Читать книгу Zielobjekt Null - Джек Марс - Страница 7

KAPITEL DREI

Оглавление

Wie geht es Ihnen heute Abend, Sir?“, fragte die Nachtschwester höflich, als sie sein Krankenzimmer betrat. Er wusste, ihr Name war Elena, und sie war Schweizerin, obwohl sie mit ihm auf Englisch sprach. Sie war zierlich und jung, viele würden sie sogar als hübsch und fröhlich bezeichnen.

Rais antwortete nicht. Das tat er nie. Er beobachtete lediglich, wie sie einen Styroporbecher auf seinen Nachttisch stellte, und sich der Inspektion seiner Wunden widmete. Er wusste, dass sie ihre Fröhlichkeit dazu nutzte, ihre Angst zu überspielen.

Er wusste, dass sie es, trotz der zwei bewaffneten Wachen, die jede seiner Bewegungen beobachteten, nicht mochte, mit ihm in einem Raum allein zu sein. Sie mochte es nicht, ihn zu behandeln oder auch nur mit ihm zu sprechen. Niemand mochte es.

Die Krankenschwester, Elena, inspizierte vorsichtig seine Wunden. Er konnte spüren, dass es sie nervös machte, so nah bei ihm zu sein.  Sie wusste, was er getan hatte; dass er im Namen Amuns getötet hatte.

Sie hätte sogar noch mehr Angst, wenn sie wüsste, wie viele es waren, dachte er trocken.

„Ihre Wunden heilen gut“, sagte sie. „Schneller als erwartet“.  Das sagte sie jeden Abend zu ihm, was er als „hoffentlich verlassen Sie uns bald“ verstand.

Das waren für Rais keine guten Nachrichten, denn wenn er endlich gesund genug wäre, um das Krankenhaus zu verlassen, würde er wahrscheinlich in ein CIA-Gefängnis in der Wüste gebracht werden. In ein feuchtes, schreckliches Loch im Boden, wo ihm noch viel mehr Wunden zugefügt werden würden, während sie ihn folterten, um Informationen aus ihm herauszuquetschen.

Als Amun bestehen wir. Das war für mehr als ein Jahrzehnt sein Mantra gewesen, aber dem war nun nicht mehr so. Soweit Rais wusste, gab es Amun nicht mehr; ihr Plan in Davos war gescheitert, die Anführer waren entweder festgenommen oder getötet worden und jede Strafverfolgungsbehörde auf der Welt wusste über die Markierung, die Hieroglyphe von Amun, welche den Mitgliedern in die Haut gebrannt wurde, Bescheid. Rais durfte nicht fernsehen, aber er erhielt seine Informationen von seinen bewaffneten Polizeiwachen, die sich oft unterhielten (und das meist für lange Zeit, sehr zu Rais’ Ärgernis).

Er hatte die Markierung aus seiner Haut geschnitten, bevor er ins Krankenhaus von Sion gebracht wurde, aber es stellte sich als umsonst heraus; sie wussten bereits, wer er war, und zumindest ein paar der Dinge, die er getan hatte. Die gezackte, fleckige, rosafarbene Narbe, wo sich einst die Markierung an seinem Arm befunden hatte, war eine tägliche Erinnerung daran, dass es Amun nicht mehr gab, und deshalb schien es passend zu sein, dass er sein Mantra änderte.

Ich bestehe.

Elena nahm den Styroporbecher, der Eiswasser und einen Strohhalm enthielt. „Möchten Sie etwas trinken?“

Rais sagte nichts, er beugte sich jedoch leicht nach vorn und öffnete seine Lippen. Sie führte den Strohhalm mit vollkommen ausgestrecktem Arm und Ellbogen vorsichtig zu seinem Mund, während sie ihren Körper zurücklehnte. Sie hatte Angst; vor vier Tagen hatte Rais versucht, Dr. Gerber zu beißen. Seine Zähne hatten den Nacken des Arztes gestreift, sie waren allerdings noch nicht einmal durch die Haut gedrungen. Dennoch hatte er sich dadurch einen Schlag gegen den Kiefer von einem seiner Wächters eingehandelt.

