehören, und ich bin von allen Zweifeln erlöst worden. Es war gut, Mama, dass wir noch mit ihm sprechen konnten. Er dachte wirklich nur an Susan.«
*
»Angelika – Geli, mein Liebstes, wach doch auf«, bat Frank Frobenius. »Hab’ keine Angst mehr! Die Kinder gehören uns! Niemand wird sie uns wegnehmen. John Bolton lebt nicht mehr.«
»Du willst mich nur trösten«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Du hast keinen Beweis.«
»Eric und Jennifer haben ihn gebracht. Komm doch zu dir, lächle wieder. Die Kinder wollen dich lachen sehen. Sie sind traurig, wenn ihre Mutti krank ist.«
»Du darfst mich nicht belügen, Frank«, bettelte sie. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn diese Hoffnung wieder trügerisch wäre.«
»Sie ist nicht trügerisch. Es wird vielleicht noch Monate dauern, bis die Kinder unseren Namen tragen werden, aber das werden wir durchstehen.«
Er musste noch lange beruhigend auf sie einreden, bis sie es glaubte, doch dann begriff sie, dass es Wahrheit war. Ein befreiendes Schluchzen schüttelte ihren Körper, dann konnte sie die Kinder in die Arme schließen, und das Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück.
*
»Gott ist doch überall, wo man ihn braucht«, sagte Denise zu Claudia, die zu ihrem täglichen Besuch in Sophienlust eingetroffen war.
»Ich nehme an, dass dir wieder mal eine Nachricht ins Haus geschneit ist, die dich zufrieden stimmt«, antwortete Claudia lächelnd.
»Geschneit ist gut. Wir haben immer noch Sommer.«
»Er neigt sich dem Ende entgegen«, meinte Claudia sinnend. »Was ist es für eine Nachricht?«
»Es sind zwei! Manche Tage sind einfach himmlisch, Claudi. Die Berkings haben einen Sohn, und die Zwillinge behalten ihre Eltern.«
»Und da aller guten Dinge drei sind, möchte ich dir verkünden, dass wir Zuwachs bekommen. Kannst du es noch aufnehmen, Isi?«
»Claudia«, Denise umarmte die Freundin, »wie schön! Was sagt Lutz?«
»Nach der ersten Freude ist für ihn bereits die Leidenszeit angebrochen«, lächelte die junge Frau. »Man müsste es einem Mann verschweigen können, bis man ihm das Kind präsentieren kann. Mir ist fortan alles verboten. Ich darf nicht mal Kartoffeln aus dem Keller holen. Bald wird er mir das Autofahren verbieten.«
Sie hatte es kaum ausgesprochen, als Lutz schon in der Tür stand.
»Isi, ich muss ein ernstes Wörtchen mit dir reden«, platzte er heraus. »Ich muss an deine Hilfe appellieren. Meiner Frau kann ich es scheinbar nicht klarmachen, dass sie sich schonen muss.«
»Willst du mich ans Bett fesseln?«, fragte Claudia schelmisch. »Eine werdende Mutter braucht Bewegung.«
»Aber wenn dir nun am Steuer schlecht wird?«, seufzte er.
»Mir wird nicht schlecht. Ich fühle mich pudelwohl.«
»Ich mich nicht«, begehrte er auf. »Du versetzt mich in Angst und Schrecken, wenn ich dir dauernd nachlaufen muss.«
»Das brauchst du ja nicht«, lächelte sie. »Mein armer Lutz, ich hätte es dir doch noch verschweigen sollen.«
»Das könnte dir so passen! Du bist doch eine vernünftige Frau, Isi! Mach du ihr doch bitte klar, dass sie auf sich achten muss! Du hast das doch schon einmal mitgemacht.«
»Ich habe bis zum vierten Monat getanzt«, erwiderte Denise gelassen, »und es ist Nick allem Anschein nach recht gut bekommen. Hör dir nur den Bengel an!«
Dominiks Stimme war allerdings nicht zu überhören. »Mutti, Mutti«, schrie er aufgeregt. »Senta ist gar nicht so fett vom Fressen. Sie kriegt wieder Junge. Es wird gar nicht mehr lange dauern, sagt Justus. Und jetzt fragen wir uns, mit welchem Dorfköter sie sich eingelassen hat.«
Lutz brach in schallendes Gelächter aus.
»Mein Sohn«, seufzte Denise. »Es ist nur gut, dass seine Großeltern sich daran gewöhnt haben, dass er ein richtiges Landkind geworden ist, sonst würden sie in Ohnmacht fallen.«
»Die fallen schon nicht so schnell in Ohnmacht«, versicherte Nick. »Opa meint, es könnte der Spitz von Lenhards sein.«
»Na, das wird eine prächtige Mischung geben«, seufzte Denise. »Was machen wir dann mit all den Hunden?«
»Die Hälfte nehmen wir mit nach Schoeneich«, bestimmte Nick mit schöner Selbstverständlichkeit.
»Und einen kriegt Kati, das hab’ ich ihr schon versprochen.«
*
Am Abend holte Alexander von Schoenecker Denise zu einem Spaziergang ab. Es war der Abend in der Woche, der ihnen regelmäßig gehörte. Ziemlich lange hatte es ja gedauert, bis Denise sich an die regelmäßigen Zusammenkünfte gehalten hatte, aber als ihr dann die Kinder zugeredet hatten, hatte sie ihre Bedenken überwunden.
Es waren stets beglückende Stunden für beide, wenn sie ganz allein sein konnten, ohne dass ein Kind mit irgendwelchen Fragen zu ihnen kam.
Heute gab es eine Menge zu berichten, denn Alexander war über die neuesten Ereignisse, einschließlich Sentas Fehltritt, noch nicht informiert.
Alexander sah müde aus. Denise fiel es auf. Nun, es hatte während der letzten Wochen genug Arbeit gegeben, und ein so großes Gut verlangte auch seinen Einsatz. Er gab sogar zu, dass er müde war. Müde vor allem des Wartens auf ihre Entscheidung, wie er plötzlich sagte.
»Die Straße ist fertig, Frau Rennert ist eingearbeitet, und Frau Trenk kann jetzt doch auch schon tüchtig zupacken«, meinte er. »Personalsorgen hast du wahrhaftig nicht, Denise. Also, wann heiraten wir?«
Diesmal klang es wie ein Ultimatum. Sie spürte seine Ungeduld, und eigentlich hatte sie wirklich keine Einwände zu machen.
»Meinetwegen nächste Woche«, erwiderte sie zu seiner Verblüffung.
