Читать книгу Zielobjekt Null - Джек Марс - Страница 11
KAPITEL SIEBEN
Оглавление„Schau mich an“, sagte Imam Khalil auf Arabisch. „Bitte.“ Er hielt den Jungen bei den Schultern, eine väterliche Geste, und ging ein wenig in die Knie, sodass er auf Augenhöhe mit ihm war.
„Schau mich an“, wiederholte er. Es war keine Forderung, sondern eine sanfte Bitte. Omar hatte Schwierigkeiten, Khalil in die Augen zu sehen. Stattdessen schaute er auf sein Kinn, auf den gestutzten schwarzen Bart, der sorgfältig am Hals entlang rasiert war. Er betrachtete die Umschläge seines dunkelbraunen Anzugs, welcher keineswegs teuer war und doch edler, als alle Kleidungsstücke, die Omar jemals getragen hatte. Der ältere Mann roch angenehm und er sprach mit dem Jungen, so als seien sie gleichwertig, mit einem Respekt, den er noch nie zuvor von jemand anderem entgegengebracht bekommen hatte. Aus all diesen Gründen konnte Omar sich nicht dazu bringen, Khalil in die Augen zu schauen.
„Omar, weißt du, was ein Märtyrer ist?“, fragte er. Seine Stimme war deutlich, aber nicht laut. Der Junge hatte den Imam noch nie schreien gehört.
Omar schüttelte seinen Kopf. „Nein, Imam Khalil.“
„Ein Märtyrer ist eine Art Held. Aber er ist mehr als das; er ist ein Held, der sich voll und ganz dem Zweck hingibt. An einen Märtyrer erinnert man sich. Ein Märtyrer wird gefeiert. Du, Omar, wirst gefeiert werden. Man wird sich an dich erinnern. Du wirst für immer geliebt werden. Und weißt du, weshalb?“
Omar nickte leicht, aber er sprach nicht. Er glaubte an die Lehren des Imams, hatte sich an ihnen festgeklammert wie an einem Rettungsring und das umso mehr nach dem Bombenanschlag, durch den seine Familie getötet worden war. Selbst nachdem er von Regimekritikern aus seiner Heimat Syrien vertrieben worden war. Er hatte jedoch Schwierigkeiten, zu glauben, was ihm Imam Khalil vor wenigen Tagen gesagt hatte.
„Du bist gesegnet“, sagte Khalil. „Schau mich an, Omar.“ Mit viel Mühe hob Omar seinen Blick, um in Khalils braune, sanfte, freundliche und doch mächtige Augen zu sehen. „Du bist der Mahdi, der letzte Imam. Der Erlöser, der die Welt von ihren Sündern befreien wird. Du bist der Retter, Omar. Verstehst du das?“
„Ja Imam.“
„Und glaubst du daran, Omar?“
Der Junge war sich nicht sicher, ob er das tat. Er fühlte sich nicht besonders oder wichtig oder von Allah gesegnet, und trotzdem antwortete er: „Ja Imam. Ich glaube es.“
„Allah hat zu mir gesprochen“, sagte Khalil sanft, „und er hat mir gesagt, was wir tun müssen. Erinnerst du dich daran, was du tun sollst?“
Omar nickte. Seine Mission war ziemlich leicht, doch der Khalil stellte sicher, dass der Junge keine Bedenken darüber hatte, was es für ihn bedeutete.
„Gut. Gut.“ Khalil lächelte breit. Seine Zähne waren absolut weiß und glänzten im hellen Sonnenlicht. „Bevor wir auseinander gehen, Omar, würdest du mir die Ehre erweisen, für einen Moment mit mir zu beten?“
Khalil streckte seine Hand aus und Omar griff nach ihr. Sie war warm und weich. Der Imam schloss seine Augen und seine Lippen bewegten sich, als er stumme Worte aussprach.
„Imam?“, sagte Omar fast flüsternd, „Sollten wir nicht nach Mekka ausgerichtet sein?“
Wieder lächelte Khalil breit. „Heute nicht Omar. Der einzig wahre Gott gewährt mir eine Bitte; heute bete ich zu dir.“
Die beiden Männer standen für eine lange Zeit dort und beteten stumm einander zugewandt. Omar spürte den warmen Sonnenschein auf seinem Gesicht und während der stummen Minute, die folgte, glaubte er, so etwas wie die unsichtbaren Finger Gottes dabei zu spüren, die seine Wange streichelten. Khalil kniete nieder, während sie im Schatten eines kleinen weißen Flugzeuges standen. Es passten nur vier Personen in das Flugzeug und es hatte Propeller über den Flügeln. Dies war näher, als Omar jemals an einem gewesen war – außer dem Flug von Griechenland nach Spanien, der das erste Mal gewesen war, dass Omar überhaupt in einem Flugzeug gesessen hatte.
