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KAPITEL EINS

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Reid Lawson spähte zum zehnten Mal in weniger als zwei Minuten durch die Jalousien seines Heimbüros. Er wurde nervös; der Bus sollte inzwischen angekommen sein.

Sein Büro befand sich im zweiten Stock, im kleinsten der drei Schlafzimmer in ihrem neuen Zuhause in der Spruce Street in Alexandria, Virginia. Es war ein willkommener Kontrast zu dem engen, kastenförmigen Arbeitszimmer in der Bronx, welches eher der Größe eines Schranks geglichen hatte. Die Hälfte seiner Sachen war ausgepackt; der Rest befand sich immer noch in Kartons, welche im Raum verteilt standen. Seine Bücherregale waren aufgebaut, seine Bücher lagen jedoch in alphabetischer Ordnung aufeinandergestapelt auf dem Boden. Die einzigen Möbel, für die er sich Zeit genommen hatte, sie fertig aufzubauen, waren sein Schreibtisch und sein Computer.

Reid hatte sich selbst gesagt, dass heute der Tag sein würde, an dem er endlich alles sortierte und sein Büro aufräumen würde, fast einen ganzen Monat nach dem Einzug.

Er hatte es geschafft, eine Kiste auszupacken. Es war ein Anfang.

Der Bus ist nie spät, dachte er. Er ist immer zwischen dreiundzwanzig und fünfundzwanzig nach hier. Es ist drei Uhr einunddreißig.

Ich werde sie anrufen.

Er nahm sein Handy vom Schreibtisch und wählte Mayas Nummer. Er ging auf und ab und versuchte, nicht an all die schrecklichen Dinge zu denken, die seinen Mädchen auf dem Weg von der Schule zu ihrem Zuhause hätten passiert sein können.

Der Anruf wurde sofort zur Mailbox weitergeleitet.

Reid eilte die Treppe zum Eingangsbereich hinunter und zog eine leichte Jacke an; der März in Virginia war deutlich angenehmer als in New York, aber immer noch etwas kühl. Mit seinem Autoschlüssel in der Hand drückte er den vierstelligen Sicherheitscode in die Bedienungsfläche an der Wand, um das Alarmsystem in den „Außer Haus“ Modus zu schalten. Er kannte die genaue Route, die der Bus fuhr; er konnte sie bis zur Highschool zurückverfolgen, wenn es notwendig war und …

Sobald er die Haustür öffnete, kam der gelbe Bus am Ende seiner Einfahrt zum Stehen.

„Erwischt“, murmelte Reid. Er konnte sich schlecht wieder ins Haus schleichen. Er war zweifelslos gesehen worden. Seine zwei Teenagermädchen stiegen aus dem Bus und kamen den Gehweg entlang, bevor sie kurz vor der Haustür stehenblieben, die er nun, als der Bus davonfuhr, blockierte.

„Hi Mädels“, sagte er so heiter wie möglich. „Wie war die Schule?“

Seine Älteste, Maya, warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als sie ihre Arme vor ihrer Brust verschränkte. „Wo gehst du hin?“

„Ähm … die Post holen“, sagte er zu ihr.

„Mit deinem Autoschlüssel?“ Sie deutete auf seine Faust, die tatsächlich die Schlüssel des silbernen SUV umschloss. „Probier’s noch mal.“

Ja, dachte er. Erwischt. „Der Bus war spät dran. Und ihr wisst, was ich gesagt habe, wenn ihr spät dran seid, dann müsst ihr mich anrufen. Und wieso bist du nicht an dein Handy gegangen? Ich habe versucht, anzurufen –“

„Sechs Minuten, Dad.“ Maya schüttelte ihren Kopf. „Sechs Minuten sind nicht ‚spät’. Sechs Minuten liegen am Verkehr. Es gab einen Blechschaden auf der Vine Street.“

Er ging einen Schritt zur Seite, als sie das Haus betraten. Seine jüngere Tochter Sara gab ihm eine kurze Umarmung und murmelte: „Hi Daddy.“

„Hallo Schatz.“ Reid zog die Tür hinter ihnen zu, schloss ab und drückte dann die Tasten des Alarmsystems, bevor er sich an Maya wandte. „Verkehr hin oder her, ich möchte, dass ihr mir Bescheid sagt, wenn ihr spät dran seid.“

„Du bist neurotisch“, murmelte sie.

