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Kapitel VI - Ritchies Traum

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Ein leises Weinen im Dunkeln. Ein Bezugspunkt im Nichts. Martin konzentrierte sich darauf, zog sich an diesem Geräusch zurück in die Realität, heraus aus der Finsternis der Bewusstlosigkeit.

»Er ist bestimmt tot. T-O-T. So buchstabiert man das.«

Gabi?

»Nein. Er ist nicht tot, er schläft.«

Tom?

»Aber warum höre ich seinen Kopf nicht? Ich kann doch sonst seinen Kopf hören. Aber da ist nichts. N-I-C-”

»Gabi. Bitte.«

Trotz der Schmerzen und des allumfassenden Gefühls der Erschöpfung stahl sich ein Lächeln in Martins Mundwinkel. Die Kinder. Sie lebten. Sie hatten die Hölle überlebt. Waren alle unverletzt? Er musste aufstehen und nach ihnen sehen. Keine Zeit zum Ausruhen. Eine Hand auf seiner Brust hielt ihn zurück, bevor er den Gedanken in die Tat umsetzen konnte.

»Nein Martin, du musst nichts«, sagte Tom.

Hatte er laut gesprochen?

»Er lebt, er lebt. Martin lebt. L-E-B-T.«

Eine Hand tastete unbeholfen nach seiner Wange. Martin öffnete die Augen zu schmalen Schlitzen und sah Gabis rundliches Gesicht nah an seinem. Ihre Augen strahlten und Martin bemerkte Tränenspuren auf ihren Wangen. Sie wurde knallrot, als sie Martins Blick bemerkte. Ihre Hand zuckte zurück, als wäre Martin eine giftige Schlange. Er lächelte leicht und griff nach ihrer Hand.

»Hallo Gabi.«

Sie zog ihre Hand aus seinem Griff und schaute ihn mit einem Blick an, den er als erschrockenes Misstrauen deutete. Martin ließ es auf sich beruhen und drehte den Kopf zur Seite.

»He Tom. Alles klar? Wie geht es den anderen?«

»Alle sind soweit wohlauf. Ritchie hat sich ordentlich den Kopf angeschlagen. Aber ich glaube, er ist wieder fit.«

Martin bemerkte, dass er aus einem Seitenfenster den Himmel sehen konnte, obwohl er auf dem Rücken lag. Die Morgendämmerung zeichnete sich schwach zwischen dichten Wolken dunklen Rauchs ab. Tom bemerkte Martins fragenden Blick.

»Ich weiß nicht wie, aber du hast den Bus zur Seite gekippt. Wir liegen mit dem Boden des Busses in Richtung Stadt. Das hat uns offenbar das Leben gerettet, weil er die Hitze soweit abgehalten hat.«

»Keiner hat Verbrennungen?«

»Nein. Es ist trotzdem ziemlich heiß geworden. Ich glaube, die Reifen unseres Busses sind angeschmolzen.«

Martin pfiff leise.

»Dann haben wir verdammtes Glück gehabt.«

Tom blickte ihn zweifelnd an.

»Bist du sicher?«

Martin nickte.

»Ich weiß, was du meinst. Hätten die einen atomaren Sprengsatz gezündet, wären wir jetzt ein Häufchen qualmende Schlacke.«

Tom nickte beruhigt und wandte sich ab. Die Gesichter von Karl und Kurt schoben sich in Martins Blickfeld. Beide hatten die Mienen von Ringrichtern, die sich über den geschlagenen Champion beugten, um ihn auszuzählen. Sie schauten sich kurz an. Karl nickte heftig und Kurt wandte sich an Martin.

»Also, Martin. Mein Bruder und ich sind uns einig. Egal wo es jetzt hingeht, du solltest ab sofort kein motorisiertes Fahrzeug mehr anfassen.«

Martin schloss seufzend die Augen.

Diese kleinen Klugscheißer.

Dann richtete er sich ächzend auf und sah aus der zerborstenen Windschutzscheibe. Der Bus musste den Brückenpfeiler mit dem Heck erwischt haben. Das hatte ihre unfreiwillige Rutschpartie aufgehalten. Er kletterte aus dem Wrack und pfiff leise. Etwa zehn Meter vor ihnen begann ein Stau. Eine endlose Schlange aus Blech und Plastik, die sich auf allen Fahrspuren bis zum Horizont dahinschlängelte. Er vermutete, dass dies die Reste der Massenflucht aus Köln waren.

»Martin? Ich glaube Ritchie geht es nicht gut«, rief Tom. Martin runzelte die Stirn. Ritchie hatte sich doch angeblich nur den Kopf angeschlagen? Es würde sowieso noch ein Heidenspaß werden, mit Ritchie ohne seinen Rollstuhl irgendwo Hilfe zu finden. Vorsichtig stieg er über die Trümmer des Armaturenbretts zurück.

