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Berlin–Bagdad – eine Schicksalsbahn für die Armenier Vorwort von Wolfgang Gust
ОглавлениеSie war Deutschlands größte Auslandsinvestition, die Bagdadbahn, und versprach, die schnellste Verbindung von Europa an den Persischen Golf zu werden und damit nach Indien, der Perle des britischen Weltreichs. Für die Armenier, besonders für jene aus dem Westen des Osmanischen Reichs, wurde sie im Ersten Weltkrieg der schnellste Weg in den Tod. Von ihrem Schicksal handelt dieses Buch.
Kein Industrieobjekt der Deutschen war so prestigeträchtig wie die Bagdadbahn. Sie machte für viele Deutsche den Weg frei ins wilde Kurdistan, Synonym für den Orient schlechthin, wie ihn damals der meistgelesene deutsche Autor, Karl May, als Phantasiegebilde beschrieben hatte, denn er hatte niemals einen Fuß auf nur eines der Länder seiner sagenhaften Märchenwelt gesetzt. Viel sachlicher sah das die Deutsche Bank, der Hauptfinanzier des Prestigeobjekts. Nachdem im Oktober 1898 die entscheidende Lizenz den Deutschen zugesprochen worden war, kommentierte der Vorstandssprecher der Bank den Abschluss sarkastisch: «Ich pfeife auf diese Konzession und auf die ganze Bagdadbahn.» Bis Kriegsende sollte die Bagdadbahn das Reich 360 Millionen Mark gekostet haben – und die meisten in dessen Bau beschäftigten Armenier das Leben.1
«Man muss in der Geschichte der Menschheit weit zurückgehen, um etwas Ähnliches an bestialischer Grausamkeit zu finden wie die Ausrottung der Armenier in der heutigen Türkei», schrieb am 17. August 1915 der Vizepräsident der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft, die die Bagdadbahn betrieb, Franz Günther. Kurze Zeit später schickte er Arthur von Gwinner, dem Sprecher des Vorstandes der Deutschen Bank, einen Bericht mit einem Foto, «die Anatolische Bahn als Kulturträgerin in der Türkei darstellend. Es sind unsere sogenannten Hammelwagen, in denen beispielsweise 880 Menschen in 10 Wagen befördert werden.» Die zusammengedrängten Menschen in den Viehwagen waren ausschließlich deportierte Armenier.2
Transport von Armeniern in vollgepferchten sogenannten Hammelwagen.
In der heutigen Literatur spielt die Bagdadbahn manchmal auch eine Rolle bei der Ablenkung von der historischen Wirklichkeit; so ist sie bei Genozidleugnern, zu denen die offizielle Türkei gehört, als Ablenkung von dem eigentlichen Geschehen sehr willkommen. Denn das deutsche Prestigeobjekt wird gern als Symbol eines deutschen Imperialismus dargestellt, den es zweifellos in vielen Variationen gab, mit der Assoziation, dass in einem solchen Klima Vernichtungszüge wie die gegen Hereros und Nama in Namibia und eben auch gegen die Armenier ideologisch bestens aufgehoben sind.
Das Schicksal der am Bau der Bagdadbahn arbeitenden Armenier während des Völkermords ist praktisch unerforscht, denn die Deutsche Bank stellt ihr Archiv nur von ihr ausgewählten Forschern zur Verfügung, weshalb mir der Zugang zu den Akten verwehrt wurde. In diesem Buch wird das Schicksal dieser Armenier aus der Sicht des Beobachter-Ehepaars Sigrist-Hilty dargestellt, und die beiden schildern, was sie sahen und erlebten – und das war in erster Linie das Schicksal der Vertriebenen, weniger das der bei der Bahn angestellten Armenier. Diese wurden gern eingestellt, weil sie nicht nur als hervorragende Handwerker bekannt waren, sondern in der Regel auch polyglott, wichtige Eigenschaften für Mitarbeiter der französischsprachigen Führung der Eisenbahn.
Tagebücher von Ausländern, die einen direkten Zugang zu den im Ersten Weltkrieg beim Völkermord deportierten und zumeist ermordeten Armeniern hatten, sind eine große Rarität. Umso wichtiger ist, dass sie veröffentlicht werden, um unser immer noch lückenhaftes Bild von dem ersten großen Genozid des 20. Jahrhunderts zu vervollständigen. Deshalb sind die von Dora Sakayan veröffentlichten Schriften des Schweizer Ehepaars, Clara und Fritz Sigrist-Hilty, so bedeutsam und wichtig.
