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3. IM WOHNTURM

Sommer/Herbst 1983

Der Stand in der Kaiserstraße war schon fast fertig aufgebaut, als Kalle dort ankam. Ein junger Mann mit Vollbart trug Zeltplanen aus einem hellblauen VW-Bus und fing an, sie am Gestell des Verkaufstisches zu befestigen. Währenddessen nahm ein Mädchen mit langen blonden Haaren behutsam verschiedene Schmuckstücke aus einem kleinen schwarzen Koffer und legte sie auf einem dunkelroten Samtpolster aus.

Kalle sah ihnen eine Weile zu, trat dann ein paar Schritte vor und meldete sich mit einem freundlichen "Guten Morgen."

Der junge Mann, der inzwischen vor einem der Tischbeine hockte und zwei Teile der Plane mit einem Lederriemchen zusammenschnallte, blickte erstaunt auf. Auch das Mädchen schaute sich um, und Kalle stellte verblüfft fest, daß sie diejenige war, die ihm schon bei seiner Ankunft am Bahnhof durch ihre leuchtend blauen Augen aufgefallen war. Er streckte ihr die Hand entgegen. "Hallo, du mußt Barbara sein."

Sie stutzte, schlug dann ein und lachte. "Nein, die bin ich nicht, ich bin Viola. Und wer bist du?"

"Ich bin der Kalle, ich wohne bei Josch und Biene. Biene ist krank und kann heute nicht kommen. Da dachte ich, vielleicht könnte ich für sie einspringen und euch an ihrer Stelle ein bißchen helfen.”

Sie musterte ihn amüsiert. "Hast du denn eine Ahnung vom Verkaufen?"

"Bis jetzt nicht, aber sicher kann ich's lernen. Du wirst mir schon zeigen, wie man das macht.”

Viola lachte wieder, und in ihren blauen Augen tanzten tausend Teufelchen. Dann wurde sie ernst. "Ich habe gehört, daß Biene wieder umgefallen ist. Wie geht’s ihr denn?”

Kalle hob die Schultern. “Josch meint, es läge daran, daß sie zu wenig ißt.”

“So ein Unsinn, das ist es bestimmt nicht.”

Der junge Mann hatte sich aufgerichtet und kam nun zu ihnen herüber. "Du bist also Joschs neuer Untermieter!” Er betrachtete Kalle mit unverholener Neugier vom Kopf bis zu den Füßen. “Du siehst gar nicht so aus.”

“So? Wie müßte ich deiner Meinung nach denn aussehen?”

Der junge Mann ging nicht auf seine Frage ein, sondern reichte ihm stattdessen die Hand. "Ich bin Fredy,” stellte er sich vor, “sozusagen der Manager dieser Truppe.” Er ignorierte Violas Räuspern, machte eine umfassende Handbewegung und erklärte: "Naja, ich kümmere mich halt um alles. Angefangen vom Materialeinkauf bis hin zur Buchführung. Und außerdem bin ich noch Fahrer, Monteur, Handlanger und überall dort zur Stelle, wo es Probleme gibt.”

"Ja, ja," spottete Viola, die eben eine Handvoll Armbänder aus dem Köfferchen genommen hatte und sie nun, eines neben das andere, auf ein zweites Samtpolster legte. "Wenn wir dich nicht hätten!"

Ärgerlich wandte sich Fredy wieder ab und kümmerte sich um das nächste Tischbein.

Kalle sah Viola eine Weile zu. "Ich wußte nicht, daß ich dich hier treffen würde,” erklärte er. “Biene sprach von Barbara. Kommt sie später?”

