Читать книгу Chronik von Eden - Ben B. Black, D.J. Franzen - Страница 22
Kapitel V - Flucht
ОглавлениеDie Kinder saßen im Halbkreis vor Martin, der einen Müsliriegel aß. Im Hintergrund rauschte und knisterte das Funkgerät. Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Draußen herrschten offenbar Krieg und Chaos. Wenn es hart auf hart käme, wären die Kinder für ihn schlimmstenfalls ein Klotz am Bein. Wie würde er reagieren, wenn es für ihn ums nackte Überleben ginge? Martin wusste darauf keine vernünftige Antwort. Zumindest ließen ihn die Kids in Ruhe essen, ohne ihn sofort mit Fragen, Gejammer und Tränen zu bestürmen.
Martin blickte auf und Tom begann ihm mit leiser Stimme die anderen vorzustellen. Ein blondes Mädchen mit einfältigen Gesichtszügen stellte Tom als Gabi vor. Sie kicherte und wurde rot, als Martin ihr mit prallen Wangen und gespielt fröhlich zublinzelte. Karl und Kurt waren eineiige Zwillinge. Tom erklärte ihm, das Karl stumm und Kurt taub sei.
»Wenn du Karl ansprichst, gibt er Kurt ein Zeichen, damit er dich ansieht und von deinen Lippen ablesen kann.«
Ritchie, einen verwachsenen Jungen in einem elektrischen Rollstuhl, nannte Tom The Brain.
»Die Idee, Maximilian an der Treppe aufzuhängen, stammt von ihm«, sagte er. Martin bemerkte mit Erstaunen in Toms Stimme einen Hauch von Heldenverehrung. Bisher hätte er Tom eher als Anführer der kleinen Gruppe eingeschätzt. Ritchie grinste und griff mit seiner verkrümmten Rechten an einen Hebel an seinem Rollstuhl. Ein kleiner Metallarm mit einem Kehlkopfmikrofon fuhr ihm vor das Gesicht.
»Und?«, schnarrte seine künstliche Stimme. »Hat es gewirkt?«
Martin spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. In einer verlegenen Geste zuckte er mit den Schultern und nickte leicht. Tom deutete auf die Letzte der Gruppe.
»Das ist Melanie. Sie ist die älteste von uns und Gabis Schwester. Sie ist taubstumm, kann aber von deinen Lippen lesen.«
»Okay. Und wie seid ihr hierher gekommen? Was ist passiert, während ich weg war?«, fragte Martin.
Die Kinder blickten sich an und er glaubte für einen Augenblick leise Stimmen zu hören. Aber da war nichts. Keines der Kinder bewegte die Lippen und doch ... es wirkte als würden sie stumme Zwiesprache halten. Einen Dialog, von dem er ausgeschlossen war. Dann verging der Moment, Ritchie nickte, und Tom wandte sich an Martin.
»Vor ein paar Wochen gab es im Fernsehen die ersten Berichte über eine Art Supergrippe.«
Martin winkte Toms Worte ab.
»Das habe ich mitbekommen. Niemand wollte es zugeben, aber dieses Virus mutierte fröhlich weiter und war gegen alle Versuche es zu bekämpfen immun.«
Das Mikrofon fuhr vor Ritchies Hals.
»Ja. Und während die großen Anführer und Lobbyisten sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schoben, ging so richtig die Post ab«, schnarrte seine künstliche Stimme. »Paris, Genf, Zürich, München ... ist eine ziemlich lange Liste mit Totalverlusten geworden.«
Ein schiefes Grinsen verzerrte Ritchies Gesicht noch mehr. Martin vermutete, dass man so wurde, wenn man ständig von der Gnade anderer abhängig war. Trotzdem, einem Kind stand so viel Sarkasmus nicht zu, fand er. Er wandte sich wieder an Tom.
»Das weiß ich alles. Was mich interessiert, ist, was in der Zeit passiert ist, in der ich weg war.«
»Erst wurden die Leute einfach nur krank und starben. Dann kamen SIE«, antwortete Tom.
»SIE? Das sind die ... Knirscher, stimmts?«
Tom nickte. Für einen Augenblick kamen ihm die Worte von Declan Smith in den Sinn. Über die Gerüchte, dass die Toten der Seuche als Zombies wieder auferstehen würden. Aber das konnte nichts anderes sein als die typischen Anzeichen einer Massenhysterie. Martin schob den Gedanken beiseite. Panik und Hysterie waren ganz schlechte Ratgeber, wenn man in der Scheiße saß.
