Читать книгу Timeflyer - Doris Bühler - Страница 6

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Juni 1987

Klaus war von Anfang an dagegen gewesen, daß ich Dr. Weißgerbers Angebot, als seine Assistentin mit ihm zusammenzuarbeiten, angenommen hatte.

"Er wird dich ausnutzen," hatte er prophezeit, "Leute wie er nutzen ihr Personal immer aus."

"Das wird er nicht tun. Du kennst ihn doch gar nicht," verteidigte ich meinen neuen Chef.

Klaus schüttelte den Kopf. "Dazu muß ich ihn nicht kennen. Überleg doch mal, du hast von Physik keine Ahnung, - jedenfalls weißt du nicht mehr, als das bißchen, das du in der Schule gelernt hast. Wie kannst du dann seine Assistentin sein? Du wirst nichts anderes sein, als seine Schreibmamsell."

"Das ist nicht wahr! Es ist ein verantwortungvoller Job. Es ist mehr, als nur an der Schreibmaschine zu sitzen und zu tippen. Eine solche Chance bekomme ich nie wieder."

Er rümpfte die Nase. "Chance? - Daß ich nicht lache!"

Wir waren auf dem Weg zu Freunden, er hatte mich mit dem Wagen von zu Hause abgeholt. Obwohl ich mich so auf diesen Abend gefreut hatte, ärgerte ich mich nun, weil er es geschafft hatte, mir die Laune zu verderben. Ich schmollte.

"Verantwortungsvoller Job. Wenn ich so etwas höre," spottete er weiter, ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden. "Du wirst immer und ewig von ihm abhängig sein. Von seiner Arbeitsweise und von seinen Launen."

Die Enttäuschung trieb mir fast die Tränen in die Augen. Warum sah er alles so negativ, anstatt sich mit mir zu freuen?

"Ich werde selbständig sein," sagte ich trotzig. "Ich werde ein eigenes kleines Büro haben, das ich mir so einrichten kann, wie ich möchte. Und eines Tages werde ich auch mehr Geld bekommen."

"Und du wirst ihm seinen Kaffee kochen und servieren und bei Besprechungen seine Doktoren und Professoren bedienen. Vielleicht sogar seinen Aschenbecher und seinen Papierkorb leeren." Ärgerlich drückte er auf die Hupe, weil ein alter Mann nicht schnell genug die Straße überquerte.

"Na und? Was wäre denn schon dabei?"

"Glaub ja nicht, daß du dann noch pünktlich Feierabend machen kannst. Denkst du, du könntest auf den Gongschlag nach Hause gehen, wenn der gute Herr Doktor noch zu tun hat? Damit ist jetzt Schluß."

Er hielt vor einer Ampel, die auf Rot stand. Hinter der Heckscheibe des Wagens vor uns saß ein Hund aus Pappmaché, der mit dem Kopf wackelte.

"Ich seh's doch bei der Schumann, der Sekretärin unseres Chefs," spann Klaus sein düsteres Szenarium weiter. "Die sitzt manchmal bis abends acht, halb neun im Büro."

"Das ist doch was anderes."

"Ach ja?" Klaus griff nach der Marlboro-Schachtel auf der Ablage zwischen uns und zündete sich eine Zigarette an.

"Du arbeitest in einem Handwerksbetrieb, da warten die Kunden darauf, daß die Arbeit rechtzeitig fertig wird. Bei uns läuft das etwas anders. Was glaubst du, wieviele mich um diesen Job beneiden werden."

Er lachte trocken. "Klar! Dumme gibt's schließlich immer."

Nun war ich ernsthaft böse und schaute mit zusammengepreßten Lippen aus dem Fenster.

"He!" Sein Zeigefinger strich behutsam über meine Wange. "So hab ich's doch gar nicht gemeint. Ich will doch nur dein Bestes, Karin, begreifst du das nicht?"

Die Ampel schaltete auf Grün. Der Wagen vor uns hatte Startschwierigkeiten und ruckte ein paarmal, dadurch wackelte der Kopf des Hundes wild hin und her, und ich mußte lachen. Klaus mißverstand das. "Wieder Freunde?" fragte er zärtlich.