"Nein, du mußt schon mit mir vorlieb nehmen," antwortete das Mädchen, ohne ihre Beschäftigung zu unterbrechen. "Wir haben getauscht. Heute ist Barbara am Bahnhof, wo ich normalerweise mit Fritz zusammenarbeite. Weil der aber mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus liegt, ist unser Allround-Talent Fredy für ihn eingesprungen." Mit einem Zwinkern sah sie sich nach dem bärtigen jungen Mann um. “Nun ist Biene aber auch noch ausgefallen, deshalb mußten wir ein weiteres Mal umdisponieren. Also sind jetzt Fredy und Barbara am Bahnhof, und ich... Lieber Himmel, warum erzähle ich dir das alles. Kurz gesagt, wenn du Lust hast, mir zu helfen, bist du herzlich willkommen. Dann kann sich Fredy ganz beruhigt in den Bahnhof zurückziehen.” Und mit verschmitztem Lachen fügte sie hinzu: “Wir haben ja nicht damit gerechnet, daß uns Biene eine tüchtige Vertretung schickt.”

Fredy rutschte zum nächsten Tischbein hinüber. "Barbara wäre allein hier in der Kaiserstraße total überfordert gewesen,” meinte er. “Sie ist viel zu langsam. Und auch viel zu ängstlich.”

Kalle zwinkerte Viola zu. "Aber du hättest das auch alleine geschafft, was?”

"Ja, ganz recht, ich hätte es auch alleine geschafft,” antwortete sie. "Ich hab nämlich vor nichts Angst! - Das hast du doch hören wollen, oder? Aber da ich jetzt dich an meiner Seite habe, kann mir ja gar nichts mehr passieren.”

Kalle lachte.

Fredy prüfte noch einmal die Standfestigkeit des Holzgerüstes. Er griff sich den leeren Pappkarton, in dem die Planen aufbewahrt gewesen waren, schob ihn in den Bus und rollte die seitliche Tür zu. "Ich komme zur üblichen Zeit und hole dich ab,” sagte er zu Viola, und mit einem kritischen Blick zum blauen Himmel fügte er hinzu: “Es sei denn, das Wetter hält sich nicht, dann komme ich früher."

Bevor er in den Bus stieg, blieb er noch einmal stehen und fragte Kalle: “Wie gefällt's dir eigentlich bei Josch und Biene?"

Kalle wußte nicht, was er darauf antworten sollte und hob ausweichend die Schultern. Fredy grinste und winkte ab. "Du brauchst mir nichts zu erzählen, ich weiß bescheid. Ein Drei-Sterne-Hotel ist’s nicht gerade, stimmt's?"

"Naja," brummte Kalle, "für den Anfang bin ich froh..."

Fredy nickte. "Aber auf die Dauer! Du siehtst nicht gerade so aus wie die Typen, die er sonst beherbergt. Vielleicht findet sich was anderes. Wenn du willst, werd’ ich mich mal umhören. Und du kennst doch auch genügend Leute, Viola, oder?”

Als Fredy fort war, half Kalle dem Mädchen, die letzten Schmuckstücke aus dem Koffer zu nehmen und auf den Samt zu legen. Einer der Anhänger gefiel ihm besonders gut. Er hielt ihn auf seiner flachen Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Ihm gefiel es, wie der kleine rote Stein in der Mitte von drei ineinander verschlungenen schmalen Silberbändchen gehalten wurde.

“Der ist ja fantastisch!” Einen Augenblick lang überlegte er, ob das vielleicht ein Geschenk für seine Mutter sein könnte, doch da sie erst im Dezember Geburtstag hatte, legte er ihn wieder auf das Polster zurück. “Ist der von Dir? Hast du ihn gemacht?” fragte er Viola. Sie sah flüchtig herüber. “Den? - Ja, der ist mein Werk. Gefällt er dir?"

“Er ist sehr hübsch. Wie machst du das bloß. Das ist doch sicher gar nicht so einfach."

"Ich hab mal eine Lehre als Goldschmiedin angefangen. Damals wohnten wir noch in Pforzheim."

"Und warum hast du nicht weitergemacht? Du hast doch Talent."

Sie zuckte die Schultern. "Das hatte viele Gründe." Sie wandte sich von ihm ab und gab ihm damit zu verstehen, daß sie nicht darüber reden wollte.