„Entschuldige bitte?“ Reid blinzelte überrascht. „Du scheinst Neurose mit Besorgnis zu verwechseln.“

„Oh, bitte“, gab Maya zurück. „Du hast uns seit Wochen nicht aus den Augen gelassen. Nicht, seit du zurück bist.“

Sie hatte wie immer recht. Reid war schon immer ein beschützender Vater gewesen und er war dies noch mehr, seit seine Frau Kate vor zwei Jahren gestorben war. Aber in den letzten vier Wochen war er zum waschechten Helikoptervater geworden, der über seinen Kindern schwebte und (wenn er ehrlich mit sich war) vielleicht ein wenig aufdringlich schien.

Aber er war nicht bereit, das zuzugeben.

„Mein liebes, süßes Kind“, tadelte er, „während du erwachsen wirst, wirst du eine sehr bittere Wahrheit lernen müssen – dass du manchmal falsch liegst. Und genau jetzt liegst du falsch.“ Er grinste, sie allerdings nicht. Es lag in seiner Natur, zu versuchen, die Spannung mit seinen Kindern zu entschärfen, aber Maya war nicht bereit dazu.

„Was auch immer.“ Sie marschierte durch den Flur und in die Küche. Sie war sechzehn und für ihr Alter erstaunlich intelligent – manchmal, so schien es, zu intelligent für ihr eigenes Wohl. Sie hatte Reids dunkles Haar und seinen Hang zu einer dramatischen Debatte geerbt, aber in letzter Zeit schien sie eine Neigung zu jugendlicher Existenzangst oder zumindest einer schlechten Laune entwickelt zu haben. Dies war vermutlich auf eine Kombination aus Reids ständigem Herumlungern und offensichtlicher Fehlinformation über die Ereignisse, die vor einem Monat passiert waren, zurückzuführen. Sara, die Jüngere der beiden, stapfte die Treppe hinauf. „Ich werde mit den Hausaufgaben anfangen“, sagte sie leise.

Sie hatten ihn im Flur alleine stehengelassen. Reid seufzte und lehnte sich gegen die weiße Wand. Sein Herz sorgte sich um seine Mädchen. Sara war vierzehn und generell lebhaft und süß, aber wann immer das Thema aufkam, was im Februar passiert war, verstummte sie, oder verließ schnell den Raum. Sie wollte einfach nicht darüber reden. Vor ein paar Tagen hatte Reid versucht, sie dazu zu bringen, einen Therapeuten aufzusuchen, eine neutrale dritte Person, mit der sie sprechen konnte. (Natürlich musste es ein Arzt sein, der mit der CIA verbunden war). Sara lehnte mit einem einfachen und kurzen „Nein, danke“ alles ab und eilte aus dem Zimmer, bevor Reid noch ein weiteres Wort aussprechen konnte.

Er hasste es, die Wahrheit vor seinen Kindern verbergen zu müssen, aber es war notwendig. Außerhalb der Agentur und Interpol konnte niemand die Wahrheit wissen – dass er vor knapp einem Monat einen Teil seines Gedächtnisses als CIA-Agent unter dem Namen Kent Steele – unter Kollegen und Feinden auch bekannt als Agent Null – wiedererlangt hatte. Ein experimenteller Gedächtnisunterdrücker in seinem Kopf hatte dazu geführt, dass er für fast zwei Jahre alles über Kent Steele und seine Arbeit als Agent vergessen hatte, bis das Gerät aus seinem Nacken geschnitten wurde.