Unser Blicke trafen sich. "Aber die Dumme nimmst du zurück."

"Na schön, es gibt Schlimmere..." Er duckte sich, bevor ich ihm einen Klaps versetzen konnte. "Du As-sis-ten-tin!" betonte er lachend, doch er wurde gleich wieder ernst. "Ich sehe die Dinge nun mal nüchterner als du. Ich mach mir einfach nur Sorgen um dich."

"Das ist nicht nötig. Dr. Weißgerber ist keiner von denen, die andere ausnutzen, er ist ein sehr netter Chef."

"Hoffentlich nicht zu nett."

Ich kicherte, als ich mir ausmalte, wie sich Klaus den Doktor vorstellen mochte: Als einen gutaussehenden älteren Herrn mit graumelierten Schläfen, der seine Assistentin auf den Knien hielt, während er mit ihr die Weiterführung eines Projektes besprach..

"Vielleicht solltest du ihn mal persönlich kennenlernen, damit du dir ein- für allemal den Gedanken aus dem Kopf schlägst, ich könnte eines Tages mit ihm durchbrennen."

Ich mußte lächeln, als mir diese Szene wieder einfiel, während ich dem Doktor zuschaute, wie er sein neuestes Experiment vorbereitete.

Obwohl es für jeden einzelnen von uns immer wieder an ein Wunder grenzte, was er und Prof. Riechling uns vorführten, so hatte sich doch inzwischen die ganz große Aufregung gelegt, und wir sahen dem bevorstehenden Erlebnis wesentlich gefaßter und gelassener entgegen, als beim ersten Mal.

Im Juni 1986 hatte uns der Doktor ein Gerät vorgestellt, das nur noch die Größe eines Walkie-Talkies hatte, und das zuverlässiger arbeitete, als der unförmige Prototyp vom Januar. Wie vorausberechnet, fast auf die Viertelstunde genau, kam der in die Zukunft geschickte Gegenstand, eine dunkelbraune Schreibmappe, zu uns zurück, ohne daß auch nur ein einziges Blatt gefehlt hätte oder eine Seite verknickt gewesen wäre.

Anfang Dezember 1986 war das Gerät dann nur noch so groß wie eine Packung Zigaretten und arbeitete mit der Präzision eines Uhrwerks, und nun, - wir schrieben inzwischen den 22. Juni 1987, - war Dr. Weißgerbers Modell auf die Größe einer Streichholzschachtel zusammengeschrumpft und mit einem metallenen Gehäuse versehen. Nun sollte es erstmals an einem lebenden Wesen getestet werden, und zwar an dem kleinen ahnungslosen Kaninchen, das vor uns in einer mit Stroh ausgelegten Holzkiste saß.

Der Doktor und Prof. Riechling hatten hart gearbeitet in den letzten Wochen und Monaten, und sie versicherten uns, daß dieser neue ‘Timeflyer’ so genau funktioniere, daß die Abweichung nur noch etwa eine Minute über einen Zeitraum von fünf Jahren ausmachte.

“Im Prinzip ist das natürlich noch zuviel,” bekannte Prof. Riechling.“Außerdem arbeiten wir bereits seit einiger Zeit an einem Modell, das so klein sein wird, daß es wie eine Armbanduhr am Handgelenk getragen werden kann. Seine Bedienung wird um ein Vielfaches einfacher sein, als bei den letzten Exemplaren, und seine Abweichungen werden so geringfügig sein, daß sie nicht mehr ins Gewicht fallen, - egal, wie weit wir uns vorwärts in die Zukunft oder zurück in die Vergangenheit bewegen werden.”

Dr. Degenhardt sprang auf. “Was soll das heißen: ‘...wie weit wir uns bewegen werden’? Wir? Und was wollen Sie damit sagen, wenn Sie ankündigen, man könne es ‘wie eine Armbanduhr am Handgelenk’ tragen? Soll das etwa bedeuten...?”