»Wie kam ich hierher?«
»Die Soldaten haben hier ein notdürftiges Krankenhaus eingerichtet. Wann du gekommen bist, weiß keiner von uns. Wir durften unsere Zimmer nicht mehr verlassen. Dann ging da oben plötzlich alles drunter und drüber. Die Soldaten und Ärzte haben sich gegenseitig angeschrien. Dann haben sie sich geprügelt. Einer der Soldaten hat uns hier unten versteckt. Oben wurde plötzlich geschossen und ...« Tom stockte. Martin konnte sich vorstellen, was in dem Jungen vorging. Schließlich holte Tom zitternd Luft und fuhr in seinem Bericht fort. »Wir warteten, bis es ruhiger wurde. Dann sind wir hoch. Kurt, Karl und ich haben dich gefunden. Du warst außer uns der letzte Lebende hier. Wir haben dann jeden Tag nach dir gesehen.«
Toms Lippen bildeten einen blutleeren Strich in seinem blassen Gesicht. Martin glaubte er wolle noch viel mehr sagen, aber der Junge schwieg. Martin versuchte irgendwie einen Sinn hinter den Schleier der vergangenen Tage zu bringen, die er bewusstlos in seinem Zimmer gelegen hatte. Die Kinder standen unter Schock. Kein Wunder, denn selbst für ihn war das Ausmaß dieser Katastrophe nicht endgültig erfassbar. Dann war da noch die Frage, warum man ihn hierhin verschleppt hatte.
Martin schaute seufzend auf. Hier würde er keine Antworten finden. Die Kinder beobachteten ihn schweigend und warteten. Er seufzte erneut und schüttelte den Kopf. Bisher hatten sie sich gut gehalten. Aber sie könnten nicht ewig hier unten hocken. Martin stand ächzend vom Boden auf und ging an den Tisch mit dem Funkgerät.
»Was hast du vor?«
Martin drehte sich um und sah einen der Zwillingsbrüder direkt hinter ihm stehen.
»Wir können nicht ewig hier unten hocken und hoffen, dass sich da oben alles von alleine klärt oder ein himmlischer Retter in unserer Mitte erscheint.«
Der Junge sah ihn zweifelnd an, sagte aber nichts mehr.
»Habt ihr eine bessere Idee?«
»Warum bist du nicht krank?«, schnarrte Ritchie.
»Bitte?«
»Hast du wirklich nichts mitbekommen? Hier war ein Spezialist der Armee. Ein Colonel der Einsatzkräfte, den alle mit Doc ansprachen obwohl er unter seinem Kittel eine Uniform trug. Er hat uns alle ständig untersuchen lassen. Wir bekamen dauernd Spritzen, wurden untersucht ... und dir hat er sogar eine richtige Dröhnung verabreichen lassen. Neben dem Zeug, was du sonst noch nimmst.«
Am liebsten hätte Martin dem verwachsenen Zwerg das Grinsen aus dem Gesicht gehämmert. Woher wussten die Kids von seinem ... speziellen Problem und der Lösung, die er dafür gefunden hatte? Martin beschloss Letzteres einfach im Raum stehen zu lassen. Besser keine schlafenden Hunde wecken. Er atmete tief durch.
»Wie kommst du denn darauf, das mir irgendwas gefährliches injiziert wurde? Ich denke, ihr durftet euer Zimmer nicht verlassen?«
Melanie, Gabis taubstumme Schwester, griff hinter sich und holte einen Injektionsbeutel hervor. Martin sah das Biohazard-Zeichen, das Behälter mit gefährlichen Viren oder Bakterien kennzeichnete.
»Das haben wir in deinem Zimmer gefunden«, sagte Tom. Seine Stimme klang kläglich. Martin schluckte und dachte an die Stimmen.
»Habt ihr das Zeug auch bekommen?«
»Ja.«
»Und? Seid ihr krank geworden?«
Die Kinder schüttelten den Kopf.