Die meisten seiner Erinnerungen als Kent hatte er immer noch nicht zurückerlangt. Sie waren irgendwo da drin, eingeschlossen in den Nischen seines Gehirns, aber sie tropften wie ein undichter Wasserhahn langsam zurück, meist ausgelöst von einem visuellen oder verbalen Hinweis. Die grausame Entfernung des Gedächtnisunterdrückers hatte etwas mit seinem limbischen System angerichtet, sodass die Erinnerungen davon abgehalten wurden, alle auf einmal zurückzukommen – und Reid war meistens froh darüber. Darauf basierend, was er über sein Leben als Agent Null wusste, war er sich nicht sicher, ob er sie überhaupt alle zurückhaben wollte. Sein größter Zweifel war, dass er sich an etwas erinnern würde, an das er nicht erinnert werden wollte, an eine schmerzliche Trauer oder schreckliche Tat, mit der Reid Lawson niemals leben konnte.

Außerdem war er seit dem Vorfall im Februar sehr beschäftigt gewesen. Die CIA hatte ihm dabei geholfen, seine Familie umzusiedeln; nach seiner Rückkehr in die USA wurden er und seine Mädchen nach Alexandria in Virginia gebracht, was nur eine kurze Fahrt von Washington entfernt war. Die Behörde half ihm, eine Stelle als Zeitvertragsprofessor an der Georgetown-Universität zu bekommen. Seitdem war alles wie ein Wirbelwind an ihnen vorbeigezogen: die Mädchen in der neuen Schule einzuschreiben, sich an seinen neuen Job zu gewöhnen und in das neue Haus in Virginia zu ziehen. Aber Reid hatte viel dazu beigetragen, beschäftigt und abgelenkt zu sein, indem er sich selbst viele Aufgaben erteilte. Er strich die Zimmer. Er rüstete seine Haushaltsgeräte auf. Er kaufte neue Möbel und neue Schulkleidung für die Mädchen. Er konnte es sich leisten; die CIA hatte ihm eine beträchtliche Summe für die Beteiligung an der Hinderung der Terrororganisation Amun zugesprochen. Es war mehr, als er jährlich als Professor verdiente. Sie überwiesen es in monatlichen Raten, um eine Überprüfung zu vermeiden. Die Checks wurden von einem gefälschten Verlag, welcher behauptete, eine zukünftige Reihe Geschichtslehrbücher zu erstellen, als Beratungsgebühr auf sein Bankkonto überwiesen.

Zwischen dem Geld und reichlich freier Zeit – er gab im Moment nur ein paar Vorlesungen pro Woche – blieb Reid so beschäftigt, wie er nur konnte. Denn nur für einen Moment anzuhalten, bedeutete, dass er nachdenken würde, nicht nur über sein gebrochenes Gedächtnis, sondern auch über eine weitere unangenehme Sache. Die neun Gesichter, die er gründlich überprüft hatte. Die neun Leben, die aufgrund seines Versagens beendet worden waren.

„Nein“, murmelte er leise, alleine im Eingangsbereich ihres neuen Zuhauses. „Tu dir das nicht an.“ Er wollte sich jetzt nicht daran erinnern. Stattdessen machte er sich auf den Weg in die Küche, wo Maya durch den Kühlschrank wühlte, um etwas zu essen zu finden.

„Ich denke, ich werde Pizza bestellen“, verkündete er. Als sie nichts sagte, fügte er hinzu: „Was denkst du?“

Mit einem Seufzen schloss sie den Kühlschrank und lehnte sich dagegen. „Ist in Ordnung“, sagte sie nur. Dann sah sie sich um.