Eine andere Rarität sind Memoiren von den so wenigen vom Genozid verschont gebliebenen armenischen Bagdadbahn-Arbeitern. Die im vorliegenden Band von Dora Sakayan zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgestellten Erinnerungen eines ehemaligen armenischen Bahnarbeiters ist unschätzbar. Es wird abermals bestätigt, dass die christliche Nächstenliebe der bei der Bagdadbahn tätigen europäischen Zivilingenieure – in diesem Falle die des Schweizer Ingenieurs Fritz Sigrist – für die armenischen Bahnarbeiter der einzige helle Lichtblick war.
Die deutsche Leitung des größten wirtschaftlichen Auslandsprojekts des damaligen Kaiserreichs garantierte ihren Ingenieuren eine gewisse Unabhängigkeit, denn Deutschland war der wichtigste Verbündete des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg, und die Berichterstattung über den Völkermord an den Armeniern war damit schwer auszuschalten. Viele Schweizer waren Angestellte der Bagdadbahn und erhielten so aus erster Hand Informationen über die streng geheimen Vorgänge beim Vollzug des Genozids. Ferner war die Schweiz neutral und der wichtigste Staat, der enge Verbindung zu beiden Kriegslagern hielt. Und drittens waren Armenier lange Zeit und vereinzelt bis zum Kriegsende die bevorzugten Mitarbeiter der größten Eisenbahn in der Türkei, zum Ende hin zwar kaum noch als Angestellte, aber immerhin als Arbeiter, wenn auch zum Schluss unter bejammernswerten Umständen. Schweizer Informanten halfen, das Ausland zu informieren, ohne sich selbst in allzu große Gefahr zu begeben.
Karte der geplanten Bagdadbahn von 1914.
Das Schweizer Ehepaar Sigrist-Hilty lebte während des Völkermords im heutigen Fevzipaşa nicht weit von der nordsyrischen Stadt Aleppo und damit an der wohl wichtigsten Schnittstelle der Deportationsrouten. Wie viele andere Schweizer Ingenieure war Fritz Sigrist noch seit 1910 am Bau der Bagdadbahn als Sektionsingenieur in Aleppo tätig. Ab dem Jahr 1915 hatte er die Projektierung der Linienführung des Abschnitts Islahiye–Radjou und die Leitung des Durchschlags des 905 m langen Tunnels durch das Amanusgebirge übernommen, und geschäftlich bedingte längere Aufenthalte in Aleppo – zuweilen begleitet von der Gemahlin – waren hie und da fällig.
Aleppo war die Schaltzentrale der Bagdadbahn im Osten des Osmanischen Reichs und ein Knotenpunkt für die Deportationszüge der Armenier. Das multiethnische Aleppo war eine der wichtigsten Städte im arabischen Süden des Osmanischen Reichs. Viele Informationen liefen dort sowohl aus dem Innern der Türkei als auch den orientalischen Provinzen zusammen.
Im Herbst 1917 sorgten in Aleppo ansässige Vertreter großer Hilfsorganisationen sowie Diplomaten besonders der USA und Deutschlands dafür, dass Informationen auch unter Kriegsbedingungen noch außer Landes gelangen konnten. Der deutsche Konsul Walter Rößler nutzte seine guten Kontakte zu den türkischen Behörden auch zur Linderung mancher Not der Armenier. Denn ihm stand – als einzigem ausländischen Regierungsvertreter – die Möglichkeit offen, unzensierte Berichte sowohl seiner Botschaft in Konstantinopel als auch dem Berliner Auswärtigen Amt zu senden, dank der Verschlüsselung, die als Privileg einzig dem Kaiserreich gewährt wurde. Kein deutscher Diplomat hat sich darüber hinaus so sehr für die Armenier eingesetzt wie Konsul Rößler.
Von Aleppo aus führten die beiden einzigen Eisenbahnstrecken in den Südosten des Osmanischen Reichs. Die eine führte entlang der heutigen türkisch-syrischen Grenze in Richtung Bagdad, die andere über Damaskus und Jerusalem in den Sinai. Aleppo war dadurch ein Drehkreuz der militärischen Routen zu den beiden Kriegsschauplätzen Persischer Golf und Suezkanal. Diese Landverbindungen waren umso wichtiger, als die Schiffe der Ententemächte das Mittelmeer beherrschten und damit die Häfen kontrollierten.