»Ist das dein Ernst?«
»Mein voller Ernst«, sie lächelte. »Wir können ja auch in vierzehn Tagen sagen, damit die Kinder sich nicht gleich überschlagen.«
Stürmisch zog er sie an sich. »Ich kann es noch nicht glauben, Denise«, flüsterte er. »So schnell wie möglich, dass nur ja nicht wieder etwas dazwischenkommt.«
Alle Müdigkeit war von ihm abgefallen. So lebhaft hatte Denise ihn schon lange nicht mehr gesehen. Es veriet ihr wieder einmal, wie sehnsüchtig er ihr Zusammenleben herbeiwünschte.
»Das schönste Zimmer bekommst du«, versicherte er.
Das schönste Zimmer in Schoeneich war für Denise jenes, das ein breites Fenster zum Park hatte, vor dem sich das große Rosenrondell ausbreitete, dem Alexander besondere Sorgfalt angedeihen ließ, sodass es bis weit in den Herbst hinein in Blüte stand.
Ja, dieses Zimmer wollte sie sich ganz nach ihrem Geschmack einrichten. Hier wollte sie mit ihrem Mann die langen Winterabende verbringen, in denen sie alles nachholen wollten, was sie versäumt hatten: Musik hören, lesen, Schach spielen.
»Also dann in vierzehn Tagen«, meinte Alexander und küsste sie hingebungsvoll. »Ich werde gleich morgen das Aufgebot bestellen.«
»Zuerst müssen wir aber die Familie informieren, damit sie nicht aus allen Wolken fällt«, lächelte sie. »Aber da es die Huber-Mutter ja prophezeit hat, werden ohnehin alle damit rechnen, dass es in Sophienlust eine zweite Hochzeit gibt. Und eines Tages werden dort die Kinder der Familien herumtollen, Barbaras Kinder, Claudias und unsere …«
»Und es werden dann so viele sein, dass kein Platz mehr für andere ist«, ergänzte er sinnend.
»Dann hätte Sophienlust seinen Sinn verloren«, überlegte sie.
»Aber nein, Denise. Dann erst wird es seinen richtigen Sinn bekommen, und Sophie von Wellentin würde darüber bestimmt sehr glücklich sein. Sie wollte an Dominik etwas gutmachen, vergiss das nicht! Sie hat nicht damit gerechnet, dass ihr Sohn einmal mit ganzem Herzen dabei sein und sogar selbst ein Kind in sein Haus nehmen würde. Übrigens habe ich heute Hanna Ebert in der Stadt gesehen, das wollte ich dir noch sagen.«
»Sie ist noch immer in der Nähe?«, fragte Denise beklommen. »Das gefällt mir nicht.«
»Irene wird es noch weniger gefallen«, meinte er. »Denn bei solchen Frauen muss man wirklich auf alles gefasst sein.«
»Aber sie hat doch genügend Geld bekommen.«
»Wenn man nicht damit umgehen kann, ist es auch schnell ausgegeben. Aber denken wir jetzt nicht an solche Dinge. Du bist bald meine Frau. Ich möchte jetzt an nichts anderes denken.«
*
»Na, du freust dich ja so«, sagte Eric Kürten zu seiner jungen Frau.
»Gerade kam ein Brief aus Sophienlust. Denise von Wellentin und Alexander von Schoenecker heiraten. Dominik wünscht sich so sehr, dass die Zwillinge auch zur Hochzeit kommen. Er meint, dass sie dabei sein müssten.«
»Na, ob das gut ist?«, gab er zu bedenken. »Angelika wird das wohl nicht recht sein.«
»Aber wir haben Sophienlust viel zu verdanken«, erinnerte Jennifer leise.
»Ja, wir alle«, pflichtete er ihr bei.
»Wir können Angelika ja mal interviewen, wie sie sich dazu stellt.«
Seltsamerweise war sie gar nicht ablehnend. Sie hatte alle Schrecken überwunden und insgeheim schon öfter den Wunsch gehegt, Sophienlust einmal kennenzulernen.
Und auch bei den Zwillingen erwachte plötzlich das Interesse an ihren früheren Spielkameraden wieder.
»Ob sie noch alle da sind?«, meinte Oliver. »Neugierig wäre ich schon.«
»Nick möchte ich ganz gern mal wiedersehen«, warf Odette ein, »und nachsehen, ob Habakuk jetzt noch mehr sprechen kann. Er ist zu komisch, Mutti. Du wirst es sicher dort auch schön finden. Die Ponys sind niedlich.«
»Und die Hundchen werden schon groß geworden sein. Bim, Bam, Bum, Blondi und Bella heißen sie.«
Jetzt kam Oliver alles wieder in den Sinn, und so war es bald beschlossene Sache, dass sie die Einladung annehmen wollten.
*
Dominik freute sich sehr, als die Zusage eintraf. »Nun bin ich aber doch gespannt, ob es ihnen dort besser gefällt als hier«, meinte er. »Wenn sie immer nur zu zweit sind, wird es ihnen doch langweilig werden.«
Wird es ihm in Schoeneich mit Sascha und Andrea allein nicht vielleicht auch zu langweilig werden?, überlegte Denise. Nun, man würde schon sehen. Jetzt liefen die Vorbereitungen zur Hochzeit jedenfalls auf vollen Touren. Wie eine Bombe hatte die Nachricht eingeschlagen, aber es gab niemanden, der sich nicht darüber freute, dass nun Schoeneich und Sophienlust wirklich ganz zusammenwuchsen.
Dominik, Sascha und Andrea waren selig. Nun brauchten sie sich keine Gedanken mehr zu machen, nun wurden sie endlich die kleine Familie, die sie sich gewünscht hatten.
Und das Tollste war, dass Senta wieder fünf Junge geworfen hatte. Es hatte sie schon recht mitgenommen, und Nick bangte sehr um die geliebte Hündin, aber die Jungen waren so unglaublich putzig, dass er ihr nun doch einen guten Geschmack in der Wahl des Vaters zutraute.
»Oliver und Odette werden staunen, wenn sie die sehen«, meinte er stolz. »Schade, dass Susi nicht auch kommen kann. Sie hatte es ja versprochen, aber nun hat sie einen kleinen Bruder, und da vergisst sie mich wohl doch.«
Die Verbindung riss zwar nicht ab, aber die Briefe wurden doch seltener. Jeder führte nun sein eigenes Leben, und das war auch gut so, wie Claudia versicherte. Ein Heim sollte eben doch nur eine Übergangsstation für Kinder sein.
Wieder einmal studierte Wolfgang Rennert Lieder mit den Kindern ein, die schon lange nicht mehr so falsch sangen wie früher. Vor allem Katis glockenreines Stimmchen wurde immer vollkommener.