„Die Küche ist schöner. Ich mag das Dachfenster. Der Garten ist auch größer.“

Reid lächelte. „Ich sprach von der Pizza.“

„Ich weiß“, antwortete sie mit einem Schulterzucken. „Du scheinst es in letzter Zeit vorzuziehen, das offensichtliche Thema zu meiden, also dachte ich mir, ich würde es auch tun.“

Er schreckte vor ihrer Direktheit zurück. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte sie ihn nach Informationen ausgefragt, die sein Verschwinden betrafen, aber das Gespräch endete immer damit, dass er darauf bestand, seine Vertuschungsgeschichte sei die Wahrheit, und dass sie wütend wurde, weil sie wusste, dass er log. Dann würde sie es für eine Woche oder so ruhen lassen, bevor der Teufelskreis erneut begann.

„Es gibt keinen Grund für solch ein Verhalten Maya“, sagte er.

„Ich werde nach Sara schauen.“ Maya drehte sich um und verließ die Küche. Einen Augenblick später hörte er sie die Treppe hinaufstampfen. Er kniff sich frustriert in den Nasenrücken. Es war in Zeiten wie diesen, dass er Kate am meisten vermisste. Sie wusste immer genau, was gesagt werden musste. Sie hätte gewusst, wie man mit zwei Teenagern umgeht, die etwas wie das, was seine Mädchen erlebt hatten, durchgemacht hatten.

Seine Willenskraft, mit der Lüge fortzufahren, wurde schwach. Er konnte sich nicht dazu bringen, die Vertuschungsgeschichte zu wiederholen, welche die CIA ihm zur Verfügung gestellt hatte, um Familie und Kollegen darüber zu erzählen, wohin er für die Woche verschwunden war. Die Geschichte war, dass Beamte des Bundesstaates zu seiner Tür gekommen waren, um seine Unterstützung in einem wichtigen Fall zu fordern. Als Professor einer Eliteuniversität war er in der einzigartigen Position, sie bei der Nachforschung zu unterstützen. Den Mädchen war gesagt worden, dass er die meiste Zeit seiner Woche in einem Konferenzraum verbracht, über Büchern gebrütet und Computerbildschirme angestarrt hatte. Das war alles, was er sagen durfte, und er konnte keine Details mit ihnen teilen.

Er konnte ihnen sicherlich nicht von seiner heimlichen Vergangenheit als Agent Null erzählen, oder davon, dass er dabei geholfen hatte, Amun davon abzuhalten, das Weltwirtschaftszentrum in Davos in der Schweiz zu bombardieren. Er konnte ihnen nicht sagen, dass er eigenhändig mehr als ein Dutzend Menschen innerhalb nur eines Tages getötet hatte, von denen jeder Einzelne zweifellos ein Terrorist war.

Er musste an seiner vagen Vertuschungsgeschichte festhalten, nicht nur für die CIA, sondern auch, um die Sicherheit seiner Mädchen zu bewahren. Während er waghalsig durch ganz Europa gejagt war, mussten seine Töchter aus New York fliehen und waren mehrere Tage auf sich selbst gestellt gewesen, bevor sie von der CIA abgeholt und in ein sicheres Haus gebracht worden waren. Sie wären beinahe von zwei Amun-Radikalen entführt worden – ein Gedanke, der Reids Nackenhaare zu Berge stehen ließ, weil es bedeutete, dass die Terroristengruppe Mitglieder in den Vereinigten Staaten hatte. Es hatte in letzter Zeit sicher zu seinem extrem überfürsorglichen Charakter beigetragen. Den Mädchen war gesagt worden, dass die beiden Männer, die versuchten, sie anzusprechen, Mitglieder einer örtlichen Bande gewesen seien, die versuchten, Kinder in der Umgebung zu entführen. Sara schien der Geschichte zwar skeptisch gegenüber zu stehen, akzeptierte sie jedoch auf der Grundlage, dass ihr Vater sie nicht anlügen würde (weswegen Reid sich natürlich noch viel schlimmer fühlte). Das, gepaart mit ihrer völligen Abneigung darüber zu sprechen, machte es leicht, das Thema zu umgehen und einfach mit ihrem Leben fortzufahren. Maya auf der anderen Seite zweifelte an allem. Sie war nicht nur klug genug, um es besser zu wissen, sondern sie hatte während der Tortur Kontakt mit Reid über Skype gehalten, und hatte daher scheinbar ausreichend Informationen gesammelt, um Vermutungen anzustellen. Sie war selbst Augenzeugin geworden, als Agent Watson die beiden Radikalen getötet hatte, und seitdem einfach nicht dieselbe gewesen.

