Читать книгу Timeflyer - Doris Bühler - Страница 4

Оглавление

1. DREI JAHRE ZUVOR - START IN EIN NEUES LEBEN

Sommer 1983

Der Himmel war grau und verhangen, und als der Zug Durlach in Richung Karlsruhe-Hauptbahnhof verließ, fielen die ersten Tropfen. Sie hinterließen kleine durchsichtige Spritzer auf den staubigen Scheiben.

Der junge Mann im letzten Abteil lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fenster und streckte die langen Beine aus. Er trug verwaschene Jeans und eine abgetragene schwarze Lederjacke, darunter ein T-Shirt, auf dem noch schemenhaft der Schriftzug von Supertramp zu erkennen war. Den hohen blau-weißen Turnschuhen war anzusehen, daß sie schon weit gelaufen sein mußten.

Sein Gepäck stand auf dem Sitz gegenüber: Eine vollgestopfte rote Sporttasche mit abgestoßenen Ecken und eine Umhängetasche aus dunkelblauem Denim. Daneben, versteckt in einer fleckigen Stoffhülle, eine Gitarre. An der Jeanstasche baumelte ein Namensschildchen, hinter dessen trübem Plastikfenster mit Filzstift Karl-Heinz Schwarzkopf geschrieben stand.

Der junge Mann pfiff ein paar Takte, schaute aus dem Fenster und verfolgte die vorüberziehende Häuserreihe der Stuttgarter Straße, bis der Zug in das Dunkel der Bahnhofshalle eintauchte wie in den Rachen eines riesigen Untiers.

“Karlsruhe Hauptbahnhof - Karlsruhe Hauptbahnhof! Bitte aussteigen, der Zug endet hier."

Der Waggon war vollbesetzt gewesen, nun wälzte sich eine lange Schlange von Fahrgästen im Mittelgang dem Ausgang zu. Der junge Mann nahm sein Gepäck auf und zwängte sich dazwischen.

Auf dem Bahnsteig blieb er einen Augenblick lang stehen. Für Sekunden tauchten Bilder in seiner Erinnerung auf. Bedrückende Bilder aus seiner Kindheit. Seine Mutter ganz in Schwarz gekleidet, mit verweinten Augen. Er war fünf Jahre alt gewesen, damals, als sein Vater starb. Fast spürte er wieder den festen Griff von Tante Veras Hand, mit dem sie ihn festhielt, aus Angst, er könnte ihr davonlaufen, denn er hatte sich heftig dagegen gewehrt, mit ihr nach Rastatt zu fahren und seine Mutter in ihrem Kummer alleinzulassen.

Er blinzelte und versuchte, die Erinnerungen von sich abzuschütteln wie ein lästiges Insekt. Das war lange her, seit damals hatte sich vieles verändert. Viel zuviel, dachte er. Und nicht unbedingt zum Guten.

In der Bahnhofshalle schaute er sich fasziniert um. Er mochte Bahnhöfe. Sie machten vergessen, wer man war, woher man kam und wohin man ging. Man war ein Reisender unter Reisenden, ein Tropfen im Strom des Geschehens. Er mochte das bunte Durcheinander von Läden und Ständen, von Automaten und Telefonzellen, Werbeplakaten und Lichtern. Mitten in der Halle blieb er stehen und schaute hinauf zum Kuppeldach, von dem das vielfältige Stimmengewirr widerhallte: Rufe, Schreie, Lautsprecherstimmen. Die Luft war erfüllt von Sehnsucht und Fernweh, als könnte man sie greifen. Und von Freiheit. Vor allem war es die Freiheit, die er tief in sich hineinsog.

Am Ausgang, neben den Ankunfts- und Abfahrtstafeln, stellte er die Taschen ab, lehnte die Gitarre behutsam dagegen und zog ein zusammengefaltetes Zettelchen aus seiner Jackentasche. Schwanenstraße 6. In Gedanken hörte er Josch sagen: ‘Ganz in der Nähe der Pyramide, nicht weit weg vom Marktplatz. Findest du bestimmt.’