»So wachsen Talente heran«, meinte Denise nachdenklich. »Roli ist unsere Malerin, und Kati hat eine wunderschöne Stimme. Ob sie sie einmal nützen wird?«
Eigentlich erwartete sie einen Widerspruch von ihrem Schwiegervater, aber der blieb aus.
»Sie soll einmal das tun, was sie will«, erklärte er fest. »Meine grässlichen Vorurteile sind begraben, Denise. Hauptsache ist, dass wir Kati nicht verlieren.«
Er drückte damit aus, wie sehr auch ihm das Kind ans Herz gewachsen war. Manchmal wurde es Dominik sogar ein bisschen zu viel.
»Ein Getue macht er mit ihr, da kann man richtig närrisch werden«, murrte er.
»Früher ist sie mit auf Bäume geklettert, und man hat sie an den Marterpfahl binden können. Jetzt regt sich Opa immer gleich auf, dass sie sich wehtun könnte. Was bin ich froh, dass ich ein Junge bin.«
»Und was für ein Junge«, dachte Denise. Immer hatte er zerschundene Knie und Arme. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass eine strengere Hand ihn leitete.
*
»Weißt du noch, Jennifer?«, fragte Eric Kürten, als sie Sophienlust vor sich liegen sahen.
Aufgeregt hatten die Zwillinge ihrer Mutter alles erklärt. Da drüben lag das Dorf und hinter dem Hügel Schoeneich. Und vor ihnen – Angelika wurde nun doch ein wenig eigentümlich zumute, als sie das herrliche Anwesen sah – lag Sophienlust.
Eric und Jennifer dachten an jenen Tag zurück, als sie hierhergefahren waren, nicht ahnend, welche Folgen dieser Besuch für ihr weiteres Leben haben sollte.
»Und da sind die Ponys«, schrie Oliver begeistert. »Schau nur, Mutti, sind sie nicht hübsch?«
»Vielleicht möchtet ihr auch welche haben«, sagte sie sofort, von Sorge bewegt, dass dies alles zu verlockend für sie sein könnte.
»Ach, weißt du, die brauchen viel Pflege und Auslauf, das ist in der Stadt nichts«, erwiderte Oliver verständig. »Wir haben es ja auch so schön genug.«
Glücklich drückte Angelika die beiden an sich.
»Schade, dass Daddy nicht auch mitkommen konnte«, meinte
Odette. »Er wird uns bestimmt vermissen.«
»Wir sind ja bald wieder bei ihm«, antwortete Angelika, und die beiden Kleinen nickten eifrig. Für sie gab es keinen Zweifel, dass es nur ein kurzer Aufenthalt sein würde.
»Da seid ihr ja endlich wieder mal«, wurden sie von Dominik begrüßt. »Groß seid ihr geworden! Und was ihr alles verpasst habt, ihr werdet euch wundern.«
»Bei uns ist es aber auch sehr schön«, sagte Oliver. »Du musst uns auch mal besuchen.«
»Habt ihr auch ein Gut?«, erkundigte sich Dominik.
»Nein, aber ein ganz schönes Haus und einen großen Park und einen Spielplatz.«
»Aber keinen Habakuk, keine Senta und keine kleinen Hündchen.« Dominik war leicht gekränkt über die Begeisterung der beiden, die er nun doch nicht erwartet hatte.
Die kleinen Hündchen waren natürlich wonnig.
»Eines könnten wir doch vielleicht haben?«, meinte Odette schüchtern und sah Angelika bittend an.
Dominik runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob wir eins hergeben.«
»Wo ihr doch so viele habt«, mischte sich Oliver ein.
»Ha, vielleicht«, erklärte Dominik gutmütig, »weil ihr es seid. Aber jetzt brauchen sie ja noch ihre Mutter. Das ist wie bei kleinen Kindern.«
»Und wie bei großen auch«, dachte Denise. Auch Angelika schien den gleichen Gedanken zu haben, denn sie sahen sich mit einem verständnisinnigen Blick an.
*
In Sophienlust gab es an diesem Tag ein paar Kinder, die sich andere Gedanken machten und darüber sogar die für den nächsten Tag festgesetzte Hochzeit für einige Zeit vergaßen.
Dass die Zwillinge nun Eltern hatten, war ihnen schon beigebracht worden. Aber das warf ein Problem auf.
Erst waren die Eltern von den Zwillingen nie gekommen, dann hatte man gesagt, sie seien tot, und nun lebten sie doch und waren sogar sehr lieb zu Oliver und Odette, die nach ihren eigenen Worten alles hatten, was sie sich wünschen konnten.
Marco sagte schon einige Zeit überhaupt nichts mehr. Mit tieftraurigen Augen blickte er zum Fenster hinaus. Plötzlich jedoch drehte er sich um und ging auf Verena zu.
»Was würdest du sagen, wenn deine Mutter dich auch holen würde?«, fragte er.
»Ich habe keine Mutter«, erwiderte sie.
»Oder dein Vater?«
»Ich habe auch keinen Vater. Was willst du eigentlich?«
»Vielleicht wissen wir es nur nicht«, überlegte er. »Golos Vater ist doch auch gekommen und Heiners Mutter ebenso. Irgendwo können sie doch herkommen.«
»Wenn sie tot sind«, widersprach Verena mit leiser Stimme. Sie war bereits neun Jahre alt und machte sich keine Illusionen mehr.
»Die Eltern von den Zwillingen waren auch tot und sind doch wiedergekommen«, beharrte Marco. »Ich wüsste zu gern, wie meine Eltern ausgesehen haben. Vielleicht begegne ich ihnen mal, wenn ich groß bin, aber dann erkenne ich sie ja gar nicht.«
Claudia, die die Worte zufällig vernahm, schnürte es die Brust zusammen. Er würde seinen Eltern bestimmt niemals begegnen, denn sie waren seit Langem tot und begraben. Wieder einmal wurde ihr bewusst, dass alles, was den Kindern hier geboten wurde, ihre Sehnsucht nach den Eltern nicht ersetzen konnte.
Vielleicht war es doch falsch gewesen, die Zwillinge einzuladen, denn sie demonstrierten im Verein mit Angelika, Jennifer und Eric ein so geschlossenes Familienglück, dass die weniger glücklichen Kinder so tiefsinnigen Gedanken nachzuhängen begannen.
»Gefällt es dir nicht mehr bei uns, Marco?«, fragte Claudia.
