Читать книгу Zielobjekt Null - Джек Марс - Страница 4
PROLOG
Оглавление„Sagen Sie mir Renault“, sagte der ältere Mann. Seine Augen funkelten, als er den Kaffee unter dem Deckel des Kaffeebereiters zwischen ihnen durchlaufen sah. „Warum sind Sie hierhergekommen?“,
Dr. Cicero war ein freundlicher, heiterer Mann, jemand, der sich gerne als „achtundfünfzig Jahre jung“ bezeichnete. Als er Ende dreißig war, begann sein Bart grau zu werden, während seiner Vierziger wurde er weiß und obwohl er normalerweise ordentlich getrimmt war, war er nun, während seiner Zeit in der Tundra, voll und wild gewachsen. Er trug eine leuchtend orangefarbene Jacke, die das jugendliche Leuchten in seinen blauen Augen jedoch kaum dämpfte.
Der junge Franzose war etwas überrascht von der Frage, aber er wusste sofort, was er antworten musste, da er die Antwort schon oft in seinem Kopf wiederholt hatte. „Die WHO hat sich an die Universität gewandt, um Forschungsassistenten zu finden. Diese wiederum haben es dann mir angeboten“, erklärte er auf Englisch. Cicero war Grieche und Renault stammte von der Südküste Frankreichs, also sprachen sie in einer Sprache, die sie beide verstanden. „Um ehrlich zu sein, gab es zwei andere, denen die Möglichkeit vor mir gegeben wurde. Sie haben es aber beide abgelehnt. Wie dem auch sei, ich habe es als großartige Gelegenheit gesehen, um …“
„Bah!“, warf der ältere Mann mit einem Lächeln ein. „Ich frage nicht nach Ihrem akademischen Werdegang, Renault. Ich habe Ihren Lebenslauf sowie Ihre These über die prognostizierte Influenza B-Mutation gelesen. Sie waren übrigens ziemlich gut. Ich glaube nicht, dass ich es selbst besser hätte schreiben können.“
„Danke, Sir.“
Cicero lachte. „Sparen Sie sich Ihr „Sir“ für Konferenzen und Spendensammlungen. Hier draußen sind wir alle gleich, wir sollten nicht so förmlich sein. Nennen Sie mich Cicero. Wie alt sind Sie, Renault?“
„Sechsundzwanzig, Sir – uh, Cicero.“
„Sechsundzwanzig“, sagte der alte Mann nachdenklich. Er wärmte seine Hände über der Wärme des Campingkochers.
„Und fast fertig mit Ihrer Doktorarbeit? Das ist sehr beeindruckend. Aber, was ich wissen möchte ist, wieso sind Sie hier? Wie gesagt, ich habe mir Ihre Akte angeschaut. Sie sind jung, intelligent, zugegebenermaßen recht gutaussehend …“ Cicero kicherte. „Ich denke, Sie hätten überall auf der Welt ein Praktikum bekommen können. Aber in diesen vier Tagen, seit denen Sie bei uns sind, habe ich Sie nicht ein einziges Mal über sich selbst sprechen gehört. Wieso sind Sie ausgerechnet hierhergekommen?“
Cicero winkte eine Hand, so als wolle er seinen Standpunkt unterstreichen. Das war jedoch völlig unnötig. Die sibirische Tundra erstreckte sich in alle Richtungen, soweit das Auge reichte, grau und weiß und vollkommen leer, bis auf die tiefliegenden und schneebedeckten Berge, die sich langgezogen über den nordöstlichen Horizont erstreckten.
Renaults Wangen wurden leicht rosa. „Nun, ich werde ehrlich mit Ihnen sein, Doktor. Ich kam her, um an Ihrer Seite zu lernen“, gab er zu. „Ich bewundere Sie. Ihre Arbeit zur Verhinderung des Zika-Virus-Ausbruchs war wirklich inspirierend.“
„Nun!“, sagte Cicero herzlich. „Mit Komplimenten kommt man immer weiter – oder man bekommt zumindest einen dunkelgerösteten belgischen Kaffee.“ Er zog einen dicken Handschuh über seine rechte Hand, hob den Kaffeebereiter vom butangasbetriebenen Campingkocher und schenkte zwei Plastikbecher mit dampfendem, köstlichen Kaffee ein. Es war einer der wenigen Luxusartikel, die sie in der sibirischen Wildnis zur Verfügung hatten.