»Na also. Alles halb so schlimm. Oder? War bestimmt eines der Gegenmittel für die Seuche.«
Die Kinder sahen skeptisch drein. Für einen Moment fragte Martin sich, warum auch die angeblich Tauben ihn so gut zu verstehen schienen. War es so leicht, von den Lippen abzulesen, selbst wenn der Sprecher –
Eine Stimme aus den Lautsprechern der Funkanlage unterbrach seinen Gedankengang.
»Hier Einheit Sieben an Basis Bonn. Kommen.«
»Basis Bonn hört.«
»Einheit Sieben. Wir sind am ehemaligen Hauptquartier Köln. Das Gebäude ist voll von ihnen. Kein Zutritt möglich, wiederhole, kein Zutritt möglich. Wenn es dort Überlebende gibt, kommen wir nicht an sie heran und sie nicht zu uns.«
Während die Stimme von Einheit Sieben flüsterte, rauschte im Hintergrund wieder dieses verrückte Geräusch. Ein hundertfaches Mahlen und Knirschen, Rascheln und Nöhlen. Es klang, als wäre der Funker der Einheit in einen riesigen Ameisenbau geraten. Eine Gänsehaut lief Martin über den Rücken. Er drehte sich um und hastete an das Funkgerät.
»Einheit Sieben. Bitte wiederholen Sie.«
»Einheit Sieben hier. Ich wiederhole, das Gebäude ist voll mit ihnen. Wir können es nicht betreten. Es sind zu viele. Colonel Wright und seine Männer müssen als Totalverlust angesehen werden.«
»Verstanden, Einheit sieben. Bleiben Sie bedeckt und warten Sie auf weitere Befehle.«
Martin versuchte herauszufinden wo der verdammte Sendeknopf war. Er kannte nur die alten Anlagen, in denen man noch in ein Mikrofon mit Standfuß und Knopf sprach. Und was gab es hier? Ein gottverdammtes Headset aber nirgends einen Sendeknopf! Eine befehlsgewohnte Stimme erklang.
»Einheit Sieben, hier spricht Major Mainhardt im Auftrag von Général Dupont. Sofortiger Rückzug. Ich wiederhole: Sofortiger Rückzug. Die geplante Sterilisation des Bezirks dreiunddreißig beginnt in dreißig Minuten.«
»Sir?«
»Achten Sie auf den Mindestsicherheitsabstand von fünf Meilen.«
Feiner Schweiß perlte über Martins Oberlippe. General Dupont? Baguette und Gauloises? Geplante Sterilisation? Was wurde da gespielt? Was bedeutete das Wort Sterilisation, wenn ein General ... Ein Bild schob sich vor seine Gedanken. Ein Verdacht schwoll in ihm an. Mit zitternden Fingern griff er nach dem Headset. Wenn er die anderen hören konnte, würde man ihn doch auch empfangen, oder?
»Hallo? Hört mich jemand? Wir sind hier unten. Jemand muss uns rausholen. Hallo?«
»Hier Einheit Sieben. Befehl verstanden Sir. Wir ziehen uns zurück.«
Martin schlug mit der flachen Hand gegen das Funkgerät.
»Hallo? Verdammt, hört mich jemand?«
Nur das monotone Rauschen der leeren Frequenz antwortete ihm. Großflächige Sterilisation ... Was hatte dieser General vor? Martin wollte erneut um Hilfe funken, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Auf Martins Stirn brach kalter Schweiß aus. Wie säuberte man ein Gebiet, das mit Bakterien oder Viren verseucht war?
Mit Feuer.
Mit sehr viel Feuer.
Mit blassem Gesicht drehte er sich zu den Kindern um. Gabi wimmerte leise in den Armen ihrer Schwester. Karl, Kurt und Tom starrten sich mit bleichen Gesichtern an. Ritchie hatte sein Gesicht an die Decke des Gewölbes gewandt, als könnte er alleine Kraft seines Willens den Stein mit seinem Blick durchdringen. Langsam senkte er den Blick. Ein sarkastisches Grinsen verzerrte sein Gesicht.
»Leute. Ich glaube wir haben ein Problem.«
*
Martin und die Kinder hasteten durch einen der Gänge, die von dem unterirdischen Dom wegführten. Ritchie, der an der Spitze der Gruppe die Geschwindigkeit vorgab, spielte den Reiseführer.