Dr. Weißgerber hob die Hand, um das Gespräch zu beenden. “Wir werden während des Experiments noch Zeit genug haben, uns über ungeklärte Fragen zu unterhalten,” sagte er. “Jetzt sollten wir erst einmal beginnen.”

Der Professor konnte sich allerdings eine letzte Bemerkung nicht verkneifen. “Wenn alles gut geht, werden wir Sie bald zu einer Reihe ganz neuartiger Versuche einladen können. Und vielleicht sogar noch vor Ablauf diesen Jahres."

Der Doktor legte ihm schnell die Hand auf den Arm und warf ihm einen tadelnden Blick zu, als hätte er bereits ein klein wenig zuviel verraten.

Es war ein ganz normales Kaninchen mit graubraunem Fell. Ich hatte ihm eine Möhre hingehalten, die es geschickt zwischen den Vorderpfoten hielt, und an der es nun geräuschvoll nagte.

“Das berühmteste Kaninchen der Welt", sagte Frau Dr. Ebenstreit neben mir und kraulte es zwischen den langen Ohren. “Wenn es wüßte, was wir heute mit ihm vorhaben, würde ihm seine Karotte ganz gewiß nicht mehr schmecken.”

Sie trug ein Strickkostüm in Silbergrau mit altrosa Streifen und sah sehr elegant aus. Von Dr. Weißgerber wußte ich, daß sie keine Wissenschaftlerin im eigentlichen Sinne war, sondern daß sie in Frankfurt eine Praxis für Allgemeinmedizin unterhielt, daß sie aber sehr offen war für alles Neue und Unkonventionelle, und daß außergewöhnliche Vorgänge schon immer einen großen Reiz auf sie ausgeübt hatten. Im Übrigen hielt er es für besonders wichtig, auch einen Mediziner in seiner Runde zu haben.

“Es wird schon gutgehen, kleines Häschen," sagte ich zu dem Kaninchen, "wahrscheinlich wird alles problemlos über die Bühne gehen."

Frau Dr. Ebenstreit lachte. "Hoppla, Sie zweifeln doch nicht etwa an dem Doktor?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, nein. Im Grunde bin ich überzeugt davon, daß alles klappt. Er weiß genau, was er tut und überläßt nichts dem Zufall."

Sie ließ die Brille an der silbernen Kette baumeln und nickte. "So ist's recht," meinte sie, "das hört sich doch gleich viel besser an."

Dr. Degenhardt war Naturwissenschaftler und Dozent an der Universität in Köln. “Ich denke, wir dürfen wieder mit einem fantastischen Erlebnis rechnen,” sagte er, als er sich zu uns gesellte. Er stützte sich auf den Holzkasten, in dem das Kaninchen saß, und betrachtete es gedankenverloren.“Ich hoffe nur, wir müssen nicht eines Tages dafür büßen, daß wir uns in Angelegenheiten mischen, die uns nichts angehen. Wir Menschen können die Gesetze der Natur zwar erforschen und versuchen, sie sinnvoll einzusetzen, aber wir sollten uns davor hüten, neue Phänomene heraufzubeschwören. Es ist, als wollten wir unserem Herrgott ins Handwerk pfuschen.”

“Na, na, Doktor, wer wird denn so schwarzsehen,” fuhr Herr Fröbel, der Mathematiker, dazwischen. “Auch der Zeitsprung unterliegt den logischen Gesetzen der Natur. Und noch haben wir ja nicht gepfuscht, oder?”

Dr. Degenhardt wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. “Wer weiß, wohin uns unsere Neugier noch führen mag.”

Dann war es schließlich soweit, das angekündigte Kaninchen-Experiment konnte starten. Vorsichtig hob ich den kleinen Kerl aus seiner Kiste und setzte ihn auf den großen Bogen Papier, den Prof. Riechling mit einem Zwinkern und mit der Bemerkung “Für alle Fälle” auf dem Mosaiktisch ausgebreitet und befestigt hatte. Als das Kaninchen schnuppernd von seinem zugewiesenen Platz herunterhoppelte, schob er es ein wenig unsanft wieder zurück, bis auf eines der zwei aufgemalten dicken schwarzen Kreuze.