In den letzten siebenundzwanzig Tagen in Dr. Ciceros Leben war dieses kleine Lager, etwa hundertfünfzig Meter vom Ufer des Flusses Kolyma entfernt, sein zu Hause gewesen. Das Camp bestand aus vier gewölbten Neoprenzelten, einem auf einer Seite geschlossenen Segeltuch, welches vor dem Wind schütze und einem semi-permanenten kugelsicheren Reinraum. Die beiden Männer standen derzeit unter der Segeltuchüberdachung und kochten Kaffee auf einem zweiflammigen Campingkocher zwischen den Klapptischen, auf denen sich Mikroskope, Permafrost Proben, Archäologiegerätschaften, zwei robuste Allwettercomputer und eine Zentrifuge befanden.
„Trinken Sie aus“, sagte Cicero. „Es ist fast Zeit für unsere Schicht.“ Er trank seinen Kaffee mit geschlossenen Augen und ein genussvolles Stöhnen entwich seinen Lippen.
„Es erinnert mich an zu Hause“, sagte er sanft. „Haben Sie jemanden, der auf Sie wartet, Renault?“
„Das habe ich“, antwortete der junge Mann. „Meine Claudette.“
„Claudette“, wiederholte Cicero. „Ein schöner Name. Verheiratet?“
„Nein“, antwortete Renault einfach.
„Es ist in unserem Berufsfeld wichtig, etwas zu haben, nach dem man sich sehnt“, sagte Cicero wehmütig. „Es gibt einem in der oft notwendigen Abgrenzung noch einen anderen Blickwinkel. Seit dreiunddreißig Jahren darf ich Phoebe meine Frau nennen. Meine Arbeit hat mich an Orte überall auf der ganzen Welt geführt, aber sie ist immer für mich da, wenn ich zurückkomme. Während ich weg bin, sehne ich mich, aber das ist es wert; jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, fühle ich mich wie neu verliebt. Wie man so sagt, Abwesenheit lässt die Liebe wachsen.“
Renault lächelte. „Ich hätte einen Virologen nicht für einen Romantiker gehalten“, sann er nach.
„Die zwei Dinge schließen einander nicht aus, mein Junge.“ Der Arzt runzelte leicht die Stirn. „Und doch … ich glaube nicht, dass es Claudette ist, die in Ihren Gedanken herumschwirrt. Sie sind ein nachdenklicher junger Mann, Renault. Mehr als einmal habe ich gesehen, wie Sie zu den Berggipfeln schauen, so, als suchten Sie dort in der Ferne nach Antworten.“
„Ich glaube, Sie haben Ihre wahre Berufung verfehlt, Doktor“, sagte Renault. „Sie hätten Soziologe werden sollen.“ Das Lächeln verschwand von seinen Lippen, als er hinzufügte: „Sie haben jedoch recht. Ich habe diesen Auftrag nicht nur angenommen, um an Ihrer Seite arbeiten zu können, sondern auch, weil ich mich einer Sache gewidmet habe … einer Sache, die auf Glauben beruht. Ich habe jedoch Angst davor, wohin mich dieser Glaube führen könnte.“
Cicero nickte wissend. „Wie ich schon gesagt habe, Abgrenzung ist in unserem Arbeitsumfeld oft notwendig. Man muss lernen, leidenschaftslos zu sein.“ Er legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Lassen Sie es sich von jemandem sagen, der schon viele Jahre Erfahrung damit hat. Glaube ist eine starke Motivation, so viel ist sicher, aber manchmal neigen Emotionen dazu, unser Urteilsvermögen und unseren Verstand zu benebeln.“
„Ich werde vorsichtig sein. Vielen Dank, Sir.“ Renault lächelte verlegen. „Cicero. Danke.“
Plötzlich knisterte das Funkgerät auf dem Tisch neben ihnen und unterbrach die beschauliche Stille unter dem Verdeck.