Er betrachtete sie sinnend. »Du bist ja auch nur noch zu Besuch hier, Tante Claudia. Es gefällt mir schon, aber es ist auch schön, wenn man zu jemandem Mutti sagen kann und Vati oder wenigstens eins von beiden. Roli tut sich leicht. Sie sagt einfach Mutti zu Frau Rennert.«
»Das könntest du doch auch.«
Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Bist du böse, wenn ich sage, dass ich lieber eine so hübsche Mutti hätte wie Oliver und Odette, oder wie du bist und Tante Isi? Frau Rennert ist schon ein bisschen alt. Sie ist ja lieb. Na ja, du verstehst das wohl doch nicht.«
Claudia strich ihm über das dunkle Lockenhaar. »Ich verstehe dich schon, Marco«, sagte sie und sah, dass Marco nur mühsam die Tränen unterdrückte. »Nick gehört nun auch nicht mehr zu uns«, stieß er hervor. »Wir werden immer weniger.«
»Aber er wird doch oft hier sein«, tröstete ihn Claudia. »Sei jetzt nicht traurig, Marco. Tante Isi hat morgen Hochzeit. Da soll sie lauter fröhliche Gesichter sehen.«
*
Eine Trachtenhochzeit ist etwas ganz besonders Schönes, stellten sogar die Kinder fest, die Tante Isi lieber in einem weißen Brautkleid mit langem Schleier gesehen hätten.
Denise sah so wunderschön aus in der Festtracht des Landes, dass alle den Atem anhielten. Das goldgewirkte Käppchen sah fast wie ein Krönchen aus und sie selbst wie eine Königin.
Andächtig bewunderten die Kinder die feierliche Zeremonie.
Unter Glockengeläut schritt das Brautpaar durch das Spalier der Dorfbevölkerung zur Kirche. Voran gingen die Blumen streuenden Kinder, und hinter dem Brautpaar kamen die vielen Menschen, die ihm nahestanden.
Denise von Wellentin wurde Alexander von Schoeneckers Frau. Dominik stieß einen hörbaren Seufzer aus, als sich die beiden das Jawort gaben, und Irene von Wellentin trocknete rasch ihre Tränen und lächelte Dominik zu.
Wolfgang Rennert hatte eigens ein Lied komponiert und auch den Text dazu geschrieben.
»Auf allen euren Wegen, begleit’ euch Gottes Segen«, sangen die Kinder nun. »Dank sei ihm, der euch lenke und Freude schenke ein Leben lang.«
»Nun weint sie doch«, raunte Claudia ihrem Mann zu, »und sie hat gesagt, dass sie ganz bestimmt nicht weinen wird.« Dabei zitterte auch ihre Stimme, sodass er ihre Hand festhielt.
Auch Angelika und Jennifer konnten ihre Rührung nicht verbergen und viele andere auch nicht.
»Nun sind wir endlich verheiratet«, wisperte Dominik und griff rasch nach Andreas Hand, während Sascha noch in andächtiger Bewunderung Denise anblickte.
»Denise von Schoenecker klingt schön«, sagte er leise.
Ja, nun waren sie verheiratet, die Huber-Mutter hatte recht behalten.
Auf Gut Sophienlust, in Schoeneich und im ganzen Dorf wurde das Ereignis gefeiert. Es wurde getanzt und gelacht, während sich das Brautpaar heimlich zurückzog. Wenigstens ein paar Wochen sollten ihnen vergönnt sein, fern von allem Trubel, fern auch von den Kindern. Dafür hatten auch Irene und Hubert von Wellentin plädiert und Dominik davon überzeugt, der gemeint hatte, dass sie sich allein schrecklich langweilen würden.
»Eigentlich könntet ihr doch ruhig bleiben«, sagte er nun zu den Zwillingen. »Wir haben doch so viel Platz in Sophienlust.«
»Aber Daddy hat bestimmt schon große Sehnsucht nach uns«, wies Oliver den Vorschlag zurück. »Onkel Eric muss wieder arbeiten, und Großmama ist auch ganz allein. Vielleicht kommen wir alle zusammen mal her.«
»Wer weiß, was bis dahin wieder alles passiert ist«, seufzte Dominik. »Wir bringen euch dann den Hund. Welchen wollt ihr denn haben?«
»Einen, der auch Junge kriegen kann«, meinte Odette.
»Du lernst es doch nie«, stellte Dominik fest. »Ein Hund, der Junge kriegt, ist kein Hund, sondern eine Hündin. Und wie wollt ihr sie nennen, damit das gleich feststeht?«
Darüber konnte man sich so rasch nicht einigen, dann entschieden sie sich nach langem Hin und Her für Dolly.
*
»Meinst du nicht, Alexander, dass es uns die Kinder übel nehmen, wenn wir so lange wegbleiben?«, fragte Denise kleinlaut.
»Das fehlte noch. Ein paar Wochen im Jahr werden sie schon ohne uns auskommen müssen, das behalte ich mir vor. Sie sind ja bestens versorgt. Sorgen brauchen wir uns nicht zu machen. Langweilst du dich mit mir?«
Davon konnte nicht die Rede sein. Sie konnte es nur immer noch nicht fassen, dass sie Tag für Tag beisammen sein konnten und dass ein Tag schöner war als der andere und voller Glück.
Sie waren befreit von allem, was sie einmal beschwert hatte. Ein neues Leben hatte begonnen, in dem Sophienlust zwar weiterhin eine Rolle spielen würde, aber doch nicht mehr die ausschließliche.
Hätten sie das je gedacht, als sie sich zum ersten Mal dort trafen, um das Vermächtnis Sophie von Wellentins zur Kenntnis zu nehmen?
»Ich glaube, ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt«, sagte Alexander gedankenvoll.
»Habe ich dir nicht nur leidgetan?«, fragte sie. »Mit dem Kind in einer so feindselig gestimmten Umgebung? Für mich war das alles so unfassbar …«
»… dass du am liebsten auf das Erbe verzichtet hättest«, nickte er. »Aber da siehst du wieder einmal, Liebstes, dass man die Flinte nicht ins Korn werfen soll.«
»Ich habe auch verstehen gelernt, dass man die Menschen nicht verurteilen soll, sondern sich um ihre Zuneigung bemühen muss. Jeder hat wohl seine Vorurteile. Ich hatte sie auch.«
»Auch mir gegenüber?«
»Nein, und das ist die Wahrheit. Ich wusste von Anfang an, dass du ein Mensch bist, auf den ich mich verlassen konnte, aber ich wagte nicht zu hoffen, dass du mir mehr als Freundschaft entgegenbringen würdest.«
»Dabei bedeutest du mir alles, und das darfst du nie vergessen, welche Stürme auch noch über uns hinwegbrausen werden. Man weiß nie, was das Leben bringt.«
»Aber diese Stürme werden nur über uns hinwegbrausen«, beteuerte sie, »unsere Liebe können sie nicht erschüttern.«
*
Anfangs ärgerte sich Dominik ein wenig, dass in Sophienlust auch ohne seine Mutter alles seinen rechten Gang ging. Frau Rennert wurde mit den Kindern prächtig fertig. Sie schaffte unermüdlich, hatte niemals Launen und führte ein mehr liebevolles als strenges Regiment.