Rais versuchte diesmal nichts. Er nahm lange Schlucke durch den Strohhalm und genoss die Angst des Mädchens und die strenge Angespanntheit der zwei Polizeiwachen, die hinter ihr zusahen. Als er genug hatte, lehnte er sich zurück. Sie stieß ein hörbar erleichtertes Seufzen aus.

Ich bestehe.

Er hatte in den letzten vier Wochen eine ganze Menge ertragen. Er hatte eine Nephrektomie durchgemacht, um seine durchstochene Niere zu entfernen. Er hatte sich einer zweiten Operation unterzogen, bei der ein Teil seiner gerissenen Leber entnommen wurde. Er hatte eine dritte Prozedur ertragen, um sicherzustellen, dass keine seiner anderen lebenswichtigen Organe beschädigt worden waren.

Er hatte mehrere Tage auf der Intensivstation verbracht, bevor er in eine chirurgische Abteilung verlegt wurde, aber er verließ niemals das Bett, an welches er mit beiden Handgelenken gefesselt war. Die Krankenschwestern drehten ihn, wechselten seine Bettpfanne und machten es ihm so bequem, wie es ihnen möglich war, aber es wurde ihm nie erlaubt, sich aufzurichten, zu stehen, oder sich aus freien Stücken zu bewegen.

Die sieben Stichverletzungen an seinem Rücken, und die eine in seiner Brust, waren genäht worden und heilten gut, wie die Nachtschwester Elena regelmäßig wiederholte.

Trotzdem gab es wenig, was die Ärzte gegen die Nervenschäden tun konnten. Manchmal wurde sein gesamter Rücken taub, bis hinauf zu seinen Schultern und teilweise sogar hinunter bis zu seinem Bizeps. Er fühlte nichts, so als würden diese Teile seines Körpers zu jemand anderem gehören.

Manchmal wachte er mit einem Schrei in der Kehle aus einem tiefen Schlaf auf, wenn ein stechender Schmerz wie ein Blitz durch seinen Körper schoss. Es hielt nie lange an, aber wenn es passierte, war es stark, intensiv und tauchte unregelmäßig auf. Die Ärzte nannten dies „Stechen“, eine Nebenwirkung, die manchmal bei Menschen auftrat, die so schwerwiegende Nervenschäden erlitten hatten wie er.

Sie versicherten ihm, dass dieses Stechen mit der Zeit oft verblasse und sogar ganz aufhören könnte, aber sie konnten ihm nicht sagen, wann dies geschehen würde. Stattdessen sagten sie ihm, dass er Glück gehabt habe, dass seine Wirbelsäule nicht beschädigt wurde. Sie sagten ihm, dass er Glück habe, überhaupt am Leben zu sein.

Ja, Glück, dachte er bitter. Glück, dass er nur gesund werden würde, um in die wartenden Arme des CIA-Gefängnisses geworfen zu werden. Glück, dass alles, wofür er gearbeitet hatte, ihm im Laufe eines einzigen Tages genommen wurde. Glück, nicht nur einmal, sondern zweimal von Kent Steele besiegt worden zu sein – einem Mann, den er mit jeder Faser seines Daseins hasste und verabscheute.

Ich bestehe.

Bevor sie seinen Raum verließ, bedankte sich Elena bei den zwei Wachen auf Deutsch, und versprach, ihnen Kaffee zu bringen, wenn sie wiederkam. Als sie gegangen war, nahmen sie ihre Posten vor seiner Tür wieder ein, die immer offenstand, und führten ihre Unterhaltung fort. Sie sprachen über ein kürzlich stattgefundenes Fußballspiel. Rais’ Deutsch war recht gut, aber die Einzelheiten im schweizerdeutschen Dialekt und die Geschwindigkeit, mit der sie sprachen, ließen ihn manchmal nur wenig verstehen. Die Wachen der Tagesschicht sprachen oft Englisch, wodurch er die meisten Neuigkeiten über das Geschehen außerhalb seines Krankenzimmers erhielt.