Inzwischen war der Regen stärker geworden und platschte auf die Überdachung der Rolltreppe, die unter die Straße führte und zu den Haltestellen der Straßenbahn. Dabei trat ihm die junge Frau in den Weg, die an einem Stand Schmuck verkaufte. “Sieh mal, wie gefällt dir das?” fragte sie und hielt ihm ein silbernes Kreuz an einem dünnen Kettchen entgegen. Er sah sich den Anhänger an, hob den Kopf und fing einen Blick aus ungewöhnlich blauen Augen auf. Er lächelte, zuckte bedauernd die Schultern und lief weiter.

Es war Feierabendzeit. Unter dem Glasdach der Haltestelle drängte sich eine Traube wartender Menschen, die Schutz vor dem Regen suchte. Zwischen einer alten Frau und einem dicken Herrn mit Brille war gerade noch so viel Platz, daß er sich dazwischenzwängen konnte. Weiter hinten beschwerte sich jemand lautstark darüber, daß man sich nun kaum mehr rühren konnte.

Die alte Frau neben ihm lächelte ihm zu, und verwundert bemerkte er ein paar Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Ihr Anblick rührte ihn, ohne daß er gewußt hätte, warum. Sie mußte kranke Augen haben, dachte er sich, oder sie war einfach nur traurig. Vielleicht erinnerte er sie an ihren Sohn oder an einen Enkel, den sie lange nicht gesehen hatte. Nicht nur, weil ihm die Großstadt fremd und ungewohnt war und er sich mit den Bussen und Bahnen nicht auskannte, sondern aus einem Gefühl heraus, das er sich selbst nicht erklären konnte, sprach er die alte Frau an und fragte sie nach der richtigen Straßenbahn in Richtung Marktplatz und Pyramide.

“Ich habe den gleichen Weg,” sagte sie. “Ich werde Ihnen sagen, wenn die richtige Bahn kommt, und auch, wann und wo Sie aussteigen müssen.”

Die Pyramide war kleiner, als er sie in Erinnerung hatte. Als er davor stand und sich unschlüssig umschaute, regnete es noch immer, und er wußte nicht, in welche Richtung er gehen sollte. Ein paar Kinder in gelben Regenmänteln hüpften lachend und kreischend über die Pfützen auf dem Gehsteig, doch wo es zur Schwanenstraße ging, wußten auch sie nicht. Erst eine Gruppe junger Mädchen konnte ihm weiterhelfen. Sie hatten ihn eine Weile kichernd und tuschelnd hinter ihren Regenschirmen hervor beobachtet und bekamen rote Köpfe, als er sie ansprach.

Ziemlich durchnäßt erreichte er schließlich das Haus Nr.6 in der Schwanenstraße: Eine häßliche graue Fassade, die ihn aus dunklen Fensterhöhlen drohend anzustarren schien. Die Haustür war nur angelehnt, sie ließ sich nicht schließen, weil jemand das Schloß herausgebrochen hatte. Im Hausflur war es schmutzig, roch nach Essen, Moder und Urin. Die Ölfarbe an den Wänden war abgeblättert und hatte bizarre Muster aus brüchigen Resten hinterlassen. Schmierfinken hatten Sprüche und Parolen darübergekritzelt und -gesprüht. Am Fuße der Treppe gab es acht verbeulte Briefkästen, Reklamezettel und Zeitungen hingen unordentlich aus ihren Schlitzen. Einige der Namensschildchen waren unleserlich, andere fehlten ganz.

Er wußte nicht, auf welcher Etage Josch wohnte. Zögernd schaute er die Holztreppe hinauf, bevor er den ersten Schritt tat. Sie knarrte, während er langsam höher stieg. Als er die beiden Türen im ersten Stock erreichte, wurde eine von ihnen heftig aufgerissen und eine junge Frau kam heraus. Ärgerlich zuerst, sie mochte ihn für einen anderen gehalten haben. Dann hellte sich ihr Blick auf. "Hi," sagte sie, "zu wem willst'n?"

"Ich suche Josch," antwortete er.

"Ah!" Sie nickte und zog an einer Zigarette.

"Der wohnt doch hier, oder?"

"Ja," sagte sie und wies mit dem Kopf die Treppe hinauf, "einen Stock höher. Aber der ist noch nicht zu Hause. Und Biene auch nicht."

"Und wann kommt er zurück?"

"Spät." Sie lachte ohne jeden Grund.

"Okay." Er wandte sich um und stieg weiter hinauf.

"Wenn du willst, kannst du solange bei mir auf ihn warten."

Er hob abwehrend die Hand. "Nein, danke. Nicht nötig."

