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Zensur und Selbstzensur

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Clara äußert an mehreren Stellen ihr Unbehagen über die strenge Postzensur, die während des Krieges in der Türkei herrscht; sie grollt darüber in ihrem vertraulich geschriebenen Augenzeugenbericht: «Nun sind günstige Zeiten [für die Türkei, D.S.] gekommen, da die europäischen Mächte mit sich selbst zu tun haben oder es momentan nicht mit der Türkei verderben wollen. Die Zensur der schriftlichen Mitteilungen kann aufs genaueste durchgeführt werden …» (siehe auch hier). In ihrem Brief vom 14. Mai 1915 wagt sie, eine Anspielung auf die Zensur zu machen: «… aus Gründen, die ich Euch leider nicht erzählen kann», und der Zensur zum Trotz über die Einschränkung ihrer Äußerungsfreiheit zu klagen: «Leider heißt’s da wieder über manches den Schnabel halten (…) Wenn ich dann einst mit einem Kropf heimkomme, so wird das halt auch, wie so vieles, mit den traurigen Verhältnissen entschuldigt.»

Angesichts der strengen Postüberwachung muss Clara Vorkehrungen treffen und sich ihr anpassen, wo sie sie nicht umgehen kann. Über die Durchzüge der deportierten Armenier konnte sie nicht schreiben. Dazu verwendet sie ihr Tagebuch. Am 10. August 1915 notiert sie: «Fortwährend ziehen Armenier vorbei. In der Nähe ist ein ganzes Dorf von den Türken zusammengeschossen, da sich die Armenier ganz kriegsgemäß verteidigt haben.» Der Monat September im Jahr 1915 hat viele solche Notizen:

«Die Flut der Armenier versiegt noch nicht; jetzt sind es Stadtleute, denen man die körperlichen Strapazen ansieht» (2. September 1915). «Die Marienbilder nehmen kein Ende: barfüßige Frauen, ihre Kinder auf dem Rücken oder vor sich auf dem Pferde» (14. September, 1915). «Wohl Tausende von Armeniern gehen durch» (16. September 1915). «Der Durchzug der Armenier nimmt kein Ende. Priester und Nonnen sind diesmal dabei, und abends erzählt uns ein Arbeiter von all den Gräueltaten, die an ihnen begangen wurden» (19. September 1915).

Mit Hilfe des Tagebuchs kann sich Clara psychisch entlasten, und hier kann sie der Zensur entkommen. Am 22. September 1915 trägt sie in ihr Tagebuch ein: «Nun schreibe ich doch an den Erlebnissen, die momentan nicht in den Briefen erzählt werden dürfen!»

Für Clara war es wichtig, dass die Ihrigen in der Schweiz eine richtige Vorstellung von den Umständen in der Türkei hatten. Und ihre Freude war groß, als sich ihr die Gelegenheit bot, nach Hause einen «lebendigen Bericht» zu schicken. Das wurde durch den Schweizer Dr. Graeter50 möglich, der auf seiner Heimreise in die Schweiz kurz bei den Sigrist-Hiltys in Keller hielt. Darüber erfahren wir im Eintrag vom 30. Juni 1915, wo Clara unter anderem schreibt: «Dr. Graeter will ins Hüsli anläuten, bei seiner Durchfahrt durch Buchs.» In einer Postkarte vom selben Tag teilt sie das ihrer Mutter mit: «Herr Dr. Graeter aus Basel, der reist heute weiter nach der Schweiz und will Euch dann anläuten. Gelt, wie fein, so ein lebendiger Bericht von uns. Ich bin ganz glücklich darüber für Euch. 1000 Küsse, Clärli.» Bald darauf kommt Post von daheim «mit der Freude über Dr. Graeters mündliche Grüße von uns» (3. Au­gust 1915). Am 3. Oktober 1915 steht um 11 Uhr «auf einmal Dr. Grae­ter da und erzählt von daheim».

Mehr als ein halbes Jahr darauf, am 24. Mai 1916, erschien Dr. Graeter noch einmal bei den Sigrists, diesmal mit seinem deutschen Kollegen Dr. Niepage51, auch einem entschiedenen Kritiker der Türken. Beide verließen das Land für immer. Clara schreibt im Tagebuch: «Die beiden sind geladen gegen die Türken, erzählen Schauerliches von den Armenierausweisungen [in Aleppo] und hoffen daheim mit ihren Berichten etwas zu erreichen.» Am 13. August 1916 kam dann «ein Brief von Muetti, ein sorgenvoller nach Graeters Besuch». Während seines zweiten Besuchs bei den Hiltys in der Schweiz hatte Dr. Graeter kein Blatt mehr vor den Mund genommen. Jetzt wusste auch die Familie in der Schweiz, was Clara und Fritz in der Türkei durchmachten.