Reid hatte keine Ahnung, was er tun sollte, außer zu versuchen, sein Leben so normal wie möglich fortzuführen. Reid zog sein Handy aus seiner Tasche, rief die Pizzeria an der Ecke an und bestellte zwei mittelgroße Pizzen – eine mit extra Käse (Saras Favorit) und die andere mit Schinken und grüner Paprika (Mayas Lieblingspizza).

Als er auflegte, hörte er Schritte auf der Treppe. Maya kehrte in die Küche zurück. „Sara hat sich hingelegt.“

„Schon wieder?“ Es schien so, als schliefe Sara in letzter Zeit viel tagsüber. „Schläft sie nachts denn nicht?“

Maya zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Vielleicht solltest du sie fragen.“

„Ich hab’s versucht. Sie sagt mir nichts.“

„Vielleicht liegt es daran, dass sie nicht versteht, was passiert ist“, schlug Maya vor.

„Ich habe euch beiden erzählt, was passiert ist.“ Lass es mich nicht noch einmal wiederholen, dachte er. Bitte zwinge mich nicht, dir wieder ins Gesicht lügen zu müssen.

„Vielleicht hat sie Angst“, fuhr Maya fort. „Vielleicht liegt es daran, dass sie weiß, dass ihr Vater, dem sie vertrauen soll, sie anlügt –“

„Maya Joanne“, warnte Reid sie. „Du wirst deine nächsten Worte sorgfältig auswählen wollen …“

„Vielleicht ist sie nicht die Einzige!“ Maya schien nicht nachzugeben. Nicht dieses Mal. „Vielleicht habe ich auch Angst.“

„Wir sind hier sicher“, sagte Reid nachdrücklich und versuchte dabei überzeugend zu wirken, selbst wenn er dies selbst nicht ganz glaubte. Er bekam Kopfschmerzen im vorderen Teil seines Schädels. Er nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit kaltem Wasser aus dem Wasserhahn.

„Ja, und wir dachten, wir wären in New York in Sicherheit“, schoss Maya zurück. „Vielleicht würde es uns die ganze Sache leichter machen, wenn wir wüssten, was los ist und was du wirklich machst. Aber nein.“ Ob es seine Unfähigkeit war, sie für zwanzig Minuten allein zu lassen oder ihr Verdacht darüber, was passiert war, spielte keine Rolle. Sie wollte Antworten. „Du weißt verdammt noch mal genau, was wir durchgemacht haben. Aber wir haben keine Ahnung, was mit dir passiert ist!“ Sie schrie jetzt fast. „Wo du hingingst, was du gemacht hast, wie du verletzt wurdest –“

„Maya, ich schwöre …“ Reid stellte das Glas auf die Theke und hob einen warnenden Finger in ihre Richtung.

„Was schwörst du?“, schnappte sie. „Die Wahrheit zu sagen? Dann sag sie mir einfach!“

„Ich kann dir die Wahrheit nicht sagen!“, brüllte er. Dabei warf er seine Arme zu beiden Seiten in die Luft. Eine Hand fegte das Glas von der Arbeitsplatte.

Reid hatte keine Zeit, nachzudenken oder abzuwägen. Sein Instinkt nahm überhand und in einer schnellen, flüssigen Bewegung, beugte er seine Knie und griff das Glas aus der Luft, bevor es auf den Boden fallen konnte.

Er nahm sofort einen bedauernden Atemzug, als das Wasser zwar leicht überschwappte, jedoch kaum ein Tropfen vergossen wurde.