Die Deportationen der Armenier begannen in großem Maßstab in ihren eigentlichen Siedlungsgebieten im Nordosten der Türkei. Die größten und grausamsten Massaker fanden gleich zu Anfang des Völkermords in der Ebene der Stadt Musch (Muş) und der Region der Stadt Bitlis statt. In der Muschebene wurden Tausende von Armeniern in Scheunen und Häusern zumeist lebendig verbrannt. Wem aus den etwa dreihundert armenischen Dörfern dieser Ebene die Flucht gelang, der schaffte es nicht zu einer der fernen Stationen der Bagdadbahn. Das Gleiche gilt für die Umgebung der Stadt Bitlis, einem weiteren Siedlungsschwerpunkt der Armenier im Nordosten der Türkei, die direkt in die syrische Wüste deportiert wurden. Auch aus den großen armenischen Siedlungsgebieten zwischen der russischen Grenze und Ersindjan (Erzincan) gelangte kaum einer je an eine Bagdadbahnstation. Viele verschwanden in den Fluten des Euphrats, der wochenlang mit zum Teil zusammengebundenen armenischen Leichen verstopft war. Endstation vieler armenischer Deportierter aus diesen Gebieten waren die Schluchten um die Stadt Mamuret el-Aziz (Harput), wo türkische Wachmannschaften die erschöpften Armenier regelrecht abschlachteten, wie der amerikanische Konsul der Stadt, Leslie Davies, bei zwei Ausritten mit einem Arzt beziehungsweise türkischen Freunden bezeugen konnte. Und die Armenier der Stadt Van, die sich wochenlang gegen die türkische Armee verteidigt hatten, zogen es vor, über die russische Grenze in das Gebiet der kaukasischen Armenier zu fliehen, wobei ein Großteil von ihnen in den eisigen Bergen ums Leben kam. An der Schwarzmeerküste um Trabzon wurden ins Meer getrieben und dort ertränkt, in der Region von Erserum (Erzurum) bis Ersindjan (Erzincan) wurden Züge durch die Kemach-Schlucht (Kemah-Schlucht) geschleust. Als der deutsche Korrespondent der «Frankfurter Zeitung» in Konstantinopel, Paul Weitz, im letzten Kriegsjahr mit der türkischen Armee nach dem freiwilligen Rückzug der Russen die Nordost-Region durchfuhr, erlebte er, dass in den Kaffeehäusern «mit seltenem Freimut die grausamsten Einzelheiten von den Massakern an den Armeniern erzählt wurden. Dabei hob man, was uns bei Fortsetzung der Reise mehr wie einmal auffiel, immer die Tatsache besonders hervor, dass es in der betreffenden Gegend keinen einzigen Armenier mehr gäbe.»3 Die deutschen Akten des Auswärtigen Amts sind voll von detaillierten Berichten über die Ausrottung der Armenier in ihren einstigen Hauptsiedlungsgebieten.
Die größte Vernichtung der Armenier aus diesen Regionen geschah auf den Landrouten in Richtung Süden. Eine Eisenbahn gab es in diesen Landstrichen nicht, weil die Russen 1900 mit den Osmanen eine Konvention geschlossen hatten, im Bereich des Schwarzen Meeres Eisenbahnen nur auf eigene Rechnung zu bauen, wozu ihnen das Geld fehlte, oder die Konzession den Russen zu geben, die allerdings nicht das geringste Interesse hatten, das damals modernste Verkehrsmittel in Richtung Kaukasus und Russland zuzulassen.4
Folglich betrafen auch die vom Ehepaar Sigrist bezeugten Untaten an der Bagdadbahn nicht die Armenier aus dem Nordosten, ihrem eigentlichen Siedlungsgebiet. Ohnehin wurde die Bagdadbahn erst Monate nach Beginn der Mordaktionen für Deportationen von Armeniern eingesetzt, und diese betrafen in erster Linie Armenier der Mitte Anatoliens und des Westens sowie aus der stark bevölkerten Provinz Kilikien.
Die Verantwortlichen der Bagdadbahn versuchten, die Armenier als wichtige Angestellte und Arbeiter zu halten. Wo aber schon die deutsche Botschaft in Konstantinopel ziemlich machtlos war, ihre armenischen Angestellten vor der Vernichtung zu schützen, was nur in wenigen Fällen gelang, waren die Möglichkeiten der Eisenbahnverwaltung noch geringer. Hinzu kommt, dass der im türkischen Generalstab für die türkischen Eisenbahnen verantwortliche Offizier ein Deutscher war, Oberstleutnant Sylvester Böttrich. Über die Ohnmacht der Deutschen einerseits und den berüchtigten Eifer Böttrichs berichten die Akten des deutschen Auswärtigen Amts.