"Vielleicht solltest du mir zunächst erklären, wie so ein Tag bei euch abläuft,” wechselte er das Thema. “Was soll ich tun? Aufpassen kann ich eigentlich ganz gut, darin bin ich Spitze.” witzelte er. “Solltest du allerdings erwarten, daß ich auch etwas verkaufe, dann weiß ich, ehrlich gesagt, nicht so genau, ob ich das schaffe.”

Viola stellte zwei kleine Klappstühle auf und schob einen davon zu Kalle herüber. “Es reicht, wenn du aufpaßt. Der Stand ist ein bißchen unübersichtlich, und wenn man sich mit einem Kunden beschäftigt, könnte schon mal ein Langfinger seine Chance wittern und zugreifen. Solltest du allerdings doch einmal Lust verspüren, etwas an den Mann zu bringen, dann tu’ dir keinen Zwang an. Schau einfach zu, wie ich es mache. Aber das hat noch Zeit, noch ist die Straße ja fast leer. Es wird eine Weile dauern, bis richtig was los ist.”

Viola hatte recht, die Kaiserstraße war tatsächlich noch fast menschenleer. Doch kaum hatten die Kaufhäuser ihre Pforten geöffnet, änderte sich das Bild jäh. Die ersten Passanten blieben interessiert stehen, steckten sich die Ringe an die Finger, streiften die Armbänder ans Handgelenk und hielten sich vor dem kleinen Spiegel die Broschen an die Bluse. Nun verstand Kalle Violas Sorgen und ahnte, wie leicht jemand unbemerkt etwas verschwinden lassen konnte. Deshalb hielt er die Augen offen und achtete darauf, daß alles mit rechten Dingen zuging.

"Wenn du willst, sprich die Leute einfach an," riet ihm Viola, "sie beißen nicht. Aber sei niemals aufdringlich und versuche keine Tricks. Wenn sie nicht wollen, dann eben nicht. Du mußt immer so tun, als hätten wir's gar nicht nötig, etwas zu verkaufen. - Paß einfach auf, wie ich es mache.” Sie nahm eines der Kettchen mit einem silbernen Kreuz, lief hinter dem Verkaufstisch hervor mitten unter die Passanten und hielt es einem jungen Mann hin. "Schau her, wie gefällt dir das?" fragte sie ihn, und ihre blauen Augen blitzten. Kalle mußte lachen, auf dieselbe Art hatte sie es am Bahnhof auch bei ihm versucht. Doch anstatt mit den Schultern zu zucken und weiterzugehen, wie er es getan hatte, blieb der Junge verlegen stehen. "Hübsch," sagte er und erwiderte verwirrt ihren Blick.

"Woher willst du das wissen, du siehst es ja gar nicht an."

Er wurde rot und sah auf das Kreuz hinunter. "Auch hübsch," stotterte er.

"Wenn du willst, kannst du's haben. Es kostet nur zwanzig Mark."

Er schaute ihr wieder in die Augen. "Nur zwanzig Mark?"

Sie nickte. "Du kannst nicht behaupten, daß das zuviel ist."

"Nein. N-nein, wirklich nicht."

"Du könntest es deiner Freundin schenken."

"Ich hab keine."

"Dann trag's selbst, es würde dir gut stehen."

"Ja, vielleicht..."

"Würde toll aussehen auf deiner braunen Haut..." Für eine Sekunde ruhte ihr Blick auf seinem offenen Hemdkragen, und sie hob die Hand ein wenig, als wollte sie ihn berühren. Sie schien vergessen zu haben, daß Kalle ihr zusah, war gefesselt von ihrem eigenen Spiel. Sie kannte die Wirkung ihrer blauen Augen nur zu genau.

"Na, gut." Der Junge schluckte und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche. "Zwanzig Mark, sagst du?"