Beide Männer waren Mitglieder der schweizerischen Bundespolizei, die entschieden hatte, dass er zu jedem Zeitpunkt, vierundzwanzig Stunden am Tag, zwei Wachen vor seinem Zimmer stehen hatte.  Sie wechselten alle acht Stunden die Schicht, mit einem anderen Wachenpaar am Freitag und am Wochenende.

Es waren immer zwei, jederzeit; wenn eine der Wachen zur Toilette musste oder sich etwas zu essen holte, mussten sie zuerst unten anrufen, um eine der Krankenhauswachen zu ihnen hinaufzuschicken, auf dessen Ankunft sie dann erst warten mussten.

Die meisten Patienten, die sich in seinem Zustand befanden und deren Genesung so weit fortgeschritten war, wären wohl auf eine normale Station verlegt worden, aber Rais war in der Unfallklinik geblieben. Es war, mit den verschlossenen Bereichen und bewaffneten Wachen, eine sicherere Einrichtung.

Es waren immer zwei, jederzeit. Und Rais hatte entschieden, dass er dies zu seinem Vorteil nutzen würde.

Er hatte viel Zeit gehabt, um seine Flucht zu planen, besonders in den letzten paar Tagen, als seine Medikamente verringert wurden und er klarer denken konnte.

Er ging in seinem Kopf immer wieder verschiedene Szenarien durch. Er merkte sich Zeitpläne und belauschte Gespräche. Es würde nicht mehr lange dauern, bevor sie ihn entließen – bestenfalls ein paar Tage.

Er musste handeln und entschied sich dafür, es heute Nacht zu tun.

Seine Wachen waren in den Wochen, in denen sie vor seiner Tür gestanden hatten, selbstgefällig geworden. Sie nannten ihn „Terrorist“ und wussten, dass er ein Mörder war. Abgesehen von dem kleinen Vorfall mit Dr. Gerber vor ein paar Tagen hatte Rais jedoch nichts anderes getan, als still dazuliegen, meistens ohne sich zu bewegen, und den Krankenhausmitarbeitern zu erlauben, ihre Pflichten zu erfüllen. Wenn sich niemand bei ihm im Raum befand, schenkten ihm die Wachen nicht mehr Aufmerksamkeit, als gelegentlich einen Blick auf ihn zu werfen.

Er hatte nicht versucht, den Arzt aus Gehässigkeit oder Wut zu beißen, sondern aus Notwendigkeit. Gerber hatte sich über ihn gelehnt und die Wunde an seinem Arm inspiziert, an der er die Markierung Amuns herausgeschnitten hatte – die Seitentasche des weißen Arztkittels hatte die Finger von Rais’ gefesselter Hand gestreift. Er machte einen Satz und schnappte mit dem Kiefer und der Arzt sprang erschrocken zurück, als die Zähne seinen Nacken streiften.

Und Rais’ Hand umklammerte dabei fest seinen Füllfederhalter. Eine der diensthabenden Wachen hatte ihm einen ordentlichen Schlag ins Gesicht verpasst und in dem Moment, in dem ihn der Schlag traf, hatte Rais den Stift unter sein Bettlaken geschoben und ihn unter seinem linken Oberschenkel versteckt. Dort war er für drei Tage verblieben, versteckt unter der Decke, bis zur letzten Nacht. Er hatte ihn hervorgeholt, während die Wachen auf dem Flur plauderten. Mit einer Hand, ohne zu sehen, was er tat, hatte er die zwei Hälften des Stiftes auseinandergenommen und die Patrone entfernt. Dabei arbeitete er langsam und vorsichtig, sodass die Tinte nicht verspritzt wurde. Der Stift war klassisch, mit goldener Schreibspitze, welche ein gefährliches, spitzes Ende hatte. Diese Hälfte schob er wieder unter die Bettdecke. Die hintere Hälfte hatte eine goldene Taschenklammer, welche er vorsichtig mit dem Daumen zurückdrückte, bis sie abbrach.