Sie regte sich auch nicht gleich auf, wenn sich mal ein Kind verletzte oder eines krank wurde. Es gab auch kein großes Trara, wenn es galt, kleine Raufbolde auseinanderzubringen. Wenn Klagen von Lehrer Brodmann kamen, die leider unvermeidbar schienen, nahm sie sich die kleinen Faulpelze erst einmal selbst vor, bevor sie sie der Obhut ihres Sohnes übergab, dem es meist schnell gelang, ihre Leistungen zu verbessern.
»Mutti wird ja zufrieden sein, dass alles seinen Gang geht«, äußerte sich Dominik zu Andrea. »Aber es wird langsam Zeit, dass sie heimkommen.«
Die Kinder zählten nun schon die Tage bis zur Rückkehr von Denise und Alexander, Sascha noch sehnsüchtiger als die Kleineren. Er war der Einzige, der das Gymnasium besuchte, und seit Golo nicht mehr da war, fühlte er sich immer ein wenig einsam. Der Chauffeur brachte ihn in die Stadt und holte ihn wieder ab.
Dadurch vermisste Sascha die Gespräche mit seinem Vater, und bei den Hausaufgaben konnte ihm auch niemand helfen. Mit dem Latein haperte es noch immer bei ihm. Es betrübte ihn zutiefst, dass er mit ein paar schlechten Noten aufwarten musste.
»Latein ist doch eine blöde Sprache«, meinte Dominik. »Die lerne ich nie.«
»Das musst du aber, wenn du aufs Gymnasium gehen willst«, belehrte ihn Sascha.
»Dann gehe ich eben nicht«, entgegnete Nick spontan.
»Aber wenn du studieren willst, musst du es.«
»Dann studiere ich eben nicht. Wozu lernst du überhaupt so viel, wenn du mit zwanzig Fehlern genauso eine Sechs kriegst wie mit vierzig?«
»Mit achtzehn hätte er aber noch eine Fünf bekommen«, mischte sich Andrea ein, die dieses Unheil auch schon auf sich zukommen sah, denn im nächsten Jahr kam sie auf das Gymnasium.
Dominik bedauerte die Tatsache zutiefst, denn er war etliche Jahre jünger, und wenn er darüber nachdachte, dass Sascha und Andrea dann beide in die Stadt zur Schule fuhren, war er doch nicht mehr so entschlossen, auf das Gymnasium zu verzichten.
Er gab sich düsteren Betrachtungen darüber hin, dass das Größerwerden noch manche Schwierigkeiten mit sich bringen würde, und das gefiel ihm gar nicht.
»So schön wie jetzt werdet ihr es nie mehr haben«, hatte Lena neulich mal gesagt, und zu dieser Überzeugung gelangte er nun auch. Es gab so vieles, worüber man nachdenken musste. Zum Beispiel auch darüber, dass Dr. Wolfram und Edith sich schon seit längerer Zeit nicht mehr getroffen hatten. Hatten sie sich gestritten? Edith schaute jetzt immer so betrübt drein, dass das nicht auszuschließen war.
Auch Lena und Magda machten sich darüber Gedanken.
»Nun ja, es ist nicht so einfach, wenn ein Mädchen ein Kind hat«, meinte Lena nachdenklich. »Schließlich ist er ja ein Doktor, da muss er schon auf seinen Ruf bedacht sein.«
Die beiden konnten nicht wissen, dass es Edith war, die Dr. Wolfram aus dem Weg ging – nicht er ihr –, denn sie redete sich ein, dass sie kein Recht habe, irgendwelche Wünsche zu hegen, was ihn anbetraf.
Gut, sie waren ein paarmal ausgegangen. Nett hatte er mit ihr gesprochen, aber nicht etwa von Liebe, sondern über alles mögliche, wenngleich sie manchmal auch zu spüren meinte, dass er sie gernhatte.
Aber was redete man sich nicht alles ein, wenn man selbst sein Herz verloren hatte – und dies ganz und gar und vom ersten Augenblick an, wie es bei ihr der Fall war.
Oh, wie oft hatte sie sich gewünscht, alles, was vorher gewesen war, ungeschehen machen zu können. Wenn es doch niemals einen Dieter Wolff in ihrem Leben gegeben hätte …
Aber das, was durch Petra lebendige Erinnerung geworden war, konnte sie nicht aus dem Gedächtnis streichen. Oft fragte sie sich, wieso sie dieses kleine Wesen dennoch lieben konnte. Aber auch Bert Wolfram war reizend zu dem Kind gewesen und hatte sie niemals spüren lassen, dass das Kind ihn störte.
Aber dann hatte sie ihn einmal, als sie zum Einkaufen ins Dorf gefahren war, mit einem anderen Mädchen gesehen. Sie hatten fröhlich gelacht, und er hatte lange die Hand des Mädchens gehalten. Edith hatte es genau gesehen und sich ganz verstohlen davongeschlichen, damit er sie nicht bemerkte. Sie kannte das Mädchen. Es war Christel Lufft, die Tochter eines Bauunternehmers, der kürzlich einen komfortablen Bungalow bezogen hatte. Ein hübsches und reiches Mädchen war Christel Lufft und nicht mit einem unehelichen Kind belastet. Konnte sie es Dr. Wolfram übel nehmen, wenn er sich für sie entschied?
Das waren Ediths Gedanken auch an diesem Tag, als Dr. Wolfram eilends nach Sophienlust gerufen werden musste, weil Marco sich an einem rostigen Stacheldraht verletzt hatte.
Diesmal war sogar Frau Rennert aufgeregt, denn die Beine des Jungen waren übel zugerichtet. Sie hatten Verstecken gespielt, und irgendwo musste dieser Draht noch zwischen dichtem Gebüsch gehangen haben.
Zum Glück war die resolute Gretli ganz in der Nähe gewesen und hatte nicht lange überlegt. Das blutende Kind auf den Armen, war sie rasch heimgelaufen, und wenig später war Dr. Wolfram schon benachrichtigt.
Direkt aus der Praxis kam er eilends hergefahren, desinfizierte die scheußlichen Wunden und verband den Jungen. Dann bekam Marco eine Tetanusspritze.
»Nichts war los die ganze Zeit, und jetzt, wo die Herrschaften von der Hochzeitsreise zurückkommen, muss das passieren«, seufzte Frau Rennert.
»So was kann immer mal passieren«, meinte Dr. Wolfram beschwichtigend. »Es ist ja nicht Ihre Schuld, Frau Rennert.«
Dominik meinte, dass man die Gelegenheit beim Schopfe fassen und ihn an Edith erinnern müsse.