»Wir sind hier unter der ehemaligen Toilettenanlage des Westflügels der Hochschule. Hier wurden früher die Abwässer abgeleitet. Je würziger also die Luft riecht, umso näher kommen wir an das Ende des alten Kacketunnels.«
Martin verzog in einer Mischung aus Schmerz und Abscheu das Gesicht. Konnte der neunmalkluge Zwerg da vorne nicht einmal die Klappe halten? Die Seitenstiche kehrten mit brutaler Gewalt zurück, und Martin stöhnte unterdrückt auf. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Beine brannten, als würde er durch ein Meer aus brennendem Kerosin waten. Erschöpft blieb er stehen und stützte sich an einer der Wände ab. Tom leuchtete ihm mit einer der mitgenommenen Taschenlampen ins Gesicht.
»Alles in Ordnung?«
»Ich brauche eine Pause.«
»Wir sind gleich da.«
»Wohin führt der Weg?«
»Immer weiter geradeaus. Der Tunnel macht nur einen leichten Bogen.«
Martin nickte Tom zu.
»Dann geht vor. Ich komme nach.«
Tom blickte Martin zweifelnd an. Schließlich gab er ihm die schwere Maglite und rannte hinter seinen Freunden her, die schon ein ganzes Stück weiter gegangen waren. Martin lehnte sich schwer atmend mit dem Rücken gegen Wand.
Karins Gesicht schob sich vor sein geistiges Auge. Irgendwo in seinem Kopf erklang ihre spöttische Stimme. Martin Martinsen, Retter von Witwen und Waisen.
Ein heiseres Lachen floh aus seinem Mund. Bisher hatte er sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Es waren eher die Kinder, die ihn aus der Scheiße zogen. Wohin würden sie ihn führen? Was kam dann? Was sollte er mit einer Horde behinderter Kinder anfangen? Ritchie ging ihm schon jetzt tierisch auf die Nerven. Gabi war ganz offensichtlich nicht ganz klar in der Murmel, und auch der Rest der Truppe war nicht unbedingt seine erste Wahl an Gefährten, für eine Flucht durch unbekanntes Gebiet. Ein metallisches Kreischen und Toms Stimme holten Martin zurück in die Gegenwart.
»Martin?«
Was sollte er tun?
»Martin? Alles in Ordnung?«
Was, wenn er genau wie bei Karin, wieder versagen würde? Schritte kamen näher. Ein Lichtstrahl kam aus dem dunklen Ende des Tunnels auf ihn zu. Martin bemerkte, dass er unbewusst in Tränen ausgebrochen war. Schnell wischte er sie sich aus dem Gesicht und stellte fest, dass er auf dem Boden saß. Hastig richtete er sich auf und stieß sich fast den Kopf an der niedrigen Decke des Tunnels. Toms Gestalt wuchs aus dem Dunkel heraus.
»Martin?«
Seine Muskeln spannten sich. Er atmete tief durch.
»Ich bin hier.«
Seine Stimme zitterte. Aus dem Schatten wurde Tom.
»Alles okay, Martin? Die Tür ist auf. Wir müssen nur noch durch den Gerätekeller, dann können wir versuchen auf den Parkplatz zu gelangen.« Tom runzelte die Stirn und blickte Martin ins Gesicht. »Ist wirklich alles Okay mit dir?«
Martin nickte.
»Ich musste nur gerade an jemand besonderes denken.«
Tom blickte Martin fragend an.
»Meine Verlobte. Ist schon lange tot.« Martin zuckte mit den Schultern und deutete auf den vor ihnen liegenden Weg. »Komm jetzt. Die Zeit wird knapp.«
Tom drehte sich um und hastete zurück. Martin folgte ihm in den Tunnel. Und hoffte auf ein Licht an seinem Ende.
*
Kurze Zeit später starrte Martin auf die graue Metalltür, die den Gerätekeller des Internats vom Tunnel trennte. Die Tür wirkte nur leicht eingebeult. Aber das Schloss und die zugehörige Aussparung im Rahmen, hingen verbogen im grellen Licht der Taschenlampe. Sollten die Kinder gemeinsam soviel Kraft entwickelt haben? Aber wie hatten sie das Schloss derartig zerstören können? Das Knirschen war hier wieder intensiver geworden. Auf subtile Art erinnerte es Martin daran, dass sie nicht gerade ein Vermögen an Zeit auf ihrem Guthabenkonto hatten. Martin riss sich von dem merkwürdigen Anblick los. Vom anderen Ende des Kellers erklang Ritchies Stimme.