„Dr. Cicero“, sagte eine Frauenstimme mit irischem Akzent. Es war die Stimme von Dr. Bradlee, die sie von der nahegelegenen Ausgrabungsstätte aus anfunkte. „Wir haben etwas ausgegraben. Es wird Sie interessieren. Bringen Sie den Behälter mit. Over.“
„Wir kommen sofort“, sprach Dr. Cicero in das Funkgerät. „Over.“ Er lächelte Renault väterlich an. „Es sieht so aus, als würden wir früher zum Einsatz kommen als gedacht. Wir sollten unsere Schutzanzüge anziehen.“
Die beiden Männer stellten die noch dampfenden Kaffeebecher ab und eilten in den kugelsicheren Reinraum. Sie betraten das erste Vorzimmer, um die leuchtend gelben Dekontaminationsanzüge anzuziehen, die die Weltgesundheitsorganisation bereitgestellt hatte. Handschuhe und Plastikstiefel, welche an den Handgelenken und Knöcheln abgedichtet waren, wurden zuerst angezogen, bevor der Ganzkörperkittel, die Kapuze und zum Schluss die Maske und das Atemschutzgerät folgten.
Sie zogen sich schnell, aber fast schon ehrfürchtig still an, und nutzten die kurze Zwischenzeit nicht nur für die körperliche Transformation, sondern auch als mentale Vorbereitung, um sich nach ihrem angenehmen und beiläufigen Gespräch nun auf die nüchterne Denkweise, die für ihre Arbeit erforderlich war, einzulassen.
Renault mochte die Dekontaminierungsanzüge nicht. Sie verlangsamten seine Bewegung und machten die Arbeit mühsam. Aber sie waren absolut notwendig, um ihre Forschung durchführen zu können: einen der gefährlichsten Organismen, den die Menschheit kannte, zu lokalisieren und sicherzustellen.
Er und Cicero traten aus dem Vorraum und machten sich auf den Weg zum Ufer des Kolyma, ein langsam fließender, eisiger Fluss, der südlich der Berge und etwas östlich in Richtung Meer führte.
„Der Behälter“, sagte Renault plötzlich. „Ich hole ihn.“ Er eilte zurück zur Überdachung, um den Probenbehälter zu holen, ein rostfreier Stahlwürfel, der mit vier Verschlussbügeln verschlossen und auf allen sechs Seiten mit einem Warnsymbol für Biogefährdung versehen war. Er eilte zurück zu Cicero und die beiden machten sich auf den Weg zur Ausgrabungsstätte.
„Sie wissen, was nicht weit von hier passiert ist, nicht wahr?“, fragte Cicero durch seine Atemschutzmaske, während sie liefen.
„Ja.“ Renault hatte den Bericht gelesen. Vor fünf Monaten war ein zwölfjähriger Junge aus einem nahegelegenen Dorf krank geworden, nachdem er Wasser aus dem Kolyma geholt hatte. Zuerst wurde vermutet, dass der Fluss verseucht sei, aber als weitere Symptome auftraten, wurde das Bild bald deutlicher. Nachdem sie von der Erkrankung gehört hatten, wurden sofort Forscher der WHO mobilisiert und eine Untersuchung eingeleitet.
Der Junge hatte die Pocken. Genauer gesagt, erkrankte er an einem unbekannten Pockenvirus, der noch nie zuvor in der modernen Welt aufgetreten war.
Die Ermittlungen führten letztlich zu den Überresten eines Karibu-Rentiers in der Nähe des Flussufers. Nach eingehenden Tests wurde die Vorahnung bestätigt: Das Rentier war vor mehr als zweihundert Jahren gestorben und sein Körper war im Permafrost eingeschlossen gewesen. Die Krankheitserreger, die das Tier getötet hatten, froren mit ihm ein und lagen inaktiv unter dem Eis verborgen – bis vor fünf Monaten.
„Es ist eine einfache Kettenreaktion“, sagte Cicero. „Wenn die Gletscher schmelzen, steigen der Wasserstand und die Temperatur des Flusses. Und das wiederum taut die Lagen des Permafrosts auf. Wer weiß, welche Krankheiten sonst noch in diesem Eis lauern. Uralte Erregerstämme, wie wir sie noch nie zuvor gesehen haben … es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass einige davon vor die Entstehung der Menschheit zurückdatiert werden können.“ Die Stimme des Arztes klang angespannt, was nicht nur auf seiner Besorgnis basierte. Es klang ebenfalls eine gewisse Begeisterung darin mit. Dies war schließlich seine Lebensaufgabe.