Ritchie lag zwischen zwei Fenstern in verkrümmter Haltung auf dem Boden. Die anderen Kinder hockten vor ihm. Mit fragenden Gesichtern sahen sie Martin an. Er kniete sich hin und legte eine Hand auf Ritchies Schulter. Vorsichtig drehte er ihn auf den Rücken. Sein Gesicht sah friedlich aus. Zu friedlich. Erstaunt bemerkte Martin dunkle Ringe um Ritchies Augen. Es sah aus, als hätte er sich die Augen wie ein Soldat hinter feindlichen Linien mit einem Fettstift unterstrichen. Dann sah er die merkwürdige Pfütze unter Ritchies Kopf. Es war kein Blut. Vorsichtig drehte Martin Ritchies Kopf noch ein Stück weiter. Die Flüssigkeit kam aus dem rechten Ohr. Martin keuchte auf. Einblutungen unter den Augen, klare Flüssigkeit, die aus den Ohren lief ... Ritchie hatte einen Schädelbruch! Ein wimmernder Laut kroch seinen Hals hoch.

»Ritchie?«

Martins Hände zitterten. Angst lähmte seine Bewegungen und ließ jeden Gedanken durch einen dicken Sirup schwimmen. Je verzweifelter er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, umso schlimmer wurde dieses Gefühl. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Eine andere Hand legte sich auf Ritchies Kopf. Eine Pipeline aus einer anderen Welt. Martin blickte auf. Melanie hockte neben ihm. Eine Hand auf seiner Schulter, die andere auf Ritchies Stirn. Ihre Augen schwammen in Tränen.

Schließ die Augen und mache deinen Kopf frei, Martin.

Martin runzelte die Stirn. Diese Stimme ... kam aus seinem Kopf?

Ja. Ich bin es, Martin. Melanie. Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Ritchie will mit dir reden.

Ritchie wollte mit ihm reden? Martin schaute zu dem Jungen herunter und sah, dass er ihm schwach zublinzelte.

Martin. Bitte!

Das konnte alles nicht wahr sein!

Ein Schock?

Ja, das musste es sein. Er stand unter Schock und halluzinierte. Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen, um sich die Tränen abzuwischen ... und verschwand aus dieser Welt.

*

Martin kniff geblendet die Augen zusammen. Er stand auf einer sonnenüberfluteten Wiese. Das leise Summen von Insekten untermalte den Gesang von Vögeln. Zu seinen Füßen erstreckte sich ein Meer aus Blumen in voller Blüte. In der Luft lag ein süßer Hauch, der ihn an die Frühlingstage seiner Kindheit erinnerte. An eine Zeit, als seine Eltern noch lebten. Martin hob schützend einen Arm vor das Gesicht. Ein strahlendes Licht erstreckte sich über den ganzen Horizont. Alles war in ein Meer aus Gras, Blumen und Friedfertigkeit gehüllt. Suchend drehte Martin sich im Kreis.

Wo war er?

Wo war der Bus?

Wo waren die Kinder?

»Die sind nicht hier.«

Martin wandte sich zu der Stimme um. Aus dem strahlenden Gleißen trat ein Junge hervor. Martin holte keuchend Luft.

»Ritchie?«

»Ja Martin. Ich bin es.«

»Wo sind wir? Was passiert hier?«

Ritchie machte eine bedauernde Geste.

»Tut mir leid Martin. Wir haben nicht soviel Zeit, als dass ich dir alles erklären könnte. Nur eine Frage habe ich. Warum hast du mich nicht zurückgelassen?«

Martin hatte sich an das Licht gewöhnt und ließ den Arm sinken. Ritchie stand aufrecht auf seinen Beinen? Wo war sein Rollstuhl abgeblieben?

»Den brauche ich hier nicht. Warum hast mich nicht zurückgelassen? Du wolltest es doch, oder? Im Kacketunnel, als du Tom vorgeschickt hast, da ist es dir doch durch den Kopf gegangen, uns alleine zu lassen. Stimmts?«

Martin schluckte und nickte.

»Ja.«

»Und? Warum hast du es dann nicht getan? Warum bist weitergegangen und hast mich auch noch nach oben gebracht?«

Ja, genau. Warum eigentlich? Wegen Tom? Wegen Karin? Warum hatte er die Kinder nicht ihrem Schicksal überlassen? Martin hob in einer verzweifelten Geste die Hände und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht, Ritchie. Es ... es erschien mir einfach nicht richtig.«

Ritchie nickte.

»Ich weiß es jetzt. Du bist einer von uns.«

»Einer von euch? Du meinst, einer der Spider-X-Gang?«

»Nein. Du bist einer von uns. Du weißt es nur noch nicht. Aber das werden dir die anderen erklären müssen. Ich muss jetzt gehen. Meine Mutter wartet.«

Martin sah hinter Ritchie eine weitere Gestalt aus dem Licht kommen. Eine Frau. Nicht besonders groß, mit langen blonden Haaren. Sie lächelte Martin zu.