Die Manschette an seinem linken Handgelenk erlaubte ihm etwas weniger als dreißig Zentimeter Bewegungsfreiraum für seinen Arm, aber wenn er seine Hand bis zum Anschlag ausstreckte, dann konnte er die ersten paar Zentimeter des Nachttisches erreichen. Die Tischplatte bestand aus einer einfachen, ebenen Holzspanplatte, aber die Unterseite war rau wie Sandpapier. In vier äußerst strapaziösen und schmerzhaften Stunden in der Nacht zuvor hatte Rais die Klammer des Füllfederhalters vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, vor und zurück an der Unterseite des Tisches entlanggerieben. Mit jeder Bewegung hatte er befürchtet, die Klammer könnte ihm aus der Hand rutschen, oder die Wächter könnten eine Bewegung bemerken, aber sein Zimmer war dunkel und die beiden waren in eine Unterhaltung vertieft. Er arbeitete unnachgiebig, bis er das Ende der Klammer zu einer nadelähnlichen Spitze geschärft hatte. Dann schob er die Klammer ebenfalls unter die Bettdecke, direkt neben die Spitze des Füllfederhalters.

Er wusste aus Unterhaltungsausschnitten, die er belauscht hatte, dass heute Nacht drei Nachtschwestern auf der chirurgischen Station tätig sein würden. Darunter war auch Elena, mit zwei anderen Schwestern, die auf Bereitschaft waren, sollten sie benötigt werden. Das bedeutete, dass es mit ihnen und den beiden Polizeiwachen mindestens fünf Personen gab, mit denen er fertig werden musste, maximal aber sieben.

Keiner der Krankenhausmitarbeiter mochte es, sich um ihn kümmern zu müssen, da sie wussten, wer er war, und sie schauten daher nur sehr unregelmäßig nach ihm. Jetzt, da Elena gerade bei ihm gewesen und wieder gegangen war, wusste er, dass er zwischen sechzig und neunzig Minuten Zeit hatte, bevor sie zurückkommen würde.

Sein linker Arm wurde von einer einfachen Krankenhausschlinge in Position gehalten, welche Fachleute häufig als „Vierpunkter“ bezeichneten. Es war eine weiche, blaue Manschette um sein Handgelenk mit einem engen, weißen, zugeschnallten Nylonriemen, der mit dem anderen Ende stramm am Stahlgeländer seines Bettes befestigt war. Aufgrund des Ausmaßes seiner Verbrechen war seine rechte Hand mit Handschellen gefesselt worden. Die Wachen außerhalb seines Zimmers unterhielten sich auf Deutsch. Rais hörte aufmerksam zu; der Linke, Luca, schien sich zu beklagen, dass seine Frau zu dick wurde. Rais spottete; Luca war selbst alles andere als durchtrainiert. Der Andere, ein Mann namens Elias, war jünger und sportlich, trank Kaffee allerdings in Mengen, die für die meisten Menschen tödlich wären. Jede Nacht, zwischen neunzig Minuten und zwei Stunden nach Schichtbeginn, rief Elias den Nachtwächter an, damit er zur Toilette gehen konnte. Während er fort war, ging Elias für eine Zigarette nach draußen, was also mit der Toilettenpause bedeutete, dass er gewöhnlich für acht bis elf Minuten abwesend war. Rais hatte die letzten Nächte damit verbracht, leise die Sekunden zu zählen, die Elias abwesend war. Es war ein sehr enges Zeitfenster, aber eines, auf das er nun vorbereitet war.