„Ich habe gelesen, dass in 2016 durch das Schmelzen einer Eiskappe, Anthrax in einer Wasserversorgung gefunden wurde “, kommentierte Renault.
„Das stimmt. Ich wurde mit diesem Fall beauftragt. So wie auch mit dem Fall der spanischen Grippe, der in Alaska aufgetreten ist.“
„Was ist aus dem Jungen geworden?“, fragte der junge Franzose. „Der Pockenfall von vor fünf Monaten.“ Er wusste, dass der Junge, so wie auch die fünfzehn anderen infizierten Menschen aus seinem Dorf, unter Quarantäne gestellt worden waren, aber an dieser Stelle hatte die Berichterstattung geendet.
„Er ist gestorben“, sagte Cicero. In seiner Stimme lag keinerlei Emotion; nicht vergleichbar, wie wenn er von seiner Frau Phoebe sprach. Nach Jahrzehnten in seinem Berufsfeld hatte Cicero die subtile Kunst der innerlichen Abgrenzung gelernt. „Gemeinsam mit vier anderen. Es konnte dadurch allerdings ein Impfstoff gegen den Pockenstamm entwickelt werden, sodass ihr Tod nicht völlig umsonst war.“
„Trotzdem“, sagte Renault leise, „was für eine Schande.“
Die Ausgrabungsstätte befand sich weniger als einen Steinwurf vom Flussufer entfernt. Es handelte sich um ein zwanzig Quadratmeter großes Stück Tundra, das mit Metallpfählen und leuchtend gelbem Klebeband abgesperrt worden war. Es war die vierte Ausgrabungsstätte, die das Forschungsteam im Rahmen ihrer Ermittlungen bisher enthoben hatte. Vier weitere Forscher in Dekontaminierungsanzügen befanden sich in der abgesperrten Zone und sie alle lehnten sich über einen kleinen Bereich in der Nähe des Zentrums. Einer von ihnen sah die zwei Männer ankommen und eilte zu ihnen hinüber.
Es handelte sich um Dr. Bradlee, eine ausgeliehene Archäologin der Universität von Dublin.
„Cicero“, sagte sie. „Wir haben etwas gefunden.“
„Was ist es?“, fragte er, als er sich unter dem Absperrband hindurchschlängelte. Renault folgte ihm.
„Einen Arm.“
„Wie bitte?“, stieß Renault hervor.
„Zeigen Sie ihn mir“, sagte Cicero.
Bradlee führte sie zu der Stelle ausgehobenem Permafrosts. In den Permafrost zu graben – und dabei so vorsichtig zu sein – war keine leichte Aufgabe, wusste Renault. Die obersten Schichten gefrorener Erde tauten gewöhnlich im Sommer auf, aber die tieferen Schichten wurden so genannt, weil sie in den Polargebieten dauerhaft gefroren waren. Das Loch, welches Bradlee und ihr Team gegraben hatten, war fast zwei Meter tief und breit genug, sodass ein ausgewachsener Mann darin liegen konnte.
Nicht viel anders als ein Grab, dachte Renault grimmig.
Und wie sie gesagt hatte, waren die eingefrorenen Überreste eines menschlichen Arms am Boden des Loches sichtbar, gewunden, fast skelettartig und durch die Zeit und die Erde geschwärzt.
„Mein Gott“, sagte Cicero fast flüsternd. „Wissen Sie, was das ist Renault?“
„Eine Leiche?“, vermutete er. Zumindest hoffte er, dass an dem Arm noch mehr dranhing.
Cicero sprach schnell und gestikulierte mit seinen Händen. „In den 1880er Jahren gab es nicht weit von hier direkt am Ufer des Kolyma eine kleine Siedlung. Die ursprünglichen Siedler waren Nomaden, aber aufgrund ihrer wachsenden Bevölkerungszahl beabsichtigten sie, hier ein Dorf zu errichten. Dann geschah das Undenkbare. Eine Pockenepidemie brach aus und tötete vierzig Prozent ihres Stammes innerhalb von wenigen Tagen. Sie glaubten, der Fluss sei verflucht, und die Überlebenden flüchteten schnell.