Es war genau zwei Minuten vor 14 Uhr. Diesmal sollte nicht nur die Reise in eine andere Zeit, sondern erstmals auch die gezielte Ankunft aus der Zukunft in unsere Gegenwart demonstriert werden. Es war geplant, daß wir unser Kaninchen punkt 16 Uhr um genau zwei Stunden zurückschicken würden. Das bedeutete, daß wir es in wenigen Minuten, also genau um 14 Uhr, in unserer Gegenwart erwarten konnten. Dazu hätten wir ‘unser’ Kaninchen zunächst noch gar nicht gebraucht, doch bei dieser Gelegenheit sollte auch gleich das Verhalten ‘beider’ Tiere zueinander getestet werden.

Die Turmuhr, die hinter den Dächern der benachbarten Häuser zu erkennen war, schlug mit vier kleinen hellen Schlägen zur vollen Stunde und zeigte dann mit zweimaligem dumpfem Dröhnen an: Es war 14 Uhr. Alle hielten den Atem an. Auch ich war aufgeregt und starrte auf das Papier auf dem Tisch, wo das Kaninchen unsicher auf einer der Markierungen saß und Dr. Weißgerber Mühe hatte, es daran zu hindern, seinen Platz zu verlassen. Ich warf einen schnellen Blick auf die Taschenuhr neben meinem Schreibblock. “Die Turmuhr geht eine Minute vor,” sagte ich in die Stille hinein.

Die Anwesenden bewegten sich schnell noch einmal, husteten, atmeten kräftig durch, schlugen die Beine übereinander oder beugten sich ein wenig weiter vor. Dann waren die Blicke aller wieder starr und gespannt auf die zweite Markierung gerichtet.

Und plötzlich war es da! Es geschah genauso unvermittelt und überraschend, wie jedesmal. Auf einmal saß da ein zweites Kaninchen, und ‘unser’ Exemplar hoppelte ihm freudig entgegen, um es zu begrüßen, ohne zu ahnen, daß es sich selbst gegenübersaß.

Mir war, als griffe eine Hand nach meiner Kehle. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie mir zumute wäre, wenn ich mir plötzlich selbst gegenüberstünde. Wenn da vor mir, Auge in Auge, ein anderer Mensch erschiene, der doch gleichzeitig ich selbst war. Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken, und ich war froh, daß das Kaninchen nicht begriff, was mit ihm geschah.

Dr. Weißgerber wies auf das streichholzschachtelgroße Gerät, das der Neuankömmling um den Körper gegurtet trug. “Im Augenblick haben wir sogar zwei Exemplare des ‘Timeflyers’,” sagte er, “ich möchte ihn aber nicht entfernen, um kein Risiko einzugehen." Er gab ‘unserem’ Kaninchen einen Stups, weil es sich wieder zu nahe an den Tischrand gewagt hatte, dann schaute er zu mir herüber, und unsere Blicke trafen sich. “Nein, nein, Herr Doktor, ich vergesse es nicht,” antwortete ich und kritzelte in ein paar schnellen Sätzen auf den Block, was ich gerade gesehen hatte.

“Das Universum bricht also nicht zusammen, wenn sich ein Lebewesen selbst begegnet, wie einmal jemand behauptet hat,” stellte Prof. Riechling zufrieden fest. Er hatte verschiedene Apparaturen am Rande des Tisches aufgebaut und half nun dem Doktor dabei, dem zweiten Kaninchen Kontakte anzulegen, um verschiedene Körperfunktionen und Reaktionen des Tieres zu testen und zu messen.

“Um auf Ihre Bemerkung von vorhin zurückzukommen, Professor,” begann Dr. Degenhardt, nachdem er den Vorbereitungen eine Weile zugeschaut hatte. “Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie davon überzeugt, daß dieses Experiment auch mit Menschen möglich wäre.”