»Schön, dass ihr Turteltauben zu uns stoßen konntet.«
Martin beschloss bei nächster Gelegenheit dem Zwerg die Batterie für sein Mikro zu klauen. Er lief durch die Schatten der eingelagerten Geräte auf den Jungen im Rollstuhl zu. Von den anderen war nichts zu sehen und Martin sah auch schnell den Grund dafür.
Ritchie stand mit seinem schweren Gefährt vor einer in die Wand eingelassenen Eisenleiter. Martin schaute hoch und sah im Licht seiner Taschenlampe, dass sie in einem senkrechten Schacht nach oben führte. Verwundert schaute er zu Ritchie.
»Für mich ist hier Endstation«, schnarrte die Stimme des Jungen.
»Gibt es keinen anderen Weg?«
»Nein«, warf Tom ein. »Der Schacht führt direkt zu einem Parkplatz. Dort steht noch unser Schulbus, mit dem wir hierher gebracht wurden. Der einzige andere Weg ist der alte Lastenaufzug dort drüben. Aber der führt direkt ins Auditorium.«
Das Geräusch, dass laut Tom von den Knirschern ausging, hallte nervenaufreibend den Schacht herunter.
Also gut.
Keine Fahrt im Aufzug.
Martin schluckte und sah sich suchend um. Hier musste es doch etwas geben, das er für seine Zwecke nutzen konnte. An der Wand stand eine Bühnendekoration, auf die ein Wald gemalt war. Davor standen mehrere schwere Geräte, die Martin unter ihren staubigen Planen nicht erkennen konnte. Unter einer der Planen schaute ein langes Stromkabel hervor. Martin wandte sich an Tom.
»Wo steht der Bus?«
»Was hast du vor?«
»Wo steht der Bus?«, wiederholte Martin seine Frage.
»Wenn du oben ankommst, musst du dich nach links halten. Direkt auf einen Blumenkübel zu. Dahinter beginnt der eigentliche Parkplatz. An der Ecke des Gebäudes steht der Bus. Jedenfalls, wenn die Soldaten ihn nicht weggefahren haben.«
Martin drückte Tom die Taschenlampe in die Hand.
»Schaffst du die Leiter?«
»Ich habe zwar nur einen gesunden Arm, aber ja. Ich schaffe das.«
»Gut. Du gehst vor und sagst den anderen Bescheid. Wenn ich in zehn Minuten nicht da bin, versucht irgendwie von hier wegzukommen. Haltet euch nicht damit auf, den Bus zu starten, sondern lauft.«
»Martin. Was hast du vor?«
»Ja. Das würde ich auch gerne wissen«, schnarrte Ritchie. Martin deutete auf Ritchie.
»Du bist ruhig. Und du«, er zeigte auf Tom. »Du machst dich jetzt auf den Weg. Die Zeit rast. Lauft um euer Leben. Weg von der Innenstadt. Schaut nicht zurück. Wenn ihr irgendwo einen Unterschlupf findet, den ihr richtig dicht machen könnt, dann versteckt euch dort. Aber keine Holzscheune. Hörst du? Es muss ein Gebäude aus Stein sein, dass weit genug weg ist. Und haltet euch von den Fenstern fern.«
Martin ging zu der Ecke, in der das Kabel lag.
»Martin?«
»Was ist? Todessehnsucht?«
Er sah wie Tom Luft holte und zum Reden ansetzte. Aber dann sanken seine Schultern herab und er umarmte Ritchie. Ein letzter Blick zu Martin und er klemmte sich die schwere Taschenlampe in seinen Hosenbund. Vorsichtig begann Tom den Aufstieg. Martin holte das Kabel unter der Plane hervor und stellte sich vor Ritchie. In seiner Hand schwang das Stromkabel, wie das dunkle Seil eines Henkers.
»Was hast du vor?«, fragte Ritchie schnarrend.
Martin grinste und zog das Kehlkopfmikrofon vom Hals des Jungen weg. Dann riss er es mit einem Ruck vom Metallarm des Rollstuhls.
