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Zur historischen Bedeutung von Claras Tagebuch

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Claras Tagebuch ist ein unschätzbarer Beitrag zur Geschichte des Völkermords an den Armeniern. Für die geschichtswissenschaftliche Forschung besteht die Einzigartigkeit dieses Tagebuch, zusammen mit ihrem Augenzeugenbericht, in Folgendem:

1. Die Autorin des Dokuments ist eine intelligente, belesene und aufgeschlossene dreißigjährige Schweizerin, die bis zur Ankunft in Keller den türkischen Vielvölkerstaat wenig kannte und bei der jeglicher Vorbehalt gegen diese oder jene ethnische Gruppe im Lande fehlte. Aus den Worten der Berichterstatterin Clara Sigrist-Hilty tönt die kühle und ausgewogene Stimme der Wahrheit und Vernunft.

2. Clara unterscheidet sich von anderen Fremdländern, die Berichte oder Memoiren zum Armeniergenozid hinterlassen haben, dadurch, dass sie eine totale Außenseiterin ist. Ihr Aufenthalt in der Türkei war nicht geplant und ist auch nicht beruflich bedingt. Es war das ausgeprägte Pflichtbewusstsein einer weltoffenen Humanistin, das sie zur regelmäßigen Schilderung des Erlebten antrieb.

3. Claras Sondersituation gewährleistet auch ihre Unparteilichkeit. Im ersten Jahr in der Türkei ist sie sozusagen auf Hochzeitsreise, im zweiten Jahr erwartet sie ihr erstes Kind, im dritten wird sie Mutter. Clara ist während ihres dreijährigen Aufenthaltes in der Türkei ständig hin- und hergerissen zwischen ihrem Streben nach persönlichem Glück und den von draußen auf sie eindrängenden bedrückenden Bildern eines Völkermords. Im ersten Jahr klagt sie darüber nachdrücklich in ihrem Tagebuch: «Hier müsste man mit der Zeit herzkrank werden oder selbst grausam» (1. Oktober 1915). Oder: «Wenn man das nicht mehr hätte sehen müssen!» (9. Oktober 1915). Mit der Zeit nimmt sie einen gewissen Abstand von den Ereignissen und versucht, sie zu relativieren. Zuweilen wirken ihre Tagebucheinträge erstaunlich neutral, ja teilnahmslos. Doch die ständigen «Marienbilder» von draußen haben eine starke Wirkung auf sie. Am 27. März 1917, nachdem sie ihren Erstling geboren hatte, schreibt sie: «Der Kleine lacht und plaudert auf dem Sofa zu unserem Frühstückstisch herüber, während unten in der Ebene die Armen wandern, ebenso kleine Geschöpfe mit sich tragend.» Umso gewichtiger und aussagekräftiger sind Claras Bezeugungen, die in diesem Spannungsfeld entstehen.

4. Claras Bezeugungen zum Armeniergenozid erscheinen in ihrem Tagebuch nicht allein und sind auch nicht zentral. Sie sind in ein Korpus von Alltagsberichten eingebettet, die meist mit dem Genozidthema nichts zu tun haben. Einzelne Tagebucheinträ­ge, die gänzlich dem Genozid gewidmet sind, kommen selten vor. Meist werden ihre Bezeugungen zum Armeniergenozid von anderen, ganz nebensächlichen, jedoch schlagkräftigen Informationen getragen, was ihre Glaubwürdigkeit umso stärker untermauert. Bilder von unendlichem menschlichem Leiden haben genaue Datum-, Ortsangaben, enthalten Personennamen. Dabei stützt sie sich nur darauf, was sie mit eigenen Augen gesehen bzw. von glaubwürdigen Augenzeugen gehört hat. Die Schreckensszenen, die sie täglich von ihrem Fenster, ihrer Veranda, ihrem Garten aus oder auch aus nächster Nähe erlebt, werden mit Wahrnehmungsverben wie «sehen», «hören», «bemerken» u.a. eingeleitet, was Claras Einträge zu primären Quellenbelegen eines der zuverlässigsten Zeugen des Genozids an den Armeniern ausweist.

5. Wichtig für die Historiker ist auch die gesamte Dauer von Claras Tagebuchführung in der Türkei. Sie umfasst die Zeit vom Mai 1915 bis April 1918, was eigentlich die gesamte Laufzeit des Völkermords an den Armeniern von seinem Höhepunkt bis zu seinem Verebben darstellt. Dank der kalendarischen Struktur ihres Tagebuchs haben alle Informationen genaue Daten, die mit denen der einschlägigen Literatur übereinstimmen bzw. diese erhärten oder sogar ergänzen. Wie noch keinem anderen Augenzeugen ist es Clara gelungen, entscheidende Momente des armenischen Genozids während seines Verlaufs in einer der abgelegensten Gegenden der südöstlichen Türkei in einem einzigen Dokument chronologisch festzuhalten. Selbst wenn es in der Literatur Memoiren gibt, deren Autoren versuchen, einen bestimmten Zeitraum des Genozids in Detail zu erfassen, fehlt in ihnen die Präzision eines dreijährigen, kalendarisch eingerichteten Tagebuchs.