Am 3. Oktober 1331 (entsprechend dem 28. Oktober 1915) schickte Kriegsminister Enver den Erlass an die Bagdadbahn, dass die Armenier bestimmter Regionen ihre Heimat zu verlassen hätten. Er verlangte die Anfertigung einer Liste der armenischen Eisenbahnmitarbeiter, «deren Anzahl hoch ist». Die Armenier wurden in zwei Gruppen eingeteilt, von denen die einen mit einer Frist von ein bis zwölf Monaten deportiert würden, die anderen innerhalb von ein bis vier Jahren. Ersetzt werden sollten diese Armenier durch Männer «natürlich muslimischer Religion oder anderer Völker, in die Vertrauen gesetzt werden könne».5
Unterschrieben hatte Böttrich mehrere Deportationsbefehle. «Nicht nur, dass Herr Böttrich gegen die Kommissionsbeschlüsse Verwahrung beim Kriegsministern nicht eingelegt hat, sondern er hat sich herbeigelassen, diese Kommissionsbeschlüsse mit seiner Unterschrift versehen weiterzugeben», schrieb daraufhin der Stellvertretende Direktor der Anatolischen Eisenbahn, die die Bagdadbahn betrieb, Franz Günther, auf die Kopie einer dieser Verfügungen, die er der deutschen Botschaft zuschickte.
«Unsere Gegner werden einmal viel Geld bezahlen», fügte Günther hinzu, «um dieses Schriftstück zu besitzen, denn mit der Unterschrift eines Mitglieds der Militärmission werden sie beweisen, dass die Deutschen nicht allein nichts getan haben, um die Armenierverfolgung zu verhüten, sondern dass gewisse Befehle zu diesem Ziel sogar von ihnen ausgegangen, d.h. unterschrieben worden sind.» Mit «kaustischem Lächeln» habe der türkische Militärkommissar «den Finger auf die Unterschrift des Herrn Böttrich gelegt, denn auch für die Türken ist die Tatsache kostbar, dass dieses Dokument, von dem noch viel die Rede sein wird, eine deutsche und nicht eine türkische Unterschrift trägt.»
Es waren nur relativ wenige Armenier, die von der Bagdadbahn-Leitung vor dem sicheren Tod gerettet wurden. Es waren generell nur wenige Deutsche, die sich tatkräftig für die Rettung der Armenier eingesetzt hatten, und noch weniger höhere deutsche Offiziere. Nur einer – Militärmissionschef Otto Liman von Sanders – hatte wirkungsvoll interveniert und die Armenier und Griechen der Stadt Smyrna (Izmir) vor der Deportation gerettet, während die deutschen Spitzenoffiziere im Großen Generalstab, allen voran Generalstabschef Bronsart von Schellendorff, die Deportationen befürworteten und möglicherweise generalstabsmäßig begleiteten.
Die wirkliche Rolle der deutschen Militärs in der Türkei wird in Deutschland wissenschaftlich praktisch nicht aufgearbeitet, auch weil das Auswärtige Amt aus Rücksicht auf Nato-Partner Türkei an diesem Verschweigen großes Interesse hat. So ist es umso wichtiger, dass Private wie das Ehepaar Sigrist durch ihre Aufzeichnungen dazu beitragen, die deutsche Beteiligung an dem Völkermord an den Armeniern aufzudecken. Sehr wichtig ist hier Clara Sigrist-Hiltys Tagebucheintrag vom 19. Februar 1916 darüber, dass Oberstleutnant Böttrich in Person zur Islahiye-Station zu einem Hochtreffen mit den Ingenieuren Joh. Lor. Winkler und Fritz Sigrist-Hilty u.a. kam, um die Befolgung seiner Deportationsbefehle sicherzustellen. Nach diesem Hochtreffen, so Clara Sigrist, «muss er [Fritz] noch mehr ins Büro. Nun pressieren die Listen von den Armeniern: noch weiß man nicht, wen man behalten kann. Aber die Ausweisung scheint streng genommen zu werden.»
Mit armenischen Deportierten vollgestopfte Hammelwagen der Bagdadbahn waren ein Symbol der deutschen Mitverantwortung oder genauer: des deutschen Versagens, die Vernichtung der Armenier zu verhindern. Ein Jahrhundert sollte es dauern, bis die höchste Vertretung aller Deutschen, der Bundestag, einmütig den Mut fand, die armenische Tragödie im Osmanischen Reich als das zu bezeichnen, was sie war: ein Völkermord. Auch auf die deutsche Mitschuld legten sich die deutschen Parlamentarier fest, ohne sie genauer zu benennen. Damit gaben sie ein starkes Signal an die deutschen Bundesländer und Universitäten, das Tabu des Verschweigens nicht länger zu dulden. Der Genozid an den Armeniern und die deutsche Rolle dabei gehören – gerade wegen der Absicht der Türkei, die Kinder von drei Millionen Türken in Deutschland oder Deutschen türkischer Herkunft weiterhin von der Wahrheit fernzuhalten – in die deutschen Schulbücher und an die deutschen Universitäten. Das Buch von Dora Sakayan ist ein wichtiger Beitrag dieses herauszuarbeitenden Gesamtbilds des Völkermords an den Armeniern und seiner Haupt- und Mitschuldigen.