»Weißt du Ritchie, ich kenne dich erst eine knappe Stunde. Aber das hier ...« Er blickte mit einem breiten Grinsen auf die Sprechhilfe in seiner Hand. »Das war mir jetzt ein ehrliches Bedürfnis.«
*
Wenige Minuten später hing Martin in dem nach oben führenden Schacht. Die Zeit verlor für ihn jeden Bezug zur Wirklichkeit. Sie war nur noch ein abstrakter Gedanke zwischen zwei keuchenden Atemzügen. Die Geräusche der Knirscher verloren ihren bedrohlichen Klang und stumpften zum gleichgültigen Rauschen eines weit entfernten Meeres ab. Seine Welt bestand nur noch aus zwei Bezugspunkten.
Die nächste Sprosse.
Der nächste Klimmzug.
Schwer atmend klammerte er sich an das kalte Metall der Leiter und schaute hoch. War der Eingang zum Schacht näher gerückt? Ja. Nicht viel, aber immerhin. Vielleicht noch vierzig Sprossen, dann wäre die Tortour überstanden. Das abgerissene Stromkabel biss sich in das Fleisch seiner Schultern.
»Alles okay, Ritchie?«
Seine Stimme ein atemloses Krächzen. Eine zierliche Hand klopfte schwach an seine Hüfte.
»Gut. Bleib locker. Wir haben es gleich geschafft.«
Martin holte zitternd Luft und griff nach der nächsten Sprosse.
Neununddreißig.
*
Tom, Karl und Kurt starrten aus den Fenstern des Busses auf den Parkplatz. Das helle Licht der Laternen hielt die Knirscher zurück. Doch in den Schatten zwischen den Büschen konnten die Kinder ihr unablässiges Huschen und Wuseln sehen. Tom wandte sich ab.
»Sie werden es nicht schaffen. Wir müssen ihnen helfen.«
Kurt wandte sich verwundert an Tom.
»Wie das? Wir sind nicht vollzählig.«
»Es muss auch so gehen. Du, Karl, Mel und Gabi. Ihr versucht Martin und Ritchie zu helfen. Ich werde mich um den Bus kümmern.«
»Das schaffst du nicht. Das hat noch keiner von uns ohne die gesamte Gruppe geschafft.«
Tom zuckte mit den Schultern.
»Wie würde Ritchie jetzt sagen? Wir haben auch noch nie bis zum Hals in der Scheiße gesteckt.«
Kurt nickte und ging zu den anderen. Tom setzte sich hinter das Steuer des Busses und schloss die Augen. Kurt, Karl, Melanie und Gabi setzen sich auf den Boden im Fahrgastraum und gaben sich die Hände. Auch sie schlossen ihre Augen.
Zuerst rührte sich nichts. Doch dann veränderte sich die Atmosphäre um die Kinder. Das Licht der Straßenlaternen wurde dumpfer, die Geräusche der Knirscher gedämpfter. Die Wirklichkeit verdichtete sich zu einem Ball aus kritischer Masse.
Und etwas Unfassbares griff nach ihren Freunden im Schacht.
*
Martin zitterte am ganzen Körper. Wie lange kletterte er schon mit seinem lebenden Gepäck diesen verdammten Schacht hoch? Wie lange noch, bis der Befehl des Generals alles in ein Feuer tauchen würde, gegen dass die Fegefeuer sämtlicher Höllen wie ein Samstagnachmittagsbarbecue in Nachbars Garten wirkten? Seine Beine gehörten nicht mehr ihm selber, seine Schultern waren zwei taube Anhängsel eines fremden Körpers. Erschöpft schloss er die Augen und lehnte seine Stirn gegen eine Sprosse. Ein Bild schob sich vor sein Denken.
Luke Skywalker, sein Lieblingsheld aus der Star Wars Saga, wie er mit seinem Jedi-Meister auf dem Rücken durch einen Dschungel turnte. Unbekümmert schlug er Salti, landete auf seinen Füßen und rannte weiter, während Meister Joda auf seinem Rücken weise Sprüche abließ.
Ein Kichern rollte Martins Brust hoch, verdrängte die Angst und den Schmerz.
Oh ja! Möge die Macht mit mir sein.
Aus dem Kichern wurde ein unterdrücktes Lachen. Ritchies Hand klopfte drängend gegen seine Hüfte.
Schon gut, Meister Joda. Ich werde die Prüfung mit Bravour bestehen.