„Aber bevor sie dies taten, begruben sie ihre Toten – genau hier, in einem Massengrab am Ufer des Kolyma-Flusses.“ Er zeigte in das Loch und auf den Arm. „Die Fluten zerstören die Ufer. Der schmelzende Permafrost würde diese Leichen bald aufdecken und danach würde es nicht mehr als die einheimische Fauna benötigen, um an ihnen zu nagen und um dadurch ein Träger der Krankheit zu werden, durch die wir einer völlig neuen Epidemie ausgesetzt werden würden.“
Renault vergaß für einen Moment zu atmen, während er einen der in Gelb gekleideten Forscher in dem Loch dabei beobachtete, wie er Proben von dem zerfallenden Arm kratze.
Die Entdeckung war ziemlich aufregend; bis vor fünf Monaten war der letzte bekannte Ausbruch dieser Pocken in 1977 in Somalia gewesen. Die Weltgesundheitsorganisation hatte die Krankheit 1980 für ausgerottet erklärt. Und doch standen sie nun am Rand eines Grabes, von dem bekannt war, dass es mit einem gefährlichen Virus infiziert war, der die Bevölkerung einer Großstadt innerhalb weniger Tage stark verringern könnte – und ihr Job war es, ihn auszugraben, zu überprüfen und Proben an die WHO zurückzuschicken.
„Genf wird es bestätigen müssen“, sagte Cicero leise. „Aber wenn meine Spekulationen korrekt sind, dann haben wir gerade einen achttausend Jahre alten Pockenstamm entdeckt.“
„Achttausend?“, fragte Renault. „Ich dachte, Sie sagten, die Besiedlung sei Ende des 19. Jahrhunderts gewesen.“
„Ja, das habe ich“, sagte Cicero. „Aber dann stellt sich die Frage, woher sie – ein isoliertes Nomadenvolk – den Virus bekommen haben. Auf ähnliche Weise, würde ich mir vorstellen. Sie gruben im Boden und stießen auf etwas, das seit langer Zeit gefroren war. Der Pockenstamm, der vor fünf Monaten in dem aufgetauten Karibu Kadaver gefunden wurde, konnte bis zum Beginn der Holozänepoche zurückverfolgt werden.“ Der ältere Virologe schien seinen Blick nicht von dem Arm abwenden zu können, welcher aus dem gefrorenen Schmutz herausragte. „Renault, holen Sie bitte den Behälter.“
Renault holte den Probenbehälter aus Stahl und stellte ihn auf die gefrorene Erde nahe der Lochkante. Er öffnete die vier Verschlüsse, die ihn verriegelten, und hob den Deckel. Dort, wo er sie vorhin versteckt hatte, befand sich eine MAB PA-15. Es war eine alte Pistole, die mit ihrem vollem fünfzehn Schuss-Magazin und einem in der Kammer mit einem knappen Kilogramm allerdings nicht allzu schwer war.
Die Waffe hatte seinem Onkel gehört, einem Veteranen der französischen Armee, der in Maghreb und Somalia gekämpft hatte.
Der junge Franzose mochte Waffen jedoch nicht; sie waren ihm zu direkt, zu diskriminierend und viel zu künstlich für seinen Geschmack. Nicht wie ein Virus – die perfekte Maschine der Natur, die in der Lage war, eine komplette Spezies auszulöschen, sowohl systematisch als auch kritiklos zugleich. Emotionslos, unnachgiebig und plötzlich; genau das, was er jetzt sein musste.
Er griff in die Stahlkiste und schlang seine Hand um die Waffe. Er schwankte leicht. Er wollte die Waffe nicht benutzen. Er hatte tatsächlich Gefallen an Ciceros ansteckendem Optimismus und dem Funkeln in den Augen des älteren Mannes gefunden.
Aber alle Dinge müssen ein Ende haben, dachte er, die nächste Erfahrung wartet bereits.
Renault stand dort mit der Pistole in der Hand. Er entfernte die Sicherung an der Pistole und schoss den beiden Forschern, die auf der anderen Seite des Loches standen, emotionslos direkt in die Brust.
Dr. Bradlee stieß wegen des plötzlichen Schusses der Pistole einen erschrockenen Schrei aus. Sie stolperte zwei Schritte rückwärts, bevor Renault ebenfalls zweimal auf sie schoss. Der englische Arzt, Scott, machte einen schwachen Versuch, aus dem Loch zu klettern, bevor der Franzose es mit einem einzigen Schuss in den Kopf zu seinem Grab machte.