“Theoretisch schon,” antwortete Prof. Riechling. “Der ‘Timeflyer’ funktioniert, - ganz gleich, was oder wen Sie daran befestigen.”

“Davon rate ich aber entschieden ab,” meinte Frau Dr. Ebenstreit ernst. “Die Auswirkungen auf die menschliche Psyche könnten katastrophal sein.”

“Ha, würde mich schon reizen, mir selbst mal guten Tag zu sagen,” mischte sich Herr Fröbel amüsiert ein.

“Das wäre vielleicht gar nicht so lustig, wie Sie sich das vorstellen. Diese Begegnung könnte selbst bei Ihnen eine Art Schock auslösen.”

Herr Fröbel lachte. “Das war deutlich!” In gespielter Verzweiflung schaute er sich suchend um. “Ein Königreich für einen Spiegel. Ist der Eindruck, den ich bei meinen Mitmenschen hinterlasse, tatsächlich so schockierend? Dabei dachte ich immer, ich sei ein einigermaßen hübscher Kerl.”

“Spaß beiseite,”schaltete sich Prof. Riechling ein und gab damit zu verstehen, daß er die Situation für viel zu ernst hielt, als daß man darüber seine Späße machen sollte. “Wenn man eines Tages tatsächlich eine Zeitreise mit einem Menschen durchführen sollte, würde man natürlich großen Wert darauf legen, eine derartige Begegnung zu vermeiden,” erklärte er. “Übrigens, wenn Sie sich für die letzten Ergebnisse im Zusammenhang mit diesem neuen Experiment interessieren, Herr Fröbel, bin ich jetzt gerne bereit, sie Ihnen zu erläutern.”

Unser Gast aus der Zukunft war gesund und munter. Sein Herz schlug normal, er reagierte auf heiß und kalt und andere äußere Reize und Einwirkungen, und er verhielt sich seinem zweiten Ich gegenüber genauso, wie das von ihm erwartet worden war. Mit dem gleichen Appetit wie zwei Stunden zuvor machte er sich über die Karotte her, die ich ihm hinhielt, und genauso bereitwillig ließ er sich von Frau Dr. Ebenstreit zwischen den Ohren kraulen.

Punkt 15 Uhr, wie vorausbestimmt, - Dr. Weißgerber war gerade rechtzeitig mit allen Untersuchungen fertig geworden, - war der Spuk wieder vorüber, und das Zukunftskaninchen kehrte in seine eigene Zeit zurück.

Während Dr. Weißgerber und Prof. Riechling für weitere Fragen zur Verfügung standen, beschäftigte ich mich wieder mit ‘unserem’ Kaninchen. Ich streichelte es, trug es im Zimmer umher und ließ es auf dem glatten Leder der Couch spazieren.

Kurz vor 16 Uhr kam der Doktor zu mir herüber und nahm es mir ab. “Es ist jetzt soweit,” sagte er, “wir müssen unseren Freund langsam auf seinen Start vorbereiten.”

“Keine Angst,” sagte ich noch einmal zu dem Häschen und streichelte es, fuhr ihm mit dem Zeigefinger ganz sacht über das rosa Näschen, “dir wird nichts passieren. Alles wird gutgehen.”

Dr. Weißgerber lächelte. “Es kann nichts mehr schiefgehen,” meinte er, “davon konnten wir uns doch bereits um 14 Uhr überzeugen.”

“Was wäre aber, wenn wir es jetzt nicht täten?" fragte ich. "Ich meine, wenn wir es jetzt einfach hier behielten, anstatt es in die Vergangenheit zu schicken?”

“Es ist vorprogrammiert, daß wir es tun.”

“Aber wenn wir es trotzdem nicht täten?”

“Darüber sollten wir uns vorerst noch keine Gedanken machen. Es gibt vieles, was wir bis jetzt noch nicht wissen. Es ist ein breites unbekanntes Feld, das es noch zu erforschen gilt. - Übrigens, Karin, ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen.”

“Ja?”