Maya starrte ihn mit großen Augen an, aber er wusste nicht, ob ihre Überraschung an seinen Worten oder seiner Handlung lag. Es war das erste Mal, dass sie ihn so gesehen hatte – und das erste Mal, dass er lautstark eingestanden hatte, dass das, was er ihnen erzählte, vielleicht nicht das war, was tatsächlich geschehen war. Es war egal, ob sie es gewusst oder nur vermutet hatte. Er hatte es hinausposaunt und nun konnte er es nicht zurücknehmen.

„Glücksfall“, sagte er schnell.

Maya verschränkte langsam ihre Arme, hob eine Augenbraue und spitzte ihre Lippen. Er kannte diesen Ausdruck; es war ein anklagender Blick, den sie ganz klar von ihrer Mutter geerbt hatte. „Du kannst vielleicht Sara oder Tante Linda täuschen, aber ich kaufe es dir nicht ab, nicht mal für eine Sekunde.“

Reid schloss seine Augen und seufzte. Sie würde ihn nicht davonkommen lassen, also senkte er seine Stimme und sprach vorsichtig.

„Maya, hör zu. Du bist sehr intelligent – sicher schlau genug, um gewisse Vermutungen darüber anzustellen, was geschehen ist“, sagte er. „Das Wichtigste ist jedoch, zu verstehen, dass es gefährlich sein könnte, gewisse Dinge zu wissen. Die potenzielle Gefahr, der ihr in der Woche meiner Abwesenheit ausgesetzt wart, könnte andauernd sein, wenn ihr alles wüsstet. Ich kann dir nicht sagen, ob du richtig oder falsch liegst. Ich werde nichts bestätigen oder bestreiten. Also lass uns einfach sagen, dass … die Annahmen, die du bis jetzt getroffen hast, stimmen, solange du darauf achtest, sie für dich zu behalten.“

Maya nickte langsam. Sie schaute den Gang entlang, um sicherzustellen, dass Sara nicht anwesend war, bevor sie sagte: „Du bist nicht nur ein Professor. Du arbeitest für jemanden auf Regierungsebene – das FBI vielleicht, oder die CIA –“

„Um Gottes Willen Maya, ich habe gesagt, du sollst es für dich behalten!“, stöhnte Reid.

„Die Sache mit den Olympischen Winterspielen und dem Forum in Davos“, fuhr sie fort, „damit hattest du etwas zu tun.“

„Ich habe dir gesagt, ich werde nichts bestätigen oder bestreiten –“

„Und die terroristische Gruppe, über die sie in den Nachrichten sprechen, Amun. Du hast dabei geholfen, sie aufzuhalten?“

Reid wandte sich ab und warf einen Blick aus dem kleinen Fenster und in den Garten hinaus. Und damit war es zu spät. Er musste nichts bestätigen oder abstreiten. Sie konnte es in seinem Gesicht lesen.

„Das hier ist kein Spiel, Maya. Das hier ist ernst und wenn die falschen Leute wüssten –“

„Wusste Mom davon?“

Von allen Fragen, die sie hätte stellen können, warf ihn diese aus der Bahn. Für einen langen Moment war er stumm. Wieder einmal hatte sich seine Älteste als zu intelligent herausgestellt, vielleicht sogar für ihr eigenes Wohl.

„Ich glaube nicht“, sagte er leise.

„Und all die Reisen, die du früher angetreten bist“, sagte Maya, „das waren keine Konferenzen oder Gastvorträge, nicht wahr?“

„Nein. Das waren sie nicht.“

„Dann hast du für eine Weile aufgehört. Hast du … nach Moms … gekündigt?“

„Ja. Aber dann brauchten sie mich wieder.“

Das war ein ausreichender Teil der Wahrheit, sodass er sich nicht fühlte, als würde er lügen – und hoffentlich genug, um Mayas Neugier zu stillen.