Martin versuchte diese kindischen Gedanken zu verdrängen, sich wieder auf das vor ihm Liegende zu konzentrieren. Doch wenn König Lachen bei ihm anklopfte, konnte er nicht widerstehen. Er musste ihm einfach die Tür öffnen. Immer wieder sah er diese alte Filmszene vor seinem geistigen Auge, und allmählich wurde aus der Filmkulisse eines Dschungels ein dunkler Schacht. Das Gesicht Luke Skywalkers veränderte sich und bekam seine Gesichtszüge. Aus der Puppe auf seinem Rücken wurde die verkrümmte Gestalt Ritchies.
Martins Schultern zuckten unkontrolliert.
Martin Martinsen.
Jedi-Meister im Dienste seiner Majestät.
Karin wäre von ihm begeistert gewesen.
Das Gefühl, durch das Lachen eine geheime Kraftreserve in seinem Inneren geöffnet zu haben, durchströmte ihn. Immer noch dieses Lachen im Gesicht hob er den Blick.
Zwanzig Sprossen?
Lächerlich, für einen Meister der Macht.
Martin holte tief Luft, zog sich hoch und glaubte plötzlich zu fliegen.
*
Tom saß mit geschlossenen Augen auf dem viel zu großen Fahrersitz des Busses. Seine Augen rollten hinter den geschlossenen Lidern. Seine Finger zuckten. Feiner Schweiß perlte auf seiner Stirn. Hinter ihm ertönte ein leises Stöhnen. Ein sanfter Druck gegen seinen Rücken, dann erklang ein leises Plumpsen.
Tom widerstand dem Drang die Augen zu öffnen und sich nach seinen Freunden umzusehen. Ein Zucken durchfuhr ihn. Er runzelte die Stirn und der Motor des Busses erwachte rumpelnd zum Leben. Aufseufzend ließ er sich in den Sitz zurückfallen. Dann rutschte er soweit wie möglich nach vorne und versuchte mit seinen Füßen die Pedale zu erreichen. Wie ging das noch mal? Er rief sich das Bild des Soldaten in Erinnerung, der sie hierher gebracht hatte. Wie er in seiner grauen Uniform hinter dem Steuer dieses Ungetüms saß und das Fahrzeug scheinbar mühelos durch den Verkehr führte.
Kupplung treten, Gang einlegen, Gas geben und Kupplung kommen lassen. Tom blickte auf und atmete tief durch. Na, das konnte ja auch mit anderthalb gesunden Armen nicht so schwer sein. Mit einem gewaltigen Ruck setzte sich der Bus in Bewegung.
*
Martin lag bäuchlings halb im Schacht und halb draußen. Es goss wie aus Eimern. Seine Finger suchten auf dem nassen Asphalt nach einem Halt. Er schwang sein rechtes Bein hoch, und durch den Ruck rutschte er soweit aus dem Schacht, dass er sich endgültig herausziehen konnte. Keuchend ließ er seinen Kopf auf den Boden sinken. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Turnschuhe und die weißen Socken, die er aus seinem Zimmer in dem offenen Krankenwagen bemerkt hatte, in die Schatten eines Gebüschs gezogen wurden.
Ein rumpelndes Geräusch ließ den Boden unter seiner Wange erzittern und verdrängte die Frage, die sich in seinem Denken formte. Alarmiert, aber zu erschöpft, um angemessen zu reagieren, drehte er den Kopf und sah einen gigantischen schwarzen Reifen auf sein Gesicht zuhalten. Martin kniff die Augen zu. Ein schrilles Aufkreischen, dicht gefolgt vom erschöpften Schnaufen einer Luftdruckbremse, hallte über den Parkplatz. Vorsichtig blinzelte Martin durch ein halb geöffnetes Auge. Der Reifen stand etwa eine handbreit von seinem Gesicht entfernt. Die Rillen des Reifenprofils waren tiefe Täler.
»Martin? Alles in Ordnung?«
Toms Stimme.
»Ja«, brummte Martin in den Asphalt. »Was habe ich dir gesagt? Du sollst den Bus in Ruhe lassen, verdammt noch mal.«
Tom murmelte etwas Unverständliches. Martin holte tief Luft und versuchte im Liegen den Knoten für das behelfsmäßige Geschirr auf seiner Brust zu lösen. Es klappte und er drehte sich sacht zur Seite. Vorsichtig ließ er Ritchie von seinem Rücken auf den Asphalt rollen. Dann stand er schwankend auf. Hier draußen klang das Knirschen und Knistern in seinem Kopf, als würde er in einer riesigen Bratpfanne stehen. Dazu kam unablässiges ein Stöhnen, das in ihm eine kreatürliche Angst auslöste.