Die Schüsse waren donnernd und ohrenbetäubend, aber es war für über hundertfünfzig Kilometer niemand um sie herum, der sie hätte hören können.
Cicero war wie versteinert und vor Schock und Angst gelähmt. Renault hatte nur sieben Sekunden gebraucht, um vier Leben zu nehmen – nur sieben Sekunden, um die Forschungsexpedition in einen Massenmord zu verwandeln.
Die Lippen des älteren Arztes zitterten hinter seiner Atemmaske, als er versuchte, zu sprechen. Nach einer Weile stotterte er ein einziges Wort: „Wi-wieso?“
Renaults eisiger Blick war stoisch, so distanziert, wie jeder Virologe sein musste. „Doktor“, sagte er sanft. „Sie hyperventilieren. Nehmen Sie Ihre Maske ab, bevor Sie ohnmächtig werden.“
Ciceros Atemzüge waren unregelmäßig und schnell – zu schnell für sein Beatmungsgerät. Sein Blick schweifte von der Waffe in Renaults Hand, die er locker an seiner Seite hielt, zu dem Loch hinüber, in dem der nun tote Dr. Scott lag. „Ich … das kann ich nicht“, stotterte Cicero. Seine Atemschutzmaske abzunehmen, würde ihn möglicherweise der Krankheit aussetzen. „Renault, bitte …“
„Mein Name ist nicht Renault“, sagte der junge Mann. „Ich heiße Cheval – Adrian Cheval. Es gab einen Universitätsstudenten namens Renault, der dieses Praktikum erhielt. Er ist jetzt tot. Es sind seine Aufzeichnungen und seine These, die Sie gelesen haben.“
Ciceros blutunterlaufene Augen öffneten sich noch weiter. Die Ränder seines Blicks verschwommen und wurden dunkel und er drohte, sein Bewusstsein zu verlieren. „Ich … ich verstehe nicht … warum?“
„Dr. Cicero, bitte. Nehmen Sie die Atemmaske ab. Wenn Sie schon sterben, würden Sie es nicht vorziehen, dies in Würde zu tun? Mit der Sonne im Gesicht, als hinter einer Maske? Wenn Sie Ihr Bewusstsein verlieren, dann versichere ich Ihnen, dass Sie nie wieder aufwachen werden.“
Mit zitternden Fingern griff Cicero langsam nach seiner gelben Kapuze und zog sie über seine weißen Haare. Dann packte er die Atemschutzmaske und das Beatmungsgerät und nahm es ab. Der Schweiß, der sich auf seiner Stirn geformt hatte, kühlte sofort und fror.
„Ich möchte, dass Sie wissen“, sagte der Franzose, „dass ich Sie und Ihre Arbeit respektiere, Cicero. Das hier macht mir keinen Spaß.“
„Renault – oder Cheval, wer auch immer Sie sein mögen – hören Sie auf Ihre Vernunft.“ Ohne das Atemgerät und die Maske hatte Cicero genug Kraft zurückerlangt, um eine Bitte zum Ausdruck zu bringen. Es konnte nur eine einzige Motivation geben, die den jungen Mann vor ihm zu einer solch grausamen Tat treiben würde. „Was auch immer Sie damit vorhaben, bitte, überdenken Sie es noch einmal. Es ist extrem gefährlich –“
Cheval seufzte. „Ich bin mir dessen bewusst, Doktor. Sehen Sie, ich war tatsächlich ein Student der Universität in Stockholm und ich verfolgte wirklich meinen Doktortitel. Letztes Jahr habe ich jedoch einen Fehler gemacht. Ich habe Fakultätsunterschriften auf einem Anforderungsformular gefälscht, um Proben eines seltenen Enterovirus zu bekommen. Sie haben es herausgefunden. Ich wurde exmatrikuliert.“
„Dann … dann lassen Sie mich Ihnen helfen“, bat Cicero. „I-ich kann eine solche Anfrage unterschreiben. Ich kann Sie bei Ihrer Forschungsarbeit unterstützen. Alles außer dem …“
„Forschung“, sagte Cheval leise. „Nein, Doktor. Ich bin nicht hinter der Forschung her. Meine Leute warten und sie sind keine geduldigen Männer.“
Ciceros Augen füllten sich mit Tränen. „Es wird nichts Gutes dabei herauskommen. Das wissen Sie.“