"Aber du bist ganz naß!" rief sie ihm nach.

Er gab ihr keine Antwort mehr.

Inzwischen hatte er die nächsten beiden Türen erreicht. Auf der einen klebte ein Zettel mit der Aufschrift Wagenhals, in die andere hatte jemand mit einem spitzen Gegenstand Müller eingeritzt. Er kannte Joschs Familiennamen nicht, und nachdem er auf beiden Seiten geläutet und sich nichts gerührt hatte, stellte er seine Taschen und die Gitarre ab und setzte sich auf die oberste Treppenstufe. An das Geländer gelehnt döste er vor sich hin, und die merkwürdigsten Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Vielleicht würde sein Leben eine ganz andere Richtung nehmen, jetzt, da er es selbst in die Hand genommen hatte. Mit ein bißchen Glück konnte er vielleicht sogar wieder Arbeit in einer Schreinerei finden und die abgebrochene Lehre zu Ende bringen. Wer weiß, vielleicht würde er sogar irgendwann seine eigene kleine Werkstatt haben. Eine wahnwitzige Idee, zugegeben, aber warum nicht? Er mochte die Arbeit mit Holz. Das Schreinern hatte ihm immer viel Spaß gemacht, es war nur der Meister gewesen, mit dem er nicht zurechtgekommen war. Eigentlich war ihm schon damals der Gedanke gekommen, aus Bretzingen wegzugehen, er war nur wegen Mama und den Mädchen geblieben. Wenn er jedoch geahnt hätte, daß sich die Probleme mit Walter derart zuspitzen würden...

Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen sein mochte, als ihn das Quietschen der Haustür aus seinen Gedanken riß. Inzwischen war es fast dunkel im Treppenhaus geworden, und als jemand das Licht anknipste, blinzelte er in den trüben Schein der nackten Glühbirne an der Decke und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Mit leichten schnellen Schritten kam jemand die Treppe herauf. Es war eine junge Frau. Sie blieb stehen, als sie ihn sitzen sah. Es schien, als fürchtete sie sich, an ihm vorüberzugehen.

"N'Abend," sagte er, stand auf und schob mit dem Fuß seine Taschen zur Seite, um ihr Platz zu machen.

"N'Abend," antwortete sie, blieb aber weiterhin stehen.

Er trat bis zur Wand zurück. "Bitte!"

Die junge Frau zögerte noch immer.

Sie war nicht sehr hübsch. Ihr schmales, fast knochiges Gesicht war von kurzem dunklem wuscheligem Haar umgeben, ihre tiefliegenden Augen schauten ihn fast ängstlich an.

"Wohnst du hier?" fragte er sie.

Sie nickte. "Ja."

"Dann mußt du Josch kennen."

"Ja." Zögernd kam sie eine Stufe weiter herauf.

"Er hat mir seine Adresse gegeben. Wir kennen uns von Supertramp."

Er hielt ihr den Zettel mit der Anschrift hin. Jetzt kam sie vollends herauf, nahm ihm den Zettel aus der Hand und nickte. "Ja, das ist seine Schrift," sagte sie. "Was willst du denn von ihm?"

"Ich dachte... Josch hat mir angeboten, daß ich eine Weile bei ihm wohnen kann, wenn ich mal von zu Hause weggehe. Für den Anfang jedenfalls, bis ich was anderes finde."

Nun lächelte sie. "Dann mußt du der Kalle sein, stimmt's?"

Sie lief an ihm vorüber, schloß die Tür auf, an der Wagenhals stand und sah sich nach ihm um. "Komm rein," sagte sie freundlich. "Ich bin Biene. Josch hat mir von dir erzählt."

Kalle folgte ihr und trat ein.

Sie stellte ihren Schirm aufgespannt in eine Ecke des langen, fast leeren Korridors und hängte ihren nassen Anorak an einen Haken an der Wand. Dann forderte sie ihn auf, seine Jacke ebenfalls auszuziehen, nahm sie ihm ab und hängte sie daneben. "Er war sich sicher, daß du eines Tages kommen würdest," sagte sie lächelnd.

Sie führte ihn in einen Raum, der Küche und Wohnzimmer zugleich war. Ärmlich eingerichtet, aber doch einigermaßen sauber. "Setz dich. Josch wird in etwa einer halben Stunde hier sein, wenn nichts dazwischenkommt."