»Danke Martin.«

»Wofür?«

Sie legte Ritchie einen Arm um die Schultern und sah ihren Sohn mit einem strahlenden Lächeln an. Dieses Bild tat Martin im Herzen weh. Es erinnerte ihn an seine Mom.

»Wofür danken Sie mir? Ihr Sohn stirbt, und ich kann nichts für ihn tun. Ich habe versagt. Schon wieder. Erst Karin, jetzt Ritchie ... wer ist als nächstes dran? Wäre ich nur etwas schneller gewesen, hätte ich nur ein wenig mehr Zeit oder Kraft aufgebracht ... wir hätten vor der Druckwelle ausweichen können. Der Bus wäre nicht umgekippt und Ritchie würde jetzt noch leben!«

Martin versagte die Stimme. Es gab noch so vieles zu sagen, aber keine Worte, die auch nur annähernd seine Gefühle beschreiben könnten. Seine Knie gaben nach. Tränen schossen ihm in die Augen. Weinend hockte er im Gras und vergrub sein Gesicht in den Händen. Eine Hand streichelte seinen Kopf. Mit verschleiertem Blick schaute er auf und sah in Ritchies Gesicht.

»Es tut mir leid, Ritchie. Es tut mir so unendlich leid, hörst du?«

Ritchie strich ihm mit einem Finger eine Träne von der Wange.

»Machs gut, alter Klugscheißer.«

Das Gleißen des Lichts wurde stärker. Martin riss geblendet beide Arme vor das Gesicht. Die Gestalten von Ritchie und seiner Mutter verschwammen. Martin rappelte sich auf.

»Ritchie?«

Das Summen der Insekten wurde lauter.

»Ritchie?«

Martin spürte einen Zug, der ihm vom starken Licht wegzog. Aber er konnte doch nicht weg! Er konnte doch nicht ohne Ritchie von hier weg gehen! Der Sog wurde zu einem Zerren, das Summen zu einem drohenden Röhren. Das Licht wurde so grell, das es ihn sogar durch seine geschlossenen Augen blendete. Er verkrümmte sich, versuchte gegen diese unbekannte Macht anzukämpfen, die ihn unaufhaltsam wegzerrte und ...

*

... kniete im Buswrack.

Keuchend fiel Martin nach vorne auf die Hände. Seine Muskeln zitterten und sein Gesicht war tränennass. Die Wirklichkeit stürmte mit widersprüchlichen Eindrücken auf ihn ein. Der Boden, der mit den falschen Diamanten der Glassplitter bedeckt war, das Rumpeln in seinem Bauch, das von Hunger und Übelkeit zugleich kündete, der Gestank von verbrannter Erde und Unrat und der leblose Körper Ritchies, den er eben noch auf einer Wiese gesehen hatte.

Ritchie?

Martin blickte sich um und robbte auf Händen Knien zu dem Jungen. Seine Hände suchten hilflos nach einem Punkt, an dem sie den leblosen Körper gefahrlos berühren konnten.

»Ritchie? Wach auf Ritchie, ich bin es. Martin, der alte Klugscheißer.«

»Martin?«

Toms Stimme?

»Ritchie? Komm, lass den Unfug. Wir haben’s geschafft. Die haben uns nicht grillen können, mit ihrer Scheißbombe. Wir sind draußen, hörst du?«

»Martin?«

Martin fuhr herum.

»WAS?«

Tom schrak zurück.

»Ritchie ist tot.«

Toms Worte sickerten nur langsam in Martins Bewusstsein. Fassungslos drehte er den Kopf und sah hinab. Ritchies Kopf war leblos zur Seite gerollt. Seine Augen glänzten stumpf. Seine Brust hob und senkte sich nicht mehr im Takt seines Atems. Auf seinen Lippen lag ein friedliches Lächeln, das auch seine Behinderung nicht mehr zu verzerren vermochte. Martin schluckte.

Tom hatte Recht.

Ritchie war tot.

Heiße Tränen rannen Martin über das Gesicht, als er sich vorbeugte und Ritchie mit einem sanften Streicheln über das Gesicht die Augen schloss. Er holte tief Luft und wischte sich die Tränen aus den Augen. Karins Stimme erklang in seinem Kopf.

Zeit, sich der Realität zu stellen, Sunnyboy. Such einen vernünftigen Platz, wo der Kleine in Frieden ruhen kann, und dann weg hier.

Martin nickte sich selber zu. Karin hatte Recht. Selbst im Tod behielt sie immer noch Recht. Er schaute auf und sah den Kindern in die blassen Gesichter.

»Kommt. Wir suchen einen Platz, wo Ritchie seine Ruhe finden kann.«

Chronik von Eden

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