„Sie liegen falsch“, sagte der junge Mann. „Viele werden sterben, ja. Aber sie werden ehrenhaft sterben und den Weg für eine bessere Zukunft ebnen.“ Cheval wandte sich ab. Er wollte den freundlichen alten Doktor nicht erschießen. „Aber in einem Punkt hatten Sie recht. Meine Claudette, sie ist echt. Und Abwesenheit lässt die Liebe tatsächlich wachsen. Ich muss jetzt los, Cicero, und Sie auch. Aber ich respektiere Sie und bin bereit, Ihnen eine letzte Bitte zu gewähren. Gibt es irgendetwas, was Sie zu Ihrer Phoebe sagen möchten? Sie haben mein Wort, ich werde die Nachricht übermitteln.“
Cicero schüttelte langsam seinen Kopf. „Es gibt nichts, was ich ihr sagen möchte, das so wichtig sein könnte, ein Monster wie Sie in ihre Richtung zu schicken.“
„Also gut. Auf Wiedersehen Doktor.“ Cheval hob die PA-15 und feuerte einen einzelnen Schuss in Ciceros Stirn. Die Wunde schäumte, als der ältere Arzt taumelte und auf der Tundra zusammenbrach.
In der atemberaubenden Stille, die folgte, nahm sich Cheval einen Moment, kniete sich hin und murmelte ein kurzes Gebet. Dann machte er sich wieder an die Arbeit.
Er wischte die Fingerabdrücke und das Pulver von der Waffe und schleuderte sie in den fließenden, eisigen Kolyma. Dann rollte er die vier Leichen in das Loch zu Dr. Scott. Mit einer Schaufel und einer Hacke verbrachte er die nächsten neunzig Minuten damit, sie und den freiliegenden, zersetzenden Arm mit teilweise gefrorenem Dreck zu bedecken. Er nahm die Ausgrabungsstätte auseinander, zog die Pfähle heraus und riss das Absperrband ab. Er nahm sich Zeit, arbeitete akribisch – niemand würde für die nächsten acht bis zwölf Stunden überhaupt versuchen, das Forschungsteam zu kontaktieren und es würde mindestens vierundzwanzig Stunden dauern, bevor die WHO jemanden zur Ausgrabungsstätte schickte. Eine Untersuchung würde sicherlich die vergrabenen Leichen aufdecken, aber Cheval wollte es ihnen nicht leicht machen. Schließlich nahm er die Glasampullen, die die Proben des zersetzenden Arms enthielten, und schob sie vorsichtig nacheinander in die sicheren Schaumstoffröhren in der Edelstahlbox, wobei er sich bewusst war, dass jede Einzelne von ihnen das Potenzial hatte, extrem tödlich zu sein. Dann versiegelte er die vier Verschlüsse des Behälters und trug die Proben zurück zum Lager. Im provisorischen Reinraum trat Cheval in die mobile Dekontaminierungsdusche. Sechs Düsen sprühten ihn aus jedem Winkel mit heißem Wasser und einem eingebauten Emulgierungsmittel ab. Als er fertig war, zog er vorsichtig und methodisch den gelben Schutzanzug aus und ließ ihn auf dem Zeltboden liegen. Es war möglich, dass sein Haar oder sein Speichel, Faktoren um ihn zu identifizieren, am Anzug sein konnten – aber er hatte noch einen letzten Schritt vor sich.
Im Kofferraum von Ciceros Geländewagen befanden sich zwei rechteckige rote Benzinkanister. Er brauchte nur einen, um zurück zur Zivilisation zu gelangen. Den anderen schüttete er großzügig über den Reinraum, die vier Neoprenzelte und die Segeltuchüberdachung.
Dann zündete er das Feuer an. Die Flamme stieg schnell und augenblicklich auf und schickte schwarzen, öligen Rauch in den Himmel. Cheval stieg mit dem stählernen Probenbehälter in den Jeep und fuhr davon. Er fuhr nicht schnell und schaute auch nicht in den Rückspiegel, um das Lager brennen zu sehen. Er nahm sich Zeit.
Imam Khalil würde ihn erwarten. Aber der junge Franzose hatte noch viel zu tun, bevor der Virus bereit war.