»Edith ist im Spielzimmer«, sagte er. »Geht ihr nicht mal wieder ins Bauerntheater?«
»Zurzeit ist keines«, erwiderte Dr. Wolfram leicht verlegen. »Ich habe auch immer sehr lange zu tun. Sag Edith schöne Grüße. Ich muss jetzt schnell in die Praxis. Auf Wiedersehen, Nick.«
Der Junge seufzte. Sein erfolgloses Bemühen um die beiden bedrückte ihn. Er ging zu Edith. »Doktor Wolfram war schon da«, berichtete er.
»Ich weiß«, gab sie kurz zurück.
»Warum hast du ihm nicht wenigstens guten Tag gesagt?«, fragte er.
»Ich habe doch zu tun.«
»Er auch. Er hat schrecklich viel zu tun. Auch abends. Ich soll dir einen schönen Gruß bestellen.«
»Danke!«
Das war wirklich sehr, sehr mager. Dominik war tief betrübt.
»Ihr habt euch doch nicht etwa gestritten?«, forschte er.
»Nein, nein.«
Darauf wagte Nick nichts mehr zu sagen, und am nächsten Tag hatte er das Problem vergessen, denn Alexander und Denise kamen zurück, und sie fuhren alle zusammen gleich nach Schoeneich. Dr. Wolfram aber kam am Abend noch einmal, um nach Marco zu schauen. Dabei traf er mit Edith zusammen, die ihm buchstäblich in die Arme lief.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte er leise. »Meine Praxis ist sehr angewachsen.«
»Das ist doch erfreulich«, antwortete sie zurückhaltend.
»Haben Sie Zeit für einen kleinen Spaziergang?«, fragte er ohne Umschweife.
Wollte er ihr sagen, dass er sich anderweitig engagiert hatte? Sie überlegte, ob sie nicht besser ablehnen sollte, aber warum sollte sie den Tatsachen nicht ins Auge blicken?
Doch er sprach nicht von Christel Lufft, er sprach von ihr.
»Sie sind verändert, Edith«, meinte er bedauernd. »Habe ich irgendwie Ihr Vertrauen verscherzt?«
»Sie waren immer sehr nett zu mir, aber wir leben in zwei verschiedenen Welten«, erwiderte sie ausweichend.
»Wieso leben wir in veschiedenen Welten?«, fragte er überrascht. »Haben wir uns nicht immer gut verstanden?«
»Mir ist vieles durch den Kopf gegangen«, erwiderte sie beklommen. »Sie sind hier ein angesehener Arzt. Ich bin ein Mädchen mit einem unehelichen Kind.«
»Reden Sie doch nicht solchen Unsinn«, begehrte er auf. »Halten Sie mich plötzlich für so borniert? Hat Sie jemand gekränkt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt viele nette Mädchen, die nicht solch ein Manko haben«, entgegnete sie tapfer. »Sie dürfen nicht denken, dass ich mir etwas einbilde, weil Sie ein paarmal mit mir ausgegangen sind, Herr Doktor.«
»Herrgott, Mädchen, was ist denn in Sie gefahren?«, fragte er und ergriff ihre Hände.
»Sie ziehen doch nicht etwa falsche Schlüsse, weil ich eine Zeit lang nichts von mir hören ließ? Gut, ich gebe zu, dass ich über uns nachgedacht habe. Ich bin ein schwerfälliger Bursche, Edith. Ich habe mich gefragt, warum Sie nie über Petras Vater gesprochen haben. Haben Sie ihn sehr geliebt?«
»Spielt das jetzt noch eine Rolle?«, fragte sie leise. »Christel Lufft ist ein sehr hübsches Mädchen, und sie hat nicht so eine Vergangenheit wie ich.«
»Christel Lufft?«, antwortete er überrascht. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich habe Sie doch mit ihr gesehen«, entfuhr es ihr. »Sie haben mit ihr gelacht und waren ganz anders als sonst.«
»Du liebe Güte«, stöhnte er, »wenn wir gelacht haben, hatten wir auch Grund dazu. Sie müssen das Lachen ja erst wieder lernen, Sie Schäfchen. Was heißt schon Vergangenheit? Christel ist verlobt und in genau der gleichen Lage, wie Sie auch mal waren. Ihre Eltern wollten sie vor die Tür setzen, aber es ist mir glücklicherweise gelungen, die Dinge ins rechte Gleis zu bringen. Jetzt wird geheiratet, und sie ist glücklich.«
Jetzt wird geheiratet, hörte sie nur und dachte sich wunder was. Er sah es ihrem Gesicht an.
»Alle guten Geister, was denken Sie nun wieder?«, stöhnte er. »Ich habe doch mit ihr gar nichts zu tun. Sie hat einen sehr netten Verlobten, der gar nicht gewusst hat, in welche Schwierigkeiten er sie gebracht hat. Sie wollte nämlich nicht nur um des Kindes willen geheiratet werden. Hatten Sie die nicht auch einmal, Edith?«
Langsam begriff sie nun. »Nein, die hatte ich nicht«, erwiderte sie. »Ich wusste bald, dass ich von diesem Mann gar nichts zu erwarten hatte. Ich wollte auch gar nichts mehr mit ihm zu tun haben, als ich seine wahren Absichten durchschaute.«
Tränen drängten sich in ihre Augen. Behutsam legte er den Arm um ihre Schultern.
»Sprechen Sie sich doch einmal aus, Edith. Wir brauchen doch nicht aneinander vorbeizureden. Kind, ich möchte dir doch so gern helfen, den Weg in ein glücklicheres Leben zu finden, begreifst du das denn nicht? Aber dazu gehört vorbehaltloses Vertrauen.«
Er sagte du zu ihr und nahm sie in die Arme. Es war ein wunderschönes Gefühl, sich so geborgen fühlen zu können, aber sie wollte diesem Gefühl noch keinen Raum geben, nur von der Seele reden wollte sie sich wenigstens einmal alles.