Er winkte ab.“Nein, nein, nicht jetzt! Das hat später noch Zeit.”

Der letzte Teil des Experiments, die Reise des Kaninchens in die Vergangenheit, war fast schon Routine für uns. Der Doktor öffnete das Lederkästchen, das er sorgsam verschlossen in seinem Schreibtisch aufbewahrt hatte, nahm den silberglänzenden streichholzschachtelgroßen 'Timeflyer', den wir ja bereits vom zweiten Häschen her kannten, heraus und band ihn mit Hilfe des Ledergurtes, an dem er befestigt war, um den Körper des Tieres.

Das verfrühte Schlagen der Turmuhr irritierte uns wieder, doch ich las die genaue Zeit von der Taschenuhr ab und gab sie an Dr. Weißgerber weiter. “Noch 30 Sekunden, 29..., 28..., 27...”

Herr Fröbel konnte nicht umhin, grinsend dazwischenzuflüstern: “Der Countdown läuft!”, was ihm einen strengen Blick von Prof. Riechling einbrachte. Der Doktor ließ sich dadurch jedoch nicht beirren. Ein kurzer schneller Druck auf den Knopf, der den Zeitsprung auslöste, und im nächsten Augenblick befand sich das Kaninchen auf seiner Reise in die Vergangenheit. Und was es dort erlebte, wußten wir ja bereits.

Die darauffolgende Stunde verbrachten wir nun ganz ohne Versuchstier. Der Doktor diskutierte mit seinen Gästen über verschiedene Aspekte, die das Phänomen Zeit betrafen.

Ich erinnerte mich, daß ich bereits lange vor dem ersten Experiment begriffen hatte, worum es in den Ausführungen des Doktors ging, denn er hatte über die sogenannte 'temporale Verschiebung‘ geschrieben, durch die es angeblich möglich sein konnte, von einer Zeit in die andere zu gelangen, sofern man herausfand, wie das zu bewerkstelligen war.

Doch was war Zeit überhaupt?

Im Lexikon las ich: 'Zeit ist, für die gewöhnliche Auffassung, ein kontinuierliches Fortschreiten, innerhalb dessen sich alle Veränderungen vollziehen.' Und weiter hieß es: 'In der Physik ist die Zeit eine, nach der täglichen Erfahrung, nicht beeinflußbare physikalische Größe, eine zu den drei Raumkoordinaten hinzutretende vierte Koordinate.‘

Dort stand es also Schwarz auf Weiß: ‘...nach der alltäglichen Erfahrung...‘ Das aber schloß die Möglichkeit nicht aus, daß eines Tages einmal jemand eine ganz andere Erfahrung machen konnte, und zwar die, daß Zeit eben doch beeinflußbar war.

Am nächsten Tag sprach ich den Doktor darauf an und erzählte ihm, was ich einerseits in seinem Bericht, andererseits im Lexikon gelesen hatte. Er lächelte, es schien ihm zu gefallen, daß ich mich dafür interessierte. Er bat mich in sein Büro und forderte mich auf, auf der Ledercouch Platz zu nehmen. Dann setzte er sich neben mich und breitete ein Blatt Papier vor uns auf dem Mosaiktisch aus.

“Man sagt, Zeit sei nur eine Illusion,“ begann er, “und alles, was geschähe, passiere in Wahrheit in einem einzigen Augenblickspunkt. Nun, für uns Menschen ist das unvorstellbar, denn wir empfinden sie als Aufeinanderfolge von Ereignissen, - anders kämen wir gar nicht damit zurecht. Früher stellten sich die Menschen die Zeit als eine gerade Linie vor, auf der wir, wie mit einem Schienenfahrzeug auf gerader Strecke vorwärtsfahren und nicht umkehren können. Durch die Allgemeine Relativitätstheorie, - Sie haben sicher schon davon gehört, nicht wahr? - wissen wir nun aber, daß die Zeit, wie auch der Raum, gewissen Krümmungen unterliegt.”

Mit einem Filzstift malte er ein sonderbares Gebilde auf das Papier, das einer in sich verschlungenen Schlange oder einem Knoten glich.