"Ja, nur zwanzig Mark"

Nervös suchte er das Geld zusammen und zählte es ihr in die Hand.

Viola ließ das Kettchen mit dem Kreuz in ein Tütchen gleiten und verschloß es sorgfältig. "Wenn du mal wieder was brauchst..., wir stehen jeden Tag hier," lächelte sie und sah ihm noch einmal in die Augen.

Kalle lachte, als der Junge gegangen war. “Das also ist deine Masche. Du hast ihn regelrecht verführt."

Sie wurde ärgerlich. “Red keinen Unsinn.” Sie zählte das Geld in die Kasse und klappte geräuschvoll den Deckel zu.

“Immerhin hast du das Ding verkauft, alle Achtung. Wenn du mir's noch mal zeigst, so anschaulich wie eben, dann lern ich's vielleicht auch.” Er lachte noch immer. “Los, mach’s noch mal!” drängte er belustigt. “Da kommt schon wieder so ein armer Kerl. Der mit dem dunkelblauen T-Shirt, der wäre doch genau der Richtige.”

“Idiot,” zischte sie wütend, und fortan hielt sie sich nur noch am anderen Ende des Tisches auf und beachtete ihn kaum mehr.

Je höher die Sonne stieg, desto mehr machte ihnen die Glut zu schaffen, die sich in der Häuserschlucht der Kaiserstraße staute. Kalle ließ sich müde auf den Klappstuhl sinken. Durch die Nachwirkungen des Vortages fühlte er sich zerschlagen, und sein Kopf brummte. Außerdem war er durstig, und er langweilte sich. Viola hatte über eine Stunde kein Wort mehr mit ihm geredet.

An Interessenten mangelte es nicht, die meisten Leute wußten genau, was sie wollten und wonach sie suchten. Doch wenn das Geschäft einmal ein wenig nachließ und Viola wieder versuchte, nach bewährter Methode den Passanten ihre Schmuckstücke anzubieten, hielt sie sich so weit von Kalle entfernt, daß er ihr nicht mehr zuhören konnte. Sie hatte erstaunlich viel Erfolg. So mancher Ring oder Armreif, so manches Kettchen wechselte den Besitzer, und immer wieder hörte man den Deckel der Kasse klappen.

Schließlich zupfte Kalle Viola an den langen blonden Haaren, die sie sich mit einem Gummiband im Nacken zusammengebunden hatte. “He, Viola!"

Sie sah sich nach ihm um. "Was ist denn!"

"Ich find's einfach Klasse."

"Was!"

"Wie du das machst. Du bist eine tolle Verkäuferin.” Er sagte das jetzt ohne jeden Spott. “Die Leute können dir einfach nicht widerstehen. Das muß dir erst mal einer nachmachen.”

Im ersten Augenblick wußte sie nicht, wie sie darauf reagieren sollte, dann entschied sie sich, zu lächeln. “Findest du?”

“Ja, wirklich. - Aber komm!” Er zwinkerte ihr zu. “Jetzt sei nicht mehr böse. Laß uns wieder Freunde sein, okay?”

Sie seufzte. “Na gut, in Ordnung. Aber mach’ dich nie wieder über mich lustig.”

Um die Mittagszeit ging Viola kurz ins Kaufhaus hinüber, um einige Besorgungen zu machen. Während dieser Zeit verkaufte Kalle einem kleinen Mädchen einen Schmetterlingsanstecker und einer älteren Frau ein Armband aus kleinen Silberschlaufen. Obwohl er versucht hatte, die Schmuckstücke nach Violas Vorbild anzupreisen, hatte er damit keinen Erfolg. Das kleine Mädchen hatte ganz gezielt und ohne sein Zutun den Schmetterling genommen, und die Frau hatte ihn angestarrt und wie in Trance nach dem Armband gegriffen. Der Blick aus ihren freundlichen dunklen Augen hatte ihn verwirrt, denn wäre sie ein paar Jahre älter gewesen, hätte er darauf wetten mögen, daß sie die Frau von der Haltestelle war, die er am Tag seiner Ankunft nach der richtigen Bahn gefragt hatte. Ihre Hände hatten ein wenig gezittert, als sie ihm das Geld gegeben und das Tütchen mit dem Armband entgegengenommen hatte. Er schien eine seltsame Wirkung auf ältere Damen zu haben, wunderte er sich.