Was zur Hölle war das?
»Fass mit an. Wir müssen Ritchie in den Bus bekommen und dann nichts wie weg hier.«
Tom griff nach Ritchies Beinen. Martin sah Tränen in den Augen des verwachsenen Jungen schimmern.
»Hast du etwa geglaubt, nur weil du nervst, würde ich dich zurücklassen?«, fragte er. Ritchie nickte leicht. Tom und Martin ächzten, als sie Ritchie über die Stufen in den Innenraum trugen. Vorsichtig legten sie ihn neben die anderen Kinder, die Martin mit erschöpftem Blick anschauten. Unsicher erhob er sich und wankte zum Fahrersitz.
»Bleibt da unten. Ich hab keine Ahnung, wo´s langgeht. Aber es dürfte ein verdammt heißer Ritt werden.«
*
Martin reagierte nur noch auf der Ebene eines vererbten Instinktes, der schon seine Urahnen zu Zeiten des Säbelzahntigers am Leben erhalten hatte. Der Gedanke an Flucht tobte übermächtig durch sein Denken und peitschte Adrenalin durch seinen erschöpften Körper. Er wollte weg. Raus aus diesem Albtraum, weg von dem Feuer, das bald vom Himmel regnen würde.
Aber wohin?
Hinweisschilder, Autowracks und verlassene Häuser flogen vorbei. Ein Huschen im Augenwinkel. Weiter vorne sah Martin im Licht der Scheinwerfer eine T-Kreuzung und ein weiteres Schild. Die Dürener Straße? Die führte doch stadtauswärts, oder? Martin bremste den Bus brutal ab und zog ihn nach rechts. Das große Fahrzeug neigte sich bedenklich. Ausrufe der Angst hinter ihm. Dann fiel der Bus mit einem harten Ruck zurück in die Waagerechte. Martin grinste schwach vor sich hin. Die Kurve hatte er wortwörtlich gekratzt. Sein Blick verschwamm allmählich. Die Anstrengung der letzten Minuten hatten ihm auch die letzten Kraftreserven abverlangt. Seine Augenlider flatterten. Er hob den Arm und hieb sich die Faust auf den Schenkel. Zwecklos. Er war längst über den Punkt hinaus, an dem er noch so etwas wie Schmerz empfinden könnte. Wie weit waren sie schon gekommen? Reichte der Abstand? Schwankend hob er den Blick und sah in den Rückspiegel. Ein Schatten huschte über den verregneten Himmel.
»Scheiße«, fiel Martin ein atemloser Fluch wie ein abgebrochenes Stück Zahn aus dem Mund.
Dann öffnete die Hölle ihre Pforten.
Ein Blitz zeriss den regengrauen Himmel. Er erbrach mit einem dumpfen Grollen einen Schwall aus flüssigem Feuer. Eine gigantische Druckwelle raste vor der brennenden Wand her. Bäume zerplatzten unter der Wucht und brannten in Sekundenschnelle ab, Fenster explodierten und Martin sah im Rückspiegel eine menschliche Gestalt, die in von den Flammen überrollt wurde. Er konnte den Blick nicht vom Rückspiegel wenden. Ein unmenschlicher Laut der Angst kroch in Martins Hals hoch. Ein Schlag riss ihm das Lenkrad aus den Händen. Der Bus neigte sich zur Seite. Die Kinder schrien auf. Die ersten Ausläufer der Druckwelle erreichten den Bus. Die Welt war nur noch ein heißes Fauchen, die Realität kippte. Mit einem lauten Krachen und dem hellen Geräusch von splitterndem Glas fiel der Bus auf die Seite. Funkensprühend rutschte er über den Asphalt. Aus dem Grollen wurde ein Fauchen. Der Bus rutschte unaufhaltsam weiter. Martin lag auf der Seite und sah den Pfeiler einer Brücke auf sie zurasen. Etwas saugte ihm die Atemluft aus den Lungen. Die Schreie der Kinder verblassten.
Zu langsam, schoss es Martin durch den Kopf. Ich war zu langsam und habe wieder versagt.
Ein heftiger Stoß erschütterte den Bus.
Dann Dunkelheit.