„Vielen Dank dafür.“ Khalil ließ die Hand des Jungen los. „Ich muss jetzt gehen und du ebenfalls. Allah ist bei dir, Omar, Friede sei mit ihm und Friede sei mit dir.“ Der ältere Mann lächelte ihn noch einmal an, drehte sich um und kletterte die kurze Rampe zum Flugzeug hinauf.
Die Motoren starteten. Das Heulen wurde schnell zu einem Dröhnen. Omar trat mehrere Schritte zurück, als das Flugzeug auf der kleinen Landebahn vorwärts rollte. Er beobachtete, wie es an Geschwindigkeit zulegte, schneller und schneller wurde, bis es in die Höhe stieg und schließlich am Horizont verschwand.
Jetzt allein, schaute Omar nach oben und genoss den Sonnenschein auf seinem Gesicht. Es war ein warmer Tag, wärmer als die anderen zu dieser Jahreszeit. Dann begann er die sechs Kilometer lange Wanderung, die ihn nach Barcelona bringen würde. Während er ging, griff er in seine Hosentasche und seine Finger wickelten sich vorsichtig und schützend um das winzige kleine Glasröhrchen darin.
Omar konnte nicht anders, als sich zu wundern, weshalb Allah nicht direkt zu ihm gekommen war. Stattdessen hatte Er seine Botschaft durch den Imam weitergeleitet. Hätte ich es geglaubt?, dachte Omar. Oder hätte ich es nur für einen Traum gehalten? Imam Khalil war heilig und weise und er erkannte die Zeichen, wenn sie sich ihm zeigten. Omar war ein jugendlicher, naiver, sechzehn-jähriger Junge, der nicht viel über die Welt wusste, besonders nicht über den Westen. Vielleicht war er es nicht wert, die Stimme Gottes zu hören. Khalil hatte ihm eine Handvoll Euro mit nach Barcelona gegeben. „Nimm dir Zeit“, hatte der ältere Mann gesagt. „Genieße eine gute Mahlzeit. Du verdienst es.“
Omar sprach kein Spanisch und nur ein paar einfache englische Sätze. Außerdem war er nicht hungrig, also setzte er sich, als er in Barcelona ankam, auf eine Bank und schaute auf die Stadt, anstatt zu essen. Während er dort saß, fragte er sich, wieso es ausgerechnet hier sein müsse.
Hab Vertrauen, würde Imam Khalil sagen. Omar entschied, dass er genau das tun würde.
Zu seiner Linken befand sich das Hotel Barceló Raval, ein merkwürdiges rundes Gebäude, das mit violetten und roten Lichtern geschmückt war, und aus dem gut gekleidete, junge Leute ein- und ausgingen.
Er kannte den Namen nicht; er wusste nur, dass es wie ein Leuchtfeuer aussah, welches übergewichtige Sünder wie Motten zur Flamme anzog. Es gab ihm Kraft, davorzusitzen und bestärkte seinen Glauben, damit er tun konnte, was als Nächstes zu tun war.
Omar zog den Glasbehälter vorsichtig aus seiner Tasche. Es sah nicht so aus, als sei irgendetwas darin oder vielleicht war das, was darin war, unsichtbar, wie Luft oder Gas. Es machte keinen Unterschied. Er wusste genau, was er damit tun sollte. Der erste Schritt war vollbracht: die Stadt betreten. Den zweiten Schritt vollzog er auf der Bank im Schatten des Ravals.
Er drückte die kegelförmige Glasspitze des Behältnisses zwischen seinen Fingern und zog sie mit einer kurzen, schnellen Bewegung ab.
Ein winziger Glassplitter steckte in seinem Finger. Er beobachtete, wie sich ein kleiner Tropfen Blut bildete, widerstand allerdings dem Drang, den Finger in seinen Mund zu stecken. Stattdessen tat er, was ihm befohlen worden war – er hielt das Röhrchen an sein Nasenloch und atmete tief ein.