Während er sich auf einem alten Sofa niederließ, holte Biene eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und stellte sie vor ihm auf den Tisch, dann zog sie sich einen Stuhl aus der Ecke herüber und setzte sich zu ihm.

"Was macht Josch zur Zeit?" fragte er, um eine Unterhaltung zu beginnen.

Sie machte eine Handbewegung, die fast alles bedeuten konnte. "Mal dies, mal das," meinte sie, "irgendwas findet sich immer."

"Und du? Was machst du?"

"Schmuck," antwortete sie und wies auf einen kleinen Tisch vor dem Fenster, auf dem, ausgebreitet auf einem Stück dunkelblauem Samt, verschiedene Schmuckstücke, Teilchen aus Silber und das dazugehörige Werkzeug lagen.

"Schmuck?"

"Ja, wir sind eine Clique von fünf Leuten. Wir stellen den Schmuck selbst her und verkaufen ihn dann."

Kalle erinnerte sich an das Mädchen mit den blauen Augen. "Am Bahnhof?"

Sie nickte. "Ja, auch am Bahnhof. Aber ich gehöre zum Stand in der Kaiserstraße."

“Und wie läuft das Geschäft?” Kalle nahm einen Schluck aus der Flasche. “Verkauft ihr tatsächlich so viel von dem Zeug, daß es sich lohnt?”

Sie zog ein Gesicht. "Naja, es könnte besser sein, aber unser Schmuck ist billig. Billiger jedenfalls, als der im Laden. Und trotzdem sehr hübsch. Und wenn es auch nur ein paar Mark sind, die wir dadurch verdienen, so ist es doch immer noch besser, als gar nichts. Leider bin ich nicht ganz gesund, das Stehen fällt mir ziemlich schwer. Ich bin auch nicht so gut bei der Fertigung, wahrscheinlich hab ich zu wenig Fantasie. Deshalb habe ich mich auch mehr auf die einfachen Sachen spezialisiert.” Sie lachte, wurde aber gleich wieder ernst. "Und bei dieser Puzzle-Arbeit hab ich auch Schwierigkeiten mit den Augen. Für mich wäre es besser, wenn ich was ganz anderes machen könnte. Es ist nur nicht einfach, etwas zu finden, wenn man nichts gelernt hat. Ich möchte auch unser Team nicht im Stich lassen."

Er nickte und schwieg eine Weile.

"Glaubst du, Josch kann Arbeit für mich finden?" nahm er die Unterhaltung schließlich wieder auf, weil es ihm unangenehm war, schweigend neben diesem fremden Mädchen zu sitzen.

Sie hob die Schultern. "Es ist nicht leicht zur Zeit, aber Josch hat allerhand Beziehungen. Er wird sich bestimmt darum kümmern."

Kalle gähnte, er merkte auf einmal, wie müde er war.

Biene beobachtete ihn und fragte: "Hast du Hunger, willst du was essen?”, fügte dann aber schnell hinzu: “Oder wartest du lieber, bis Josch kommt?"

Aus ihren Worten war herauszuhören, daß es ihr lieber wäre, wenn er auf Josch warten würde. "Nein, es geht schon," sagte er deshalb, obwohl sich sein Magen schon mehrmals gemeldet hatte. "Schließlich habe ich keine Weltreise hinter mir."

"Woher kommst du denn?"

"Aus Bretzingen."

"Ah." Ganz offensichtlich hatte sie keine Ahnung, wo Bretzingen lag. Und er hatte keine Lust, es ihr zu erklären.

Kurz nach halb zehn kam Josch nach Hause. Groß und breitschultrig stand er auf einmal in der Tür und musterte den fremden Besucher mißtrauisch. “Wer is'n das?" fragte er unfreundlich.

Kalle stand auf. "Mensch, Josch! Sag bloß, du kennst mich nicht mehr! Ich sag nur: Wildpark Stadion! Supertramp!"

Über Joschs Gesicht zog ein breites Grinsen. "Das gibt's doch nicht, der Kalle! Hab dich fast nicht wiedererkannt. Hast dein Haar jetzt länger, stimmt’s? Menschenskind, daß du da bist!" Er boxte ihn freundschaftlich in die Seite, zog sich die nasse Jacke aus, warf sie achtlos über einen Stuhl und sah sich nach Biene um. "Bring noch Bier." Und als das Mädchen eilig hinauslief, rief er ihr nach: "Und was zu essen. Hab einen Bärenhunger. Und der Kalle sicher auch."