Er griff unter seiner Bettdecke nach der geschärften Klammer und hielt sie zwischen den Fingerspitzen seiner linken Hand. Dann warf er sie vorsichtig in einem Bogen über seinen Körper. Sie landete geschickt in der Handfläche seiner rechten Hand. Als Nächstes käme der schwierigste Teil seines Plans. Er zog an seinem Handgelenk, sodass die Handschellenkette gespannt war und während er sie so hielt, drehte er seine Hand und drückte die geschärfte Spitze der Klammer in das Schlüsselloch der Handschelle, die am Stahlgeländer befestigt war. Es war schwierig und umständlich, aber er war schon einmal aus Handschellen entkommen; er wusste, dass der Verriegelungsmechanismus im Inneren so konstruiert war, dass ein Universalschlüssel fast jedes Paar öffnen konnte, und wenn man die inneren Funktionen eines Schlosses kannte, dann bedeutete es einfach nur, dass man die richtigen Bewegungen machen musste, um die Metallstifte im Inneren zu lösen.

Er musste die Kette jedoch straff halten, damit die Manschette nicht gegen das Geländer klapperte und seine Wächter alarmierte.

Er brauchte fast zwanzig Minuten. Drehen, wenden, er machte eine kurze Pause, um seine schmerzenden Finger zu entlasten und versuchte es erneut, aber schließlich klickte das Schloss und die Handschelle öffnete sich. Rais löste sie vorsichtig vom Bettgestell.

Eine Hand war frei.

Er streckte die Hand aus und löste schnell die Manschette an seinem linken Arm.

Beide Hände waren frei.

Er versteckte die Klammer unter seiner Bettdecke und nahm die obere Hälfte des Stiftes heraus, die er so in seiner Hand hielt, dass nur die scharfe Spitze herausragte. Außerhalb seines Zimmers stand der jüngere Wächter plötzlich auf. Rais hielt den Atem an und tat so, als schliefe er, als Elias hineinsah.

„Rufst du bitte Francis an“, sagte Elias auf Deutsch. „Ich muss pissen.“

„Sicher“, sagte Luca gähnend. Er kontaktierte den Nachtwächter, der normalerweise hinter der Rezeption im ersten Stock stationiert war, über sein Funkgerät. Rais hatte Francis schon öfter gesehen; er war ein älterer Mann, Ende fünfzig, vielleicht Anfang sechzig, und relativ schmal gebaut. Er trug eine Waffe, aber seine Bewegungen waren langsam.

Es war genau das, worauf Rais gehofft hatte. Er wollte in seinem Genesungszustand nicht gegen den jüngeren Polizeibeamten kämpfen müssen.

Drei Minuten später tauchte Francis in seiner weißen Uniform mit schwarzer Krawatte auf und Elias eilte zur Toilette. Die beiden Männer vor der Tür begrüßten sich, als Francis sich mit einem schweren Seufzen auf Elias’ Plastikstuhl niederließ.

Es war an der Zeit zu handeln.

Rais rutschte vorsichtig zum Ende des Bettes hinunter und stellte seine nackten Füße auf die kalten Fliesen. Es war einige Zeit vergangen, seit er seine Beine benutzt hatte, aber er war zuversichtlich, dass seine Muskeln nicht zu verkümmert waren, um zu tun, wofür er sie brauchte.

Er stand vorsichtig auf, leise – und seine Knie knickten ein. Er griff zur Unterstützung nach der Bettkante und warf einen Blick zur Tür hinüber. Niemand kam; die Unterhaltungen wurden fortgesetzt. Die beiden Männer hatten nichts gehört.

Rais stand außer Atem und zitternd da und machte ein paar leise Schritte. Seine Beine waren schwach, aber er war immer stark gewesen, wenn es nötig war und jetzt gerade musste er stark sein. Sein Krankenhausgewand mit offenem Rücken wehte um ihn herum. Das obszöne Outfit würde ihn nur behindern, also zog er es aus und stand nun splitternackt im Krankenhauszimmer.

Mit der Stiftspitze in seiner Faust stellte er sich hinter die geöffnete Tür und stieß ein leises Pfeifen aus.

Beide Männer hatten es offensichtlich gehört, da man das Quietschen ihrer Plastikstuhlbeine auf dem Fußboden hören konnte, als sie von ihren Stühlen aufstanden. Lucas Körper füllte den Türrahmen, als er in den dunklen Raum hineinschaute.