Als Viola zurückkam und er ihr stolz erzählte, was er verkauft hatte, lobte sie ihn und meinte lachend: "Na prima! Nur schade, daß du schon einen Job hast." Und in ihren blauen Augen funkelten sie wieder, die tausend Spott-Teufelchen.

Kalle ertappte sich immer häufiger dabei, daß er Viola beobachtete und den ausgelegten Schmuck dabei ganz vergaß. Sie war nicht eigentlich hübsch, aber ihre braungebrannte Haut hob sich reizvoll von dem Flachsblond ihres Haares ab. Ihre Wangen und ihre Nase waren übersät mit winzig kleinen Sommersprossen, und wenn sie lachte, dann lachten auch ihre blauen Augen, und dann mußte man sie einfach mögen. Sie war ein hochgewachsenes kräftiges Mädchen, die weißen Jeans spannten über den Schenkeln, und unter dem ärmellosen ausgeschnittenen Shirt, das sie trug, zeichnete sich ein großer runder Busen ab. Kalle malte sich aus, wie es sein könnte, ihn zu berühren.

Am späten Nachmittag war aus der Ferne leises Donnergrollen zu hören, und dann zog innerhalb kurzer Zeit vom Westen her eine dunkle Wolkenwand auf, die hin und wieder von zuckenden Blitzen erhellt wurde. Viola begann eilig, die Schmuckstücke in den Koffer zurückzulegen. "Eigentlich bleiben wir sonst länger," meinte sie, "aber schau dir das an!" Besorgt blickte sie hinauf zu den grauen Wolken, die allmählich fast den ganzen Himmel bezogen. "Hoffentlich kommt Fredy rechtzeitig, um uns zu holen, damit wir nicht noch naß werden."

Bald war die Sonne ganz verschwunden, und Blitz und Donner kamen aus allen Richtungen. In der Kaiserstraße herrschte hektisches Hin und Her, jeder wollte sich noch schnell in Sicherheit bringen oder sein Ziel erreichen, bevor das Unwetter losging. Wenige Minuten später war es so dunkel, daß Autos und Straßenbahnen die Scheinwerfer einschalten mußten. Ein heftiger Wirbelwind fegte durch die Straße und ließ Papierfetzen in Sand- und Staubwolken tanzen. Ein paar Mädchen hielten kreischend ihre aufflatternden Röcke fest.

Kalle half Viola, die Zeltplanen vom Holzgestell zu entfernen und zusammenzulegen. Sie blähten sich auf wie Segel, und sie hatten Mühe, sie zu halten. Sie schraubten die Holzstangen auseinander und banden sie mit den Lederriemen zusammen, - immer gegen Staub und Wind anblinzelnd.

Als Fredys VW-Bus aus einer Nebenstraße in die Kaiserstraße einbog, fielen die ersten Tropfen. Sie waren groß wie Pfennigstücke und prallten ihnen wie hunderte kleiner Geschosse auf Kopf, Arme und Schultern. Fredy stieg aus, lief geduckt um den Bus herum und öffnete die seitliche Schiebetür. “Beeilt euch!" rief er durch den immer stärker prasselnden Regen und nahm ihnen Koffer, Kasse und die Holzteile ab, um sie im Innern des Autos zu vertauen. “Schnell! Macht, daß ihr einsteigt!"

Naß bis auf die Haut drängte sich Kalle schließlich als Letzter in den Wagen und schloß die Tür hinter sich. Viola prustete und versuchte, sich die Arme an ihren Jeans trockenzureiben. Sie schaute Kalle an und lachte. "Mein Gott, wie du aussiehst."