“Durch diese Krümmung können sich zwei Punkte dieser gewundenen Zeitschnur viel näher kommen, als wenn es sie nur auf einer geraden Linie gäbe. Von dem Punkt aus, an dem wir uns gerade befinden, also von unserer Gegenwart aus...”, - irgendwo auf der Schlange malte er einen dicken schwarzen Punkt, "...könnte es demnach wesentlich näher zur Vergangenheit oder zur Zukunft sein, als würden wir uns auf einer geraden Zeitlinie vorwärtsbewegen, und mit der richtigen Technik müßte es möglich sein, einen Teil des Weges quasi zu überspringen, - vorwärts oder rückwärts.”

Er malte einen dicken Strich vom Gegenwartspunkt hinüber zu einem Bogen der Schlange, der eigentlich in der Zukunft lag, ihn aber fast berührte. “Theoretisch wäre also nur eine gewisse temporale Verschiebung in die eine oder andere Richtung notwendig, wenn wir der Vergangenheit oder der Zukunft einen Besuch abstatten wollten. Sie haben sicher in meinen Aufzeichnungen davon gelesen.”

“Das ist unglaublich,” murmelte ich fasziniert. “Haben Sie sich schon überlegt, wie man das machen könnte?”

Er lächelte. “Genau daran arbeiten wir im Augenblick, der Professor und ich, Karin.”

Er atmete tief ein und fuhr dann fort: “Wir könnten uns beispielsweise einer ganz ‘natürlichen’ Methode bedienen.” Mit dem Filzstift begann er, eine weitere merkwürdige Figur zu zeichnen, ein Ding, das dem Endstück einer Trompete glich. Oder vielleicht eher einem Füllhorn? Einem Trichter?

“Die Physiker Einstein und Rosen haben nämlich festgestellt, daß es tatsächlich gewisse ‘Brücken’ gibt. Das sind Naturphänomene, die wir heute unter dem Begriff ‘Wurmlöcher’ kennen. Diese röhrenartigen ‘Tunnel’ erscheinen irgendwo und verschwinden wieder. Wenn wir vorhersehen könnten, wo und wann sie auftauchen, und wenn wir sie lange genug offen halten könnten, um sie zu nutzen, dann müßte uns das gelingen, was uns bisher noch unmöglich erscheint: Durch diese Tunnel könnten wir ohne große Mühe selbst weit entfernte Punkte in der Zunkunft oder in der Vergangenheit erreichen." Er machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. "Nun, Professor Riechling und ich versuchen seit geraumer Zeit, solche ‘Wurmlöcher’ künstlich zu erzeugen und auch offen zu halten. Winzig kleine Öffnungen nur, sozusagen ‘Miniwurmlöcher’, derer wir uns bedienen könnten.”

“Und wenn Ihnen das gelänge?”

“Dann wäre es uns möglich, beispielsweise einen Gegenstand durch diese ‘Röhre‘ in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu schicken.”

“Mein Gott,” murmelte ich. “Und ein Mensch? Könnte auch ein Mensch durch diesen Tunnel gehen?”

Er hatte sich zurückgelehnt und tief geseufzt. “Soweit wollen wir noch gar nicht denken, Karin. Jetzt muß es uns erst einmal gelingen, ein künstliches Wurmloch zu erzeugen und es lange genug geöffnet zu halten. Und das hat sich als wesentlich schwieriger erwiesen, als wir befürchtet haben.”

Doch daß ihnen das letztendlich gelungen war, davon hatte ich mich inzwischen selbst überzeugen können.

Kurz nachdem das Kaninchen auf die Minute genau um 17 Uhr wohlbehalten wieder bei uns eingetroffen war, hatten sich auch Dr. Weißgerbers Gäste auf den Heimweg gemacht. Das Kaninchen war in seine Kiste verfrachtet und diese mit einem Deckel aus Maschendraht verschlossen worden, und der Professor hatte sie in sein Auto geladen, um das Tier zu seinem Besitzer zurückzubringen.