Mein Gott“, flüsterte er, als er eilig ins Zimmer trat und das leere Bett bemerkte.

Francis kam ihm mit seiner Hand am Holster seiner Pistole hinterher.

Sobald der ältere Wächter über die Türschwelle getreten war, sprang Rais nach vorn. Er rammte die Spitze des Stiftes in Lucas Hals und drehte sie, wobei er einen Teil seiner Halsschlagader aufschlitzte. Reichlich Blut spritze aus der offenen Wunde, es traf sogar die Wand auf der gegenüberliegenden Seite.

Er ließ den Stift los und stürzte sich auf Francis, der Schwierigkeiten hatte, seine Waffe aus der Halterung zu befreien. Öffnen, aus der Halterung ziehen, entsichern, zielen – die Reaktion des älteren Mannes war langsam und es kostete ihn kostbare Sekunden, die er nicht hatte.

Rais verpasste ihm zwei Schläge, den Ersten direkt unter den Bauchnabel nach oben, unmittelbar gefolgt von einem Schlag auf den Solarplexus. Der eine drückte Luft in die Lunge, während der andere die Luft hinausdrückte und der plötzliche Effekt dessen auf den verwirrten Körper, war verschwommene Sicht und manchmal Bewusstlosigkeit.

Francis taumelte, er konnte nicht atmen und sank auf seine Knie. Rais wirbelte hinter ihm herum und brach dem Wächter mit einer sauberen Bewegung den Hals.

Luca hielt sich mit beiden Händen den Hals, während er verblutete; ein Gurgeln und leichtes Keuchen stiegen in seiner Kehle auf. Rais sah zu und zählte die elf Sekunden, bevor der Mann das Bewusstsein verlor. Wenn der Blutfluss nicht gestoppt würde, dann wäre er in weniger als einer Minute tot.

Er entledigte beide Wachen schnell ihrer Waffen und legte sie auf das Bett. Die nächste Phase seines Plans würde nicht leicht werden; er musste sich unbemerkt zur Abstellkammer den Gang hinunterschleichen, in dem es frische Kittel gab. Er konnte das Krankenhaus schlecht in Francis’ erkennbarer oder in Lucas nun blutgetränkter Uniform verlassen.

Er hörte eine männliche Stimme den Flur entlangkommen und erstarrte.

Es war der andere Wächter, Elias. So schnell? Angst breitete sich in Rais’ Brust aus. Dann hörte er eine zweite Stimme – die von Nachtschwester Elena. Anscheinend hatte Elias seine Zigarettenpause ausfallen lassen, um mit der hübschen jungen Krankenschwester zu plaudern, und nun kamen sie beide den Flur entlang in die Richtung seines Zimmers gelaufen. Sie würden das Zimmer in wenigen Augenblicken erreichen. Er hätte es vorgezogen, Elena nicht zu töten. Aber wenn er die Wahl zwischen ihm oder ihr hatte, dann würde sie sterben müssen.

Rais nahm eine der Waffen vom Bett. Es war eine Sig P220, ganz in schwarz, .45 Kaliber. Er nahm sie in seine linke Hand. Ihr Gewicht fühlte sich willkommen und vertraut an, so wie eine ehemalige Geliebte. Mit seiner Rechten griff er nach der offenen Seite der Handschellen. Und dann wartete er.

Die Stimmen im Flur verstummten.

„Luca?“, rief Elias. „Francis?“ Der junge Polizist löste den Verschluss seines Holsters und positionierte seine Hand über der Pistole, als er den dunklen Raum betrat. Elena schlich hinter ihm hinein. Elias’ Augen weiteten sich entsetzt beim Anblick der beiden toten Männer.

Rais schlug den Haken der geöffneten Handschellen in die Seite des Halses des jungen Mannes und riss dann seinen Arm nach hinten. Das Metallstück bohrte sich in sein Handgelenk und die Wunde an seinem Rücken brannte, aber er ignorierte den Schmerz, als er die Kehle des jungen Mannes von seinem Hals riss. Eine beträchtliche Menge Blut spritze auf den Arm des Killers.