Kalle wischte sich den Regen aus Stirn und Augen und lachte zurück. "Und du erst."

Sein Blick streifte die nassen Haarsträhnen auf ihren Schultern und blieb dann auf ihrem Busen hängen, der unter dem nassen, nun fast durchsichtigen Shirt so deutlich zu sehen war, als wäre er unbedeckt. Er atmete tief und schaute schnell aus dem Fenster.

Die Kaiserstraße war wie leergefegt, nur in den Eingängen der Läden und unter den Arkaden stauten sich die Passanten, um dort das Ende des Unwetters abzuwarten. Ein paar Schirme tanzten als farbige Flecken über ihren Köpfen.

Fredy fuhr los. Obwohl er die Scheibenwischer auf höchster Stufe laufen ließ, schafften sie es nie ganz, die Scheiben von den Wassermassen zu befreien, die wie aus Kübeln vom Himmel herabstürzten. Es blitzte und donnerte fast gleichzeitig, die Donnerschläge übertönten das laute Geprassel auf dem Wagendach.

"Wo soll ich euch absetzen?" fragte Fredy, ohne den Blick von der Straße zu wenden.

Viola sah Kalle von der Seite an. "Was ist, kommst du noch auf einen Kaffee mit zu mir?" fragte sie.

Kalle hatte nicht mit einer Einladung gerechnet. Schon gar nicht, nachdem er bemerkt hatte, daß ihr sein Blick auf ihren Busen nicht entgangen war. "Wenn es dir nichts ausmacht."

"Wenn es mir was ausmachen würde, hätte ich dich wohl kaum gefragt, oder?"

Er schaute sie an und lächelte. "Okay."

Fredy hielt in der Nähe des Gottesauer Tores vor einer Wohnanlage, die aus mehreren turmähnlichen Gebilden bestand; jeder Turm setzte sich aus terrassenförmig ineinandergeschachtelten Wohnungen zusammen. Dazwischen rankte viel Grünes, und die roten und lila Blüten von Geranien und Petunien auf den Balkonen brachten ein wenig Farbe in die graue Landschaft aus Beton.

"Die Abrechnung machen wir später," sagte Fredy, "ich muß mich zuerst um Barbara kümmern."

Da die Ladenfront am Fuße des Wohnturms bis zur Straße hin überdacht war, erreichten Viola und Kalle das Treppenhaus, ohne noch einmal in den Regen hinaus zu müssen. Er folgte ihr durch nackte häßliche Gänge, graue Betontreppen hinauf, und obwohl die Wohnungstüren auf jeder Etage in einer anderen leuchtenden Farbe gestrichen waren, wirkte das Treppenhaus düster und schmutzig, kühl und klamm, und es zog so heftig, daß sie in ihren durchnäßten Kleidern vor Kälte schauderten.

Kalle war nie zuvor in einer solchen Wohnanlage gewesen. "Gemütlich wie in einer Tiefgarage,” stellte er sarkastisch fest und rieb sich frierend die Arme.

Unbeirrt lief Viola weiter. "Wart's nur ab. Schließlich wohnen wir nicht im Treppenhaus."

Im Gang der roten Türen blieb Viola vor einer von ihnen stehen und zog ihren Schlüsselbund aus der Hosentasche. An der Wand neben der Tür waren drei Namensschildchen angebracht, die Kalle interessiert studierte.

“Daniela Baumann, Viola Rüdinger, und Petra Klein,” las er. Er stutzte. "Du wohnst nicht allein hier?"

"Nein," kam ihre Antwort, während sie aufschloß.

"Was werden die anderen Mädchen sagen, wenn ich hier einfach so hereinschneie...?"

"Erstens geht es niemanden etwas an, wen ich mitbringe, zweitens sind die beiden sowieso nicht zu Hause, und drittens, warum sollte jemand Anstoß daran nehmen, wenn du bei mir noch schnell einen Kaffee trinkst?" Sie schob ihn in den Flur. "Nun geh schon!"