Schon ganz zu Anfang, als die Eheleute noch im Binnenland der Türkei in Richtung Kilikien reisten, wurde ihre Post von der Zensur geprüft und gezielt beschädigt. Sohn Ruedi berichtet, dass die ersten, mit der alten deutschen Schrift geschriebenen Post­karten seiner Mutter zum Teil von der Zensur unkenntlich gemacht oder auch mit kyrillischen und arabischen Schriftzeichen und Stempeln überdrückt» worden seien.52

Daher ist die Handschrift der meisten von Clara in die Schweiz versandten Briefe und Postkarten oft nicht wiedererkennbar. Statt ihrer üblichen fließenden Kurrentschrift gebraucht sie häufiger die lateinische Schrift, mit runden und deutlich getrennten Schriftzeichen. Das mag ihre eigene Vorsorgemaßnahme gewesen sein, damit ihre Briefe von der Postüberwachung nicht beschädigt oder unkenntlich gemacht wurden. Auch ist es nicht ausgeschlossen, dass sie einer ihr auferlegten Zensurvorschrift folgt.


Claras sechster Brief nach Hause aus Entilli.

Clara sorgt vor, dass ihre Briefe nicht verloren gehen, und für den Fall, dass dies geschehen sollte, nummeriert sie die Briefe und notiert die Nummer des abgegangenen Briefes unter dem jeweiligen Eintrag im Tagebuch. Auf einer am 15. Mai 1915 von Adana aus abgegangenen Postkarte schreibt sie: «Morgen geht’s nun weiter bis an unser Ziel Entilli (…). Wie freue ich mich auf den ersten Brief von dort aus. Ich nummeriere alle meine Briefe und auch die Karten von dort an, dann seht ihr, ob zwischenhinein nichts fehlt.»

Claras durchgehender Gebrauch der schwer leserlichen Kurrentschrift in ihrem Tagebuch – auch im Augenzeugenbericht – erweist sich als die natürlichste Schutzmaßnahme gegen einen fremden Kontroll- oder Zensureingriff. Nur wenige können ihr Tagebuch lesen. Hier erlaubt sie sich ab und zu, wenn ihr die Geduld reißt, und das geschieht besonders im zweiten Jahr ihres Auf­enthalts in der Türkei, frei von der Seele zu reden: «Es sind wüste Tage, voller Bitterkeit über diese trostlose Türkei» (13. Mai 1916). Oder: «Das Elend erdrückt einen, und ein einziger Gedanke bleibt obenauf: Fort aus diesem scheußlichen Land!» (16. Juni 1916) Das tut sie alles auf eigenes Risiko. Wenn es aber um die Meinungen oder Mitteilungen anderer Menschen geht, lässt Clara Vorsicht walten. Sehr selten nennt sie die Quellen ihrer Informationen bei Namen, besonders wenn es sich um Gräueltaten gegen die Armenier handelt. Sie zieht unpersönliche Formen vor: «Man erzählt von lebendig Begrabenen» (28. September 1915). Oder: «Man hört von mißhandelten Frauen.» Oder: «Man spricht von drei- bis vierhundert Toten täglich im Lager von Islahiye,53 und auf der Straße trifft man Leichen» (3. Dezember 1915).

Es gibt jedoch Fälle, in denen Clara sich sogar im Tagebuch zur Geheimhaltung verpflichtet fühlt. Sie weiß ganz genau, wann sie sich eine Selbstzensur aufzuerlegen hat, um den Posten, ja das ­Leben ihres Mannes nicht zu gefährden. Das tut sie sicherlich am 13. Juni 1916. Das ist der Tag, an dem der Magaziner Haig Aramian, alias Georges Panos, den Verfolgungen der Behörden entkommt, die Flucht ergreift und sich rettet. Keine Notiz über die entscheidende Rolle des Ehepaars Sigrist-Hilty bei Haig Aramians Rettung, es heißt schlicht: «Georges flüchtet unterm Vorwand von Lebensmittelkauf.» Dies ist auch die offizielle Version der Aussage, mit der den Behörden Haig Aramians plötzliches Verschwinden erklärt wurde.

Auch in den Tagebucheinträgen, die Aramians Flucht folgen, werden briefliche Kontakte mit «Georges» erwähnt, jedoch mit ei­ner solchen Geheimnistuerei, dass ich die Inhalte von Claras Einträgen erst nach der Lektüre von Aramians armenischem Buch entschlüsseln konnte. Erst dort erfuhr ich, wie selbstlos sich Clara und Fritz bei Haig Aramians Rettung einsetzten.54



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