Mit seiner linken Hand drückte er die Sig gegen Elenas Stirn.

„Schrei nicht“, sagte er schnell und leise. „Rufe niemanden. Bleib still und du wirst leben. Mache auch nur ein einziges Geräusch und du wirst sterben. Verstanden?“

Ein leises Quieken entwich Elenas Lippen, als sie das Schluchzen unterdrückte, das in ihr aufstieg. Sie nickte, als Tränen in ihre Augen stiegen. Sie nickte noch immer, als Elias mit seinem Gesicht flach auf den gefliesten Boden fiel.

Er sah sie von oben bis unten an. Sie war zierlich, aber ihre Kleidung war etwas ausgeleiert und der Bund war elastisch. „Zieh dich aus“, sagte er zu ihr.

Elenas Mund fiel vor Entsetzen auf.

Rais lächelte. Er konnte die Verwirrung jedoch verstehen; er war schließlich immer noch nackt. „Ich bin keins dieser Monster“, versicherte er ihr. „Ich brauche Kleidung. Ich werde nicht noch einmal fragen.“

Die junge Frau zitterte, zog ihr Oberteil und dann ihre Hose über ihre weißen Schuhe aus, während sie neben Elias’ Blutlache stand. Rais nahm die Kleidungsstücke entgegen und zog sie etwas unbeholfen einhändig an, während er die Sig auf das Mädchen gerichtet hielt. Die Kleidung war eng, die Hose etwas zu kurz, aber es würde reichen. Er steckte die Pistole in den hinteren Hosenbund und nahm die andere Waffe vom Bett.

Elena stand in ihrer Unterwäsche da und umklammerte ihre Körpermitte. Rais bemerkte es; er hob sein Patientengewand auf und reichte es ihr. „Bedecke dich. Dann lege dich ins Bett.“ Als sie tat, wie er ihr befohlen hatte, fand er einen Schlüsselbund an Lucas Gürtel und öffnete seine andere Handschelle. Dann schlang er die Kette um das Stahlgeländer des Bettes und fesselte Elenas Hände damit.

Er legte die Schlüssel auf die äußerste Kante des Nachttisches, außerhalb ihrer Reichweite. „Jemand wird kommen und dich befreien, nachdem ich gegangen bin“, sagte er zu ihr. „Aber zunächst habe ich ein paar Fragen. Du musst ehrlich zu mir sein, denn wenn du es nicht bist, dann komme ich zurück und bringe dich um. Verstehst du?“

Sie nickte verzweifelt und Tränen rollten über ihre Wangen.

„Wie viele andere Krankenschwestern sind heute Nacht auf dieser Station?“

„B-bitte verletzen Sie sie nicht“, stammelte sie.

„Elena. Wie viele Krankenschwestern sind heute Nacht auf dieser Station?“, wiederholte er.

„Z-zwei …“, schniefte sie. „Thomas und Mia. Aber Tom macht gerade Pause. Er wird vermutlich unten sein.“

„Okay.“ Das Namensschild, welches an seiner Brust befestigt war, hatte die ungefähre Größe einer Kreditkarte. Es hatte ein kleines Foto von Elena und einen schwarzen Magnetstreifen, der über die Länge der Rückseite verlief. „Ist dies nachts eine abgeschlossene Station? Und deine Karte, ist sie der Schlüssel?“

Sie nickte und schniefte wieder.

„Gut.“ Er steckte die zweite Pistole in seinen Hosenbund und kniete sich neben Elias Leiche. Dann zog er ihm beide Schuhe aus und rutschte mit seinen Füßen hinein. Sie waren etwas eng, aber gut genug, um zu fliehen. „Eine letzte Frage. Weißt du, was Francis fährt? Der Nachtwächter?“ Er deutete auf den toten Mann in weißer Uniform.