»Er heißt Dieter Wolff«, begann sie stockend. »Er studierte Betriebswirtschaft. Sein Vater hat mehrere Geschäfte, und er ist der einzige Sohn. Er bekam bestimmt genügend Geld, aber nie kam er damit aus. Ich hatte von einer Tante ein paar tausend Euro geerbt und wollte damit eine Wohnung für uns einrichten. Er sprach immer vom Heiraten, aber erst wollte er mit dem Studium fertig werden. Ich war ja so dumm. Immer wieder lieh er sich Geld und sagte, dass ich es bald zurückbekommen würde. Immer sprach er davon, dass er mich seinen Eltern vorstellen wolle, aber jedes Mal kam etwas dazwischen. Und dann sagte er mir, dass seine Eltern gegen eine Heirat mit mir wären, weil sie ein anderes Mädchen im Auge hätten. Als ich ihm dann gestand, dass ich ein Kind erwartete, kam er nicht mehr. Meine Eltern setzten mich vor die Tür. Mein Vater ist Beamter, er konnte es sich nicht leisten, eine Tochter zu haben, die ein uneheliches Kind bekam.«
»Du lieber Gott«, flüsterte Bert Wolfram, »immer wieder die gleichen Probleme. Man kann es sich nicht leisten. Nun, Herr Lufft hat wenigstens eingesehen, wie dumm solche Vorurteile sind. Und du, Edith, was hast du dann getan?«
Er sagte noch immer du und verwundert blickte sie ihn an. »Verdammen Sie mich nicht, Herr Doktor?«, fragte sie stockend.
»Hast du nicht schon mal Bert zu mir gesagt?«, fragte er. »Dummes, kleines Mädchen, wir wollen den Tatsachen ins Auge sehen und sie gemeinsam bewältigen, wenn du ein bisschen Mut hast. Aber ich mag keine Frau, die mit einem Fuß noch in der unbewältigten Vergangenheit steht, und ich finde, dass auch du alles von mir wissen solltest, bevor wir an die Zukunft denken, Edith. Ich hatte eine große Liebe, sie blieb ohne Erfüllung.«
»Es ist Claudia, nicht wahr?«, flüsterte sie.
»Ja, es ist Claudia. Ich hatte immer gehofft, sie doch noch erobern zu können, aber es war zu spät. Nur ihretwegen kam ich hierher, aber dann fand ich dich, du warst genauso allein wie ich, und es ist ein Trost, wenn man einen Menschen findet, der in derselben Situation ist. Claudia ist glücklich geworden, damit habe ich mich abgefunden. Ich kann ihr heute begegnen, ohne Schmerz zu empfinden. Könntest du aber diesem Mann begegnen, ohne Groll zu empfinden, Edith?«
»Ich hasse diesen Mann«, antwortete sie.
Gedankenvoll sah er sie an. »Du bist einmal sehr enttäuscht worden, aber ist das ein Grund zum Hassen? Du warst gutgläubig, unerfahren, vertrauensvoll. Aber du liebtest ihn doch.«
»Das glaubte ich nur«, erwiderte sie heftig. »Ich war verblendet.«
»Du warst verzweifelt. Aber überleg einmal, ob du ihn nicht dennoch geheiratet hättest, wenn er sich nicht so schamlos gedrückt hätte. Sei ehrlich, Edith.«
»Nein, ich wollte es nicht«, antwortete sie leidenschaftlich. »Ich wollte es meinem Kind ersparen, einen solchen Vater zu haben, zumindest seinen Namen zu tragen. Denn Petras Vater ist und bleibt er ja«, schloss sie resigniert.
Seine Hände legten sich ganz fest um ihre Schultern. »Du wolltest ihn unter keinen Umständen mehr? Auch nicht, um dem Kind einen Namen zu geben?«
»Nein, ich wollte ihn nicht«, stieß sie hervor, »und wenn es mir noch so schlimm gehen würde, ich will ihn niemals wiedersehen. Warum quälen Sie mich damit?«
»Ich will dich nicht quälen. Ich will, dass du aufwachst und dir ganz klar wirst. Hast du Angst, ihn wiederzusehen? Nehmen wir an, er würde kommen und dich zurückholen?«
»Nein«, schrie sie auf. »Nie! Nie! Petra gehört mir. Ich habe sie damals nur weggegeben, damit sie nicht hungern sollte. Es ist mein Kind. Bitte, gehen Sie jetzt, Doktor Wolfram. Ich habe doch gesagt, dass wir in zwei verschiedenen Welten leben. Ich kann allein für Petra sorgen. Ich brauche keinen Mann dazu.«
»Wahrscheinlich habe ich es falsch gemacht«, bedauerte er. »Ich wollte dir klarmachen, dass wir uns eine gemeinsame Zukunft aufbauen können, wenn wir uns ganz von der Vergangenheit lösen. Noch gebe ich nicht auf. Vielleicht bin ich auch mit Komplexen behaftet, aber ich kann mir nicht vorstellen, mit einer Frau zu leben, die einen Groll mit sich herumträgt. Petra ist noch zu klein. Sie braucht niemals zu erfahren, wer ihr Vater ist und wie er war. Ich mag dich sehr, Edith. Denk daran. Und vergiss nicht, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn du dich von diesen Schatten befreit hast. Schau mich an. Ich meine es ehrlich.«
Sie sah ihn nicht an. Sie löste sich aus seinem Griff und lief wie gehetzt davon.
Er hielt sie nicht zurück. »Sie braucht Zeit«, dachte er. »Der Schatten, den sie überspringen muss, ist lang. Eines Tages wird sie kommen.« Er fühlte es.
*
Es war schön, in Schoeneich zu leben mit Mutti, Papi und den Geschwistern, fand Dominik. Ein bisschen komisch war es nur, wenn man die Kinder von Sophienlust in der Schule traf, und manchmal fühlte er sich versucht, in den roten Bus einzusteigen, wenn dieser mittags vor der Schule stand.
»Ich bin sehr gespannt, wann er verlangen wird, hinüberzufahren«, meinte Denise mit einem leisen Lächeln zu Alexander.
Aber Dominik blieb vorerst standhaft.
Er hatte eine kleine Familie gewollt, er hatte es nicht erwarten können, bis Denise und Alexander verheiratet waren, nun wollte er auch nicht so rasch zugeben, dass er doch etwas vermisste.
Andrea war nicht so standhaft. Sie wollte die Musik- und Zeichenstunden nicht versäumen.
»Wir brauchen jetzt doch nicht so zu tun, als gehörten wir nicht mehr dazu«, kritisierte sie. »Manchmal bist du komisch, Nick. Wozu ist denn die Straße gebaut worden? Doch, damit wir schnell hinüberkommen.«
»Ich langweile mich noch nicht«, erklärte er trotzig. »Ich finde es schön, wenn wir unsere Eltern für uns allein haben.«
Kopfschüttelnd sah sie ihn an. »Aber die haben wir doch für uns allein. Drüben macht doch alles Frau Rennert. Sophienlust und Schoeneich gehören doch zusammen. So haben wir es gesagt.«
»Sophienlust gehört mir«, erklärte er leicht herablassend.
Andrea sah ihn entsetzt an, und er wurde dunkelrot, als sie leise sagte: »Wir sagen doch auch nicht, dass Schoeneich uns gehört.«
Dominik schämte sich fürchterlich. »Sei nicht böse, so habe ich es gar nicht gemeint«, flüsterte er.