Sobald er es getan hatte, überkam ihn ein Anflug von Panik. Khalil hatte ihm nicht gesagt, was genau er danach zu erwarten hatte. Ihm war nur gesagt worden, danach eine kurze Zeit zu warten, also wartete er und tat sein Bestes, ruhig zu bleiben. Er beobachtete, wie immer mehr Leute das Hotel betraten und verließen und sie alle trugen prunkvolle und pompöse Kleidung. Er war sich seines bescheidenen Gewandes sehr bewusst; seines abgenutzten Pullovers, seiner fleckigen Wangen und seines Haars, das zu lang und ungebändigt war. Er erinnerte sich selbst daran, dass Eitelkeit eine Sünde war.
Omar saß dort, während er darauf wartete, dass etwas passierte. Er wartete darauf, zu spüren, wie sich in ihm ausbreitete, was auch immer „es“ war. Er spürte nichts. Es gab keinen Unterschied.
Eine ganze Stunde auf der Bank ging vorüber und dann erhob er sich und ging gemütlich nach Nordwesten, weg von dem violetten zylindrischen Hotel und weiter in die Stadt hinein. Er nahm die Treppe zur ersten U-Bahn-Station, die er finden konnte. Er konnte zwar kein Spanisch sprechen, aber er musste auch nicht wissen, wohin er ging.
Er kaufte ein Ticket mit den Euros, die Khalil ihm gegeben hatte, und stand untätig auf dem Bahnsteig herum, bis ein Zug einfuhr. Er fühlte sich immer noch nicht anders. Vielleicht hatte er die Begebenheit der Lieferung missverstanden. Trotzdem gab es noch eine letzte Sache, die er tun musste.
Die Türen öffneten sich und er trat hinein, beinahe Ellenbogen an Ellenbogen gedrängt mit den anderen Passagieren. Die U-Bahn war ziemlich voll; alle Sitzplätze waren belegt, also stand Omar und hielt sich an einer der Metallstangen fest, die parallel zur Länge des Zuges über seinem Kopf verliefen.
Seine letzte Anweisung war die leichteste von allen, sowohl als auch die, die ihn am meisten verwirrte. Khalil hatte ihm gesagt, dass er in einen Zug steigen und „damit fahren sollte, bis er nicht mehr konnte“. Das war alles.
Damals war Omar unsicher gewesen, was es bedeutete. Aber als sein Kopf vor Schweiß zu prickeln begann, seine Körpertemperatur anstieg und sich die Übelkeit in seinem Magen ausbreitete, hatte er eine Vorahnung.
Die Minuten vergingen, der Zug schaukelte und schwankte über die Schienen und seine Symptome wurden schlimmer. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Der Zug hielt am nächsten Bahnhof an und als weitere Leute ein- und ausstiegen, würgte Omar heftig. Die anderen Passagiere entfernten sich angewidert von ihm.
Sein Magen fühlte sich an, als habe er sich in einen schmerzhaften Knoten gewickelt. Auf halbem Weg zur nächsten Station hustete er in seine Hand. Als er sie senkte, waren seine zittrigen Finger mit dunklem, klebrigem Blut beschmiert. Eine Frau neben ihm bemerkte es. Sie sagte etwas auf Spanisch, sprach schnell und ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Sie deutete auf die Türen und plapperte weiter. Ihre Stimme wurde leiser, als sich in Omars Ohren ein hoher Piep Ton ausbreitete, er wusste jedoch, dass sie ihn aufforderte, den Zug zu verlassen.
Als sich die Türen wieder einmal öffneten, stolperte Omar hinaus und fiel beinahe auf den Bahnsteig.
Luft. Er brauchte frische Luft.
Allah, hilf mir, dachte er verzweifelt, als er in Richtung Treppe taumelte, die hinauf zur Straße führen würden. Seine Sicht verschwamm hinter seinen Tränen, mit denen sich seine Augen unbeabsichtigt füllten.
Sein Inneres schrie vor Schmerz, seine Hände waren blutverklebt und Omar verstand endlich seine Rolle als Mahdi. Er sollte die Pest auf diese Welt bringen – angefangen mit der Beseitigung seiner eigenen Sünden.
*
“¡Perdón!”
Marta Medellín spottete, als der junge Mann grob gegen sie stieß. Er schien wenig bis gar keine Rücksicht auf andere auf der Straße zu nehmen. Als er mit totem Blick und schlürfend näherkam, sank seine linke Schulter, kollidierte mit ihrer und sie zischte ein ernstes „Entschuldigung!“ auf Spanisch. Trotzdem schenkte er ihr keine Aufmerksamkeit und ging weiter.