„I-ich bin mir nicht sicher. Einen … einen Geländewagen, glaube ich.“

Rais griff in Francis’ Taschen und zog einen Schlüsselbund hervor. Daran war ein elektronischer Anhänger; das würde helfen, das Fahrzeug zu finden. „Danke für deine Ehrlichkeit“, sagte er zu ihr. Dann riss er einen Streifen von der Ecke des Bettlakens ab und stopfte ihn in ihren Mund.

Der Flur war leer und hell beleuchtet. Rais hielt die Sig hinter seinem Rücken versteckt in der Hand, als er den Gang entlangschlich. Er führte zu einem breiteren Bereich mit einer u-förmigen Krankenschwesternkabine und dahinter zum Ausgang der Station. Eine Frau mit runden Brillengläsern und einem braunen Bobschnitt saß mit dem Rücken zu ihm am Computer.

„Drehen Sie sich bitte um“, sagte er zu ihr.

Die erschrockene Frau wirbelte herum und sah ihren Patienten/Gefangenen in einem Krankenhauskittel, mit einem blutbeschmierten Arm und einer Waffe, die auf sie gerichtet war. Sie bekam keine Luft und ihre Augen weiteten sich.

„Sie müssen Mia sein“, sagte Rais. Die Frau war wahrscheinlich um die vierzig, korpulent und hatte dunkle Ringe unter ihren großen Augen. „Hände hoch.“

Sie hob die Hände.

„Was ist mit Francis passiert?“, fragte sie leise.

„Francis ist tot“, antwortete Rais leidenschaftslos. „Wenn Sie ihm folgen wollen, tun Sie ruhig etwas Unüberlegtes. Wenn Sie leben wollen, hören Sie aufmerksam zu. Ich werde durch diese Tür gehen. Sobald sie sich hinter mir schließt, werden Sie langsam bis dreißig zählen. Dann gehen Sie in mein Zimmer. Elena lebt, aber sie braucht Ihre Hilfe. Danach können Sie das tun, wozu Sie in einer solchen Situation ausgebildet wurden. Verstehen Sie?“

Die Krankenschwester nickte einmal kräftig.

„Habe ich Ihr Wort dafür, dass Sie diese Anweisungen befolgen werden? Ich bevorzuge es, Frauen nicht zu töten, wenn ich es vermeiden kann.“

Sie nickte wieder, diesmal langsamer.

„Gut.“ Er ging um die Schwesternkabine herum, zog die Karte von seinem Kittel und schob sie durch den Kartenschlitz an der rechten Seite der Tür. Ein kleines Licht wechselte von rot auf grün und das Schloss klickte. Rais drückte die Tür auf, warf Mia, die sich nicht bewegt hatte, einen weiteren Blick zu und sah dann zu, wie sich die Tür hinter ihm schloss.

Und dann rannte er los.

Er eilte den Flur entlang und steckte dabei die Sig zurück in seine Hose. Er rannte die Treppe hinunter in den ersten Stock, nahm zwei Stufen auf einmal, und stürmte dann aus einer Seitentür in die Schweizer Nacht hinaus. Kühle Luft wusch wie eine reinigende Dusche über ihn und er nahm sich einen Augenblick Zeit, um frei zu atmen. Seine Beine schwankten und drohten, nachzugeben. Das Adrenalin seiner Flucht ließ rasch nach und seine Muskeln waren immer noch ziemlich schwach. Er zog Francis’ Schlüsselanhänger aus der Kitteltasche und drückte den roten Alarmknopf. Der Alarm eines SUVs ertönte und die Scheinwerfer blinkten. Er stellte ihn schnell ab und rannte hinüber. Sie würden nach diesem Auto suchen, das wusste er, aber er würde sich nicht für sehr lange darin aufhalten. Er würde es bald loswerden müssen, neue Kleidung finden und am Morgen zur Hauptpostfiliale gehen, wo er alles hatte, was er brauchte, um unter einer falschen Identität aus der Schweiz zu fliehen. Und sobald er konnte, würde er Kent Steele finden und töten.

Zielobjekt Null

Подняться наверх