Ich hatte dem Doktor noch beim Aufräumen geholfen. Er sah müde aus, doch er schien zufrieden zu sein mit dem Verlauf des Experiments. Ich war froh, daß er mir anbot, mich nach Hause zu fahren, denn inzwischen ging es auf 2 Uhr zu.

Während der Fahrt war er sehr schweigsam, er schien vergessen zu haben, daß er mit mir hatte reden wollen. Zwar verstand ich, daß ihm nach diesem aufregenden Abend, und nachdem er unentwegt die Fragen seiner Kollegen beantworte hatte, der Sinn nicht mehr nach Konversation stand, doch ich war neugierig und erinnerte ihn deshalb daran.

“Ja,” meinte er nachdenklich und nickte, “ja. Aber ich denke, es muß nicht unbedingt heute sein. Ich werde ein anderes Mal darauf zurückkommen.”

Als ich später im Dunkeln in meinem Bett lag, war mein Innerstes noch immer angespannt bis zum Zerreißen. Ich hätte gern jemandem erzählt, was ich erlebt hatte, doch ich wußte, daß ich das nicht durfte. Ich hatte versprochen, diese Experimente niemals zu erwähnen, weder gegenüber meinen Eltern noch gegenüber Klaus. Mit niemandem durfte ich über dieses Thema reden, mit niemandem! ...Außer vielleicht...? Ich knipste das Licht wieder an. Außer vielleicht mit ihm, mit BlackheadCharly...

Er lehnte vor mir an der Wand, breitbeinig, mit vor der Brust verschränkten Armen, den Kopf mit den schwarzen, wie kleine Lanzenspitzen abstehenden Haaren leicht zurückgebeugt. Er trug einen engen Anzug aus schwarzglänzendem Leder, gespickt mit glitzernden silberfarbenen Nieten, dazu hohe schwarze Schaftstiefel. Ein steifer Kragen lenkte die Aufmerksamkeit auf sein schwarz-weiß geschminktes Gesicht, und nur, wenn man ganz genau hinsah, bemerkte man den sanften Blick der braunen Augen unter den dunklen schräggestellten Brauen und das fast zärtliche Lächeln, das um seine Lippen lag.

“Hallo, Blackhead-Charly,” sagte ich zu ihm.

“Hi, Karin!” antwortete er und lächelte. “How are you?”

“Ach, Charly! Wenn du wüßtest, was ich heute wieder erlebt habe.” Ich seufzte tief. “Ich wünschte, ich könnte dir die ganze Geschichte erzählen.”

Er zwinkerte mir zu. “You can!" sagte er. "You know I’m your friend. That’s why I’m here to see you...”

Irgendwo schlug eine Uhr dreimal, und der Zauber des Augenblicks fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Vor mir an der Wand klebte ein lebensgroßer Poster des Rockstars, den ich so sehr verehrte. Wenn ich ihn anschaute, fiel mir das Märchen von Hauff ein, das von einem Bären erzählte, durch dessen struppiges häßliches Fell manchmal, für einen kurzen Augenblick, die goldene Haut eines verwunschenen Prinzen zu sehen war. Charly war mein Prinz. Inzwischen wußte ich längst alles über ihn. Auch, daß er nicht aus England oder Amerika kam, wie ich zunächst angenommen hatte, sondern aus einer ganz unbedeutenden kleinen Stadt in Süddeutschland, die kaum jemand kannte.

Inzwischen war seine LP 'Light and Shadow' herausgekommen, und sein Song 'Angel' war mein absoluter Favorit. Es schien, als ginge es darin um dieselbe unglückliche Liebe, von der er schon in 'Twilight' gesungen hatte.

Ich schaltete den Plattenspieler ein und setzte die Kopfhörer auf, dann knipste ich das Licht wieder aus, schloß die Augen und hörte mir noch einmal die Geschichte von Angel an, dem guten Engel, der großartige Zukunftsvisionen hatte, und der versprach, daß das Leben eines Tages wunderschön sein würde.

Timeflyer

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