Er zog sich einen Stuhl neben das Sofa. "Jetzt erzähl mal. Was hast'n vor? Hast Ärger zu Hause gehabt, was?"

"Naja, das Übliche," nickte Kalle. "Aber irgendwann reicht's einem einfach. Ich hatte die Schnauze voll, verstehst du?"

"Klar, Mann, versteh’ ich doch! Dein Alter..., war doch dein Stiefvater, stimmt’s? Hast mir ja von ihm erzählt. Hast recht gehabt, daß du weg bist. Kannst bei uns bleiben erst mal, später sehen wir weiter."

Biene stellte einige Bierflaschen auf den Tisch und brachte einen Laib Brot und ein großes Stück Schinken. Von beidem schnitt sich Josch mit seinem Taschenmesser ein paar unförmige Stücken herunter und schob es dann zu Kalle hinüber. Der langte nun auch kräftig zu.

Josch sah sich nach Biene um, die halb hinter ihm stand und auf neue Anweisungen zu warten schien. "Kannst jetzt ruhig verschwinden,” sagte er zu ihr, “wir haben noch zu reden." Und dann schlug er Kalle erneut auf die Schulter und lachte: “Mann, ist das 'ne Überraschung! Aber ich hab’s gewußt, daß du eines Tages hier aufkreuzen würdest!"

"Glaubst du, daß ich Arbeit finden werde? Kannst du da was machen?"

"Klar doch! Hab Beziehungen. Wird schon klappen irgendwie. Kannst solange hier bei uns pennen, hab 'ne leere Kammer." Mit dem Kopf wies er auf eine Tür neben dem Spültisch, die in ein angrenzendes Zimmer führte. "Hat schon so manchen vor der Parkbank bewahrt." Er lachte, hob seine Bierflasche und stieß mit Kalle an. "Auf dein neues Leben," sagte er, und Kalle nickte. "Ja, auf mein neues Leben!"

Später, als er in dem engen kleinen Raum auf der übelriechenden Matratze lag und in die Dämmerung starrte, zog Kalle Bilanz über seinen Start in dieses neue, selbständige Leben. Noch hatte er sich nicht ganz von zu Hause gelöst, noch erschien ihm alles wie ein kurzer Ausflug in eine andere, fremde Welt, aus der er morgen wieder verschwinden und in den Kreis seiner Familie zurückkehren konnte, wenn er wollte. Aber er wollte nicht. Er ballte die Faust unter der schmutzigen Wolldecke, mit der er sich zugedeckt hatte. Er war sich der Tragweite seines Entschlußes noch immer nicht ganz bewußt, deshalb störte ihn weder die Leere noch die Häßlichkeit des kleinen Zimmers, in dem er lag, und auch nicht die zerfetzten Seiten aus Pornoheften, die an der Wand klebten. Noch vermißte er sein Bett nicht, die saubere Bettwäsche, das Badezimmer... Noch schwirrten tausende großartiger Ideen in seinem Kopf herum und Pläne darüber, was er alles tun, und wie er alles machen wollte. Er stellte sich Walter, seinen Stiefvater, vor, wie er zu Hause in der kleinen Küche saß. Mager, mit schütteren blonden Haaren, unrasiert und mit schweren Augenlidern vom letzten Rausch. Eines Tages würde er zurückkehren, ihm ein paar Scheine auf den Tisch blättern und gönnerhaft zu ihm sagen: "Da! Kauft euch was! Was Hübsches für Mama und die Mädchen."

Bei dem Gedanken an seine Schwestern mußte er lächeln. Er hing sehr an ihnen, an allen dreien. Aber ganz besonders an Biggie, der jüngsten, die so empfindsam und sensibel war. Eines Tages, wenn er es geschafft haben würde, wollte er zurückkehren und sie alle verwöhnen. Eines Tages...

Schon am nächsten Morgen machten sie sich auf die Suche nach Arbeit für Kalle. Der erste auf Joschs Liste war ein Kunststudent, der in einer Dachkammer zwischen Staffeleien, Bildern und Farbtöpfen hauste. Er hatte rotes ungepflegtes Haar und sah krank aus. Josch hatte ein paarmal für ihn Modell gesessen. Das brachte zwar nicht viel, aber es war leicht verdientes Geld, weil man kaum etwas dafür tun mußte. Doch der Student hob bedauernd die Schultern, im Augenblick brauchte er niemanden.