Er drehte sich wieder zu ihr um. Sie starrte mit einem finsteren Blick auf den gefliesten Boden. Offensichtlich gab es noch mehr Fragen, die sie stellen wollte. Er hoffte, dass sie es nicht tun würde.

„Noch eine Frage.“ Ihre Stimme war fast ein Flüstern. „Hatte dieses Zeug irgendetwas mit … mit Moms Tod zu tun?“

„Oh Gott. Nein. Maya. Natürlich nicht.“

Er durchquerte schnell den Raum und schloss seine Arme fest um sie. „Denk das bloß nicht. Was mit Mom passiert ist, war medizinisch. Es hätte jedem passieren können. Es war nicht … es hatte nichts damit zu tun.“

„Ich glaube, das wusste ich“, sagte sie leise. „Ich musste nur fragen …“

„Das ist in Ordnung.“ Das war das Letzte, was er wollte. Dass sie dachte, Kates Tod hätte irgendeine Verbindung zu dem geheimen Leben, in welches er verwickelt war.

Etwas schoss ihm durch den Kopf – eine Vision. Eine Erinnerung an die Vergangenheit. Eine vertraute Küche. Ihr Zuhause in Virginia, bevor sie nach New York zogen. Bevor sie starb. Kate steht vor dir, genau so wunderschön, wie du sie in Erinnerung hast – aber ihre Stirn liegt in Falten, ihr Blick ist hart. Sie ist wütend. Sie schreit. Sie zeigt mit ihren Händen auf etwas, das auf dem Tisch liegt …

Reid trat einen Schritt zurück und löste sich aus Mayas Umarmung, als die vage Erinnerung Kopfschmerzen in seiner Stirn verursachte. Manchmal versuchte sein Gehirn, sich an bestimmte Dinge aus der Vergangenheit zu erinnern, die noch immer verborgen lagen. Wenn er versuchte, die Erinnerungen zu erzwingen, verursachten sie einen migräneartigen Schmerz im vorderen Teil seines Schädels. Aber dieses Mal war anders, merkwürdiger; er erinnerte sich eindeutig an Kate, an eine Art Streit, den sie hatten und der ihm nicht mehr bewusst gewesen war.

„Dad, ist alles in Ordnung?“, fragte Maya.

Plötzlich klingelte es an der Tür und sie zuckten beide vor Schreck zusammen.

„Ähm, ja“, murmelte er. „Es geht mir gut. Das muss die Pizza sein.“ Er sah auf die Uhr und runzelte die Stirn. „Das ging wirklich schnell. Ich bin sofort zurück.“ Er ging durch den Flur und spähte durch den Spion. Vor der Tür stand ein junger Mann mit einem dunklen Bart und leeren Blick. Er trug ein rotes Poloshirt mit dem Logo der Pizzeria.

Trotzdem blickte Reid über seine Schulter zurück, um sicherzustellen, dass Maya ihn nicht sah, und schob seine Hand in die Innenseite seiner dunkelbraunen Bomberjacke, die an einem Haken neben der Tür hing. In der Innentasche befand sich eine geladene Glock 22. Er löste die Sicherung und steckte die Waffe in die Rückseite seiner Hose, bevor er die Tür öffnete.

„Lieferung für Lawson“, sagte der Pizzalieferant mit monotoner Stimme.

„Ja, das bin ich. Wie viel?“

Der Mann hielt die zwei Pizzakartons mit einem Arm, während er in seine hintere Hosentasche griff. Reid tat instinktiv das Gleiche.

Aus seinem Augenwinkel sah er eine Bewegung und sein Blick flog nach links. Ein Mann mit einem militärischen Kurzhaarschnitt überquerte eilig den Rasen – was jedoch noch wichtiger war, war die Tatsache, dass er an seiner Hüfte eine Pistole in einem Holster trug … mit seiner rechten Hand über dem Abzug.

Zielobjekt Null

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