»Sag es nur nicht Mutti, sonst ist sie böse auf mich. Aber vielleicht ist sie auch traurig, wenn wir jetzt schon sagen, dass wir lieber in Sophienlust mit den anderen spielen wollen.«
»Warum sollte sie denn darüber traurig sein?«, fragte die unkomplizierte Andrea verwundert.
»Weil wir doch so gedrängelt haben, dass sie heiraten. Jetzt würde sie sicher denken, dass wir doch lieber eine große Familie haben wollen.«
»Was du so alles denkst, Nick«, wunderte sich Andrea. »Mach, was du willst, ich möchte heute zur Musikstunde. Sie lernen einen Kanon, das ist lustig.«
Dominik machte ungern Zugeständnisse. Natürlich wollte er auch nach Sophienlust, aber zugeben wollte er es nicht. Er kletterte zum Turmzimmer hinauf, von dem aus man hinübersetzen konnte.
Tief seufzte er auf. Alles konnte man eben nicht haben.
»Nick, Nick«, schallte es durch die Räume. »Wo steckst du denn?«
Dominik gab sich einen Ruck und ging hinunter.
»Willst du nicht mit nach Sophienlust fahren?«, fragte Denise ihn unbefangen.
»Ich kann heute gar nicht singen«, erwiderte er. »Ich bin heiser.«
»Du brauchst ja nicht zu singen. Du kannst ja zuhören.«
»Nach den Ponys müsste ich eigentlich mal schauen«, meinte er zögernd.
»Das denke ich auch«, lächelte Denise.
»Aber wer kümmert sich um Sentas Junge?«, fragte er.
»Ich bin ja auch noch da«, mischte sich Alexander schmunzelnd ein. »Außerdem ist Senta eine gute Mutter. Sie passt schon auf.«
»Ihr könntet ja auch hinüberreiten«, schlug Denise vor.
»Ganz allein?«, staunte er. »Du würdest es erlauben, Mutti?«
»Jetzt geht es noch. In ein paar Wochen kommt der Winter. Aber dann können wir mit dem Pferdeschlitten fahren.«
Seine Augen leuchteten auf. »Was wir alles können! Wir haben es doch wirklich sehr gut.«
»Wenn du es nur einsiehst und nie vergisst, dass es andere nicht so gut haben«, erwiderte sie.
Es war eine Riesenfreude, als sie drüben in Sophienlust ankamen. Die Kinder umringten sie und begrüßten sie, als kämen sie von einer Weltreise.
»Der arme Sascha«, dachte Dominik, »wenn er doch nicht auf das blöde Gymnasium gehen müsste, dann brauchte er nicht so viel zu lernen.« Aber dann weiteten sich seine Augen vor Erstaunen, denn Sascha kam über den Gutshof.
»Großpapa Wellentin hat mich mitgenommen«, sagte Sascha verlegen. »Wir haben schon zu Hause angerufen, dass ich hier bin.«
»Hast du gewusst, dass wir kommen?«, fragte Dominik neugierig.
Sascha zuckte die Schultern. »Wir waren schon vier Tage nicht mehr hier. Sie brauchen mich doch fürs Orchester.«
Dominik runzelte die Stirn. Er konnte weder singen noch ein Instrument spielen. Ihn brauchten sie eigentlich gar nicht.
»Vielleicht versuchst du es mal auf dem Klavier«, schlug Wolfgang Rennert vor, nachdem er Dominiks Ansinnen staunend zur Kenntnis genommen hatte.
Dominik betrachtete seine Hände. Waren sie nicht zu ungeschickt?
»Man muss sich etwas zutrauen und den guten Willen haben«, versicherte Wolfgang Rennert rasch.
Gedankenvoll sah ihn Dominik an. Ja, der Wolfgang Rennert traute sich jetzt auch etwas zu. Nicks kindlicher Verstand begriff halb unbewusst, dass ein Mensch an den Aufgaben wuchs, die ihm gestellt wurden. Wie schüchtern und unbeholfen war Wolfgang Rennert damals gewesen, als er nach Sophienlust gekommen war. Mitleid hatten alle mit ihm gehabt. Aber jetzt brauchte niemand mehr Mitleid mit ihm zu haben.
»Versuchen kann ich es ja mal«, stimmte Dominik zu.
»Du schaust erst mal zu, wenn Kati und Roli spielen«, meinte Wolfgang Rennert lächelnd, und Dominik nickte schüchtern.
So schwer sah es gar nicht aus. Aber die beiden spielten schon so hübsch vierhändig. Dominik war voller Bewunderung. Ob er das auch lernen würde?
Als Alexander und Denise mit der Kutsche kamen, um die Kinder abzuholen, stürzte ihnen Andrea entgegen.
»Mutti, Papi …«, rief sie atemlos, »Nick spielt Klavier. Hört nur mal, er kann schon ein paar Tonleitern. Er stellt sich ganz geschickt an. Warum hat er es denn nicht schon früher probiert?«
»Es braucht alles seine Zeit«, antwortete Denise mit mütterlichem Lächeln und dachte, alles muss langsam reifen, dann ist es beständiger. Auch mit Sophienlust war es so. Es war in guten Händen bei Frau Rennert und Frau Trenk, die gute Freundinnen geworden waren. Und wenn Edith eines Tages fortgehen wollte, konnte eine andere an ihre Stelle treten, denn kein Mensch war unersetzlich.
Stolz erhobenen Hauptes erschien Dominik und begrüßte seine Mutter mit strahlender Miene.
»Ich weiß jetzt, was ich werden will«, erklärte er. »Ich werde Pianist.«
Alexander und Denise blickten sich lächelnd in die Augen. Noch manchmal würde er seine Meinung ändern, dessen waren sie sich sicher.
Als sie heimwärts fuhren, sagte Andrea: »Für Marco müssen wir Eltern suchen, Mutti, oder wenigstens eine Mutti. Er redet nur von Odette und Oliver und glaubt ganz fest, dass seine Eltern auch noch leben und eines Tages kommen. Er tut mir leid.«
»Wir können es ja versuchen«, meinte Alexander von Schoenecker gedankenvoll. Aber sollte man das Schicksal herausfordern? Sollte man nicht alles der Zeit überlassen?
»In drei Wochen ist Dolly so weit, dass wir sie den Zwillingen bringen können«, unterbrach Dominik seine Gedanken.
»Fahren wir alle?«
»Warum eigentlich nicht?«, stimmte Alexander augenzwinkernd zu.
»Es ist zwar nicht gerade die beste Zeit zum Reisen …«
» … aber im Sommer kommen wir ja nicht dazu«, ergänzte Denise lächelnd.
Und Dominik bemerkte abschließend: »Die werden sich vielleicht freuen!«