6. Claras Tagebuch enthält eine ganze Reihe von Namen his­torisch belegter Persönlichkeiten. Das sind vor allem die Kollegen ihres Mannes bei der Bagdadbahn, die deutschen Ingenieure Wink­ler und Meißner, der Österreicher Klaus, die Schweizer Morf, Köppel, Leutenegger u.a., mit denen das Ehepaar über die beruflichen Beziehungen hinausgehende Freundschaften pflegte. Unter ihren Gästen sind bekannte Menschenrechtler wie der Deutsche Dr. Niepage und der Schweizer Dr. Graeter, die deutsche Missionsschwester Paula Schäfer, die Schweizerin Beatrice Rohner und viele mehr. Auch Namen von bekannten Ärzten sind dabei: Dr. Mühlens, Dr. Schilling, Dr. Farah, Dr. Hovnanian u.a. Der Letztere ist der Familienarzt der Sigrist-Hiltys.

Von besonderer historischer Bedeutung sind die im Tagebuch verzeichneten Namen von hochrangigen Personen jener Zeit, häu­fig verbunden mit weiteren relevanten Angaben. Drei Durchfahrten von Enver Pascha durch die Amanusgegend sind im Tagebuch festgehalten. Am 16. Februar 1916: «Also fährt Enver Pascha durch. Wir sehn die Autos nur von weitem.» Am 28. September 1916: «Fritz muss früh um 2h aufstehen. Die Dienstbahn bringt die Herren nach Islahiye, um Enver Pascha abzuholen, der aber nicht der Strecke nach fährt wie vorgesehen, sondern ein Auto nach Marmara nimmt.» Am 7. März 1917: «Enver Pascha fährt durch.» Und am 6. November 1915 berichtet Clara: «Ums Hüsli und an den Abhängen patrouillieren die Soldaten, weil der Cemal Pascha erwartet wird.»

Von Belang sind auch Informationen über Durchreisen von anderen wichtigen Persönlichkeiten. Am 26. Oktober 1915: «Baron v. Oppenheim auf der Rückreise nach Deutschland.» Am 19. November 1915: «Von der Goltz reist durch nach Aleppo.» Am 16. Mai 1917: «General Falkenhayn fährt per Auto durch.» Und am 19. Februar 1916 berichtet Clara, dass Oberstleutnant Sylvester Böttrich in Person zur Islahiye-Station zu einem Hochtreffen mit Johann Lorenz Winkler und Fritz Sigrist kam, um die unverzügliche Durchführung seines Befehls, der Deportation aller armenischen Bauarbeiter bei der Bagdadbahn, abzusichern.

7. Dem interessierten Leser verschafft das Tagebuch einen Einblick nicht nur in das Elend der täglich vom Norden und Westen der Türkei her durchziehenden, vertriebenen Armenier. Auch liefert es, wenn auch stichwortartig, konkretes Tatsachenmaterial zu der noch sehr wenig aufgearbeiteten Geschichte der Aus­beu­tung und Vernichtung der Armenier beim Bau der Bagdadbahn während des Ersten Weltkrieges. Claras Einträge bringen den Leser näher an die tragische Geschichte der Tausenden von armenischen Fachkräften und Bauarbeitern, die häufig samt ihren Familien in der Amanusgegend bei der Bagdadbahn unter sklaven­ähnlich­en Verhältnissen schufteten, oft für nur Brot und Wasser, um anschließend ins Nichts verschickt, erschossen, erhängt und abgeschlachtet zu werden.

8. Als primäre Quelle zum armenischen Genozid ist Claras Tagebuch – gemeinsam mit ihrem Augenzeugenbericht – ein unanfechtbares Dokument gegen die offizielle Politik aller türkischen Regierungen, die seit der Gründung der Republik 1923 bemüht gewesen sind, die Geschichte zu revidieren, die historische Tatsache des Genozids an den Armeniern zu bestreiten, zu fälschen und zu leugnen. Die im Tagebuch enthaltenen Notizen über die zielgerichteten Deportationen und Hinrichtungen der fleißigen und friedlichen armenischen Bauarbeiter der Bagdadbahn in der Amanusgegend widerlegen den offiziellen türkischen Leitsatz, nach dem die Deportationen und Gewalttaten gegen die Armenier normale Sicherheitsmaßnahmen in einer Kriegszeit und vornehmlich eine Reaktion gegen die aggressiven Handlungen von armenischen Revolutionären bzw. Milizen gewesen seien, die im Osten des Landes den russischen Kriegsgegner unterstützt hätten. Claras Schriften sind ein Beweis dafür, dass es den Jungtürken in Wirklichkeit eher darum ging, im Schatten der Weltkrieges ihr nationalistisches Endziel zu erreichen: die ganze indigene christliche Bevölkerung auf kleinasiatischem Boden – Armenier, Aramäer, Assyrer und Griechen – auszurotten und eine Türkei für die Türken zu errichten. Heute kann man kein Hehl mehr daraus machen. Im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes wird dieses Endziel als historische Tatsache dokumentiert. Im Juni 1915 schrieb Innen­minister Talaat, die türkische Regierung wolle «den Weltkrieg da­zu benutzen, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen aller Konfessionen – gründlich aufzuräumen, ohne durch diplomatische Interventionen des Auslandes gestört zu werden».55



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