Der nächste war Verkäufer in einer Boutique in der Kaiserstraße. Er trug eine hautenge schwarze Lederhose, dazu ein weinrotes Rüschenhemd. An seinem linken Ohr glänzte ein winziges goldenes Kettchen mit einem Rubin als Anhänger. Das lange mahagonifarben getönte Haar hatte er im Nacken mit einem Seidenband zusammengebunden. Für ihn hatte Josch wiederholt Pakete ausgetragen und andere Botengänge erledigt. "Wie sieht's mit Arbeit aus, Fabian?” fragte Josch. "Haste nicht was zu tun für meinen Freund hier?"

Der junge Mann betrachtete Kalle abschätzend, während er sich mit einer eleganten Handbewegung eine Haarsträhne aus der Stirn strich.

“Sieht doch Klasse aus, finds’te nich?” meinte Josch zwinkernd, und Kalle trat erschrocken einen Schritt zurück. Fast war er erleichtert, als der Schönling den Kopf schüttelte. “Tut mir leid, im Augenblick brauche ich wirklich niemanden. Vielleicht in einigen Wochen, wenn der Sommerschlußverkauf losgeht. Meldet euch doch einfach mal wieder.”

Gegen Mittag trafen sie sich mit einem alten Mann in einem Straßencafé. Er trug einen verwaschenen Pullover mit einem großen Loch im Ärmel und roch ungewaschen und nach Knoblauch. Er arbeitete auf einem Schrottplatz, wo er sich in einem rostigen, ausrangierten Kleinlaster eingenistet hatte. Mitunter, wenn es viel zu tun gab, erlaubte er auch mal einem andern, sich dort ein paar Mark zu verdienen. Er musterte Kalle eingehend und mit unverhohlener Neugier aus kleinen flinken Raubvogelaugen. Dann entschied er sich gegen ihn, ohne zu erklären, warum. "Im Moment ist nichts drin, mein Lieber," sagte er und schüttelte den Kopf mit den weißen, zotteligen Haaren. Er stand auf, und ohne seine Rechnung zu bezahlen, verschwand er mit schlurfenden Schritten zwischen den Passanten.

Josch wurde immer einsilbiger. Von nun an ließ er Kalle auf der Straße warten, wenn er mit jemandem verhandelte. Und Kalle fragte nichts mehr. Ihm schien, als beträfe das alles gar nicht ihn, sondern einen ganz anderen. Es interessierte ihn immer weniger, worüber geredet wurde, wenn Josch wieder einmal irgendwo läutete und dann hinter einer Tür verschwand. Um sich darüber Gedanken zu machen, sagte er sich, war noch Zeit, wenn es tatsächlich einmal klappen sollte. Doch dazu kam es nicht.

Gegen Abend aßen sie eine Kleinigkeit an einer Imbißbude. Als Josch sein Portemonnaie zückte, kam ihm Kalle zuvor. Noch hatte er genügend Geld in der Tasche, denn er hatte einen großen Teil seiner Ersparnisse von seinem Konto in Bretzingen abgehoben. "Laß gut sein, ich mach das schon,” meinte er. “Du hast heute schon genug Ärger gehabt durch mich.”

Josch lächelte süßsauer und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Bierglas. "Hast 'ne schlechte Zeit erwischt," erklärte er achselzuckend.

Kalle nickte. "Morgen früh werde ich mir eine Zeitung kaufen. Irgendwas wird sich schon finden.”

Josch fühlte sich in seinem Stolz verletzt. “Brauchst keine Zeitung,” warf er ein, “kenne genügend Leute, müssen nur die richtigen finden. Wir geben nicht auf, Kalle, noch ist nichts verloren. Morgen suchen wir weiter.”

Kalle nickte wieder und gähnte. Die Füße taten ihm weh, und sein T-Shirt war durchgeschwitzt. “Okay,” sagte er, “wenn ich nur erst mal bei dir wohnen bleiben kann.”

Josch lachte und klopfte ihm auf die Schulter. “Klar, Mann, ist doch Ehrensache! Solange du willst. Mach dir darüber keine Sorgen.”

Timeflyer

Подняться наверх