Kalle sah sich um. Durch eine offenstehende Tür fiel sein Blick in das Wohnzimmer, und er staunte, wie hübsch es eingerichtet war. Es wirkte gemütlich und erinnerte ihn ein bißchen an zu Hause. Auf einer alten Couch aus den 50er Jahren, zwischen Kissen in selbstgehäkelten Bezügen, saß eine Porzellanpuppe mit echtem Haar und Schlafaugen. In einer der Zimmerecken hing eine Blumenampel aus Makramee, in einer anderen ein Mobile aus bunten strohgeflochtenen Fischen. Und überall gab es Grünpflanzen und Bilder an den Wänden. All die verspielten kleinen Extras wiesen darauf hin, daß hier weibliche Hände am Werk gewesen sein mußten. Er lächelte. Er hatte drei Schwestern, deshalb kannte er sich in diesen Dingen aus.

"Schön habt ihr's," stellte er bewundernd fest.

"Ja, wir fühlen uns auch sehr wohl hier.”

Viola öffnete eine Tür, die in eine kleine Küche führte. “Ich kümmere mich schnell um den Kaffee. Aber setz dich noch nirgendwo hin, du machst sonst alles naß."

Kalle lehnte sich an den Türpfosten und schaute ihr zu, wie sie zwei Tassen aus dem Schrank nahm und auf einem kleinen Tablett absetzte. “Mit Milch und Zucker?” fragte sie.

"Ja."

Aus einer Schublade nahm sie Teelöffel, aus dem Kühlschrank eine Dose Milch, und dann suchte sie nach dem Zucker, den sie nirgendwo finden konnte. "Verdammt!" schimpfte sie, "wenn doch dieses Mädchen nicht so schrecklich unordentlich wäre."

"Diese Wohnung muß doch ziemlich teuer sein,” mutmaßte Kalle, “teilt ihr euch die Miete?"

"Sie gehört Dany. Petra und ich geben ihr nur etwas dazu. Soviel wir eben können."

"Was hat Dany für einen Job, daß sie sich das leisten kann?"

Viola lachte trocken. "Gar keinen, sie studiert. Sie hat nur reiche Eltern, das ist alles."

Viola hatte den Zucker gefunden, stellte ihn neben die Tassen und drückte Kalle das Tablett in die Hand. "Trag das schon mal ins Wohnzimmer," sagte sie, “ich setze solange den Kaffee auf. Und dann sollten wir uns schnell mit trockener Kleidung versorgen, bis der Kaffee soweit ist. Mir ist richtig kalt in den nassen Sachen."

Kalle sah die Gänsehaut auf ihren nackten Armen und nickte, auch ihm war kalt.

Als er zurückkam, war Viola in einem der Zimmer am Ende des Korridors verschwunden. “Komm rein!" rief sie ihm zu, und als er die nur angelehnte Tür vollends öffnete, warf sie ihm ein Handtuch entgegen. "Da! Trockne dich ab. Du siehst immer noch aus, als wärst du in einen Bach gefallen."

Kalle rubbelte sich das nasse Haar. "Hast du vielleicht auch irgendwo einen Kamm?"

"Im Bad. Vorn links, letzte Tür."

Vor dem großen Spiegel im Badezimmer frottierte er sich noch einmal gründlich die Haare und kämmte sich. Dabei fiel sein Blick auf die Badewanne. Sehnsüchtig schaute er sich nach ihr um, und plötzlich hatte er eine Idee... Er lief in den Flur zurück. “Viola...?"

Sie zog gerade das nasse Shirt über den Kopf, als er zurückkam. Er stutzte und sah ihr verblüfft zu.

"Ja?" Sie bemerkte seinen Blick. "Was starrst du mich so an! Zieh dir lieber auch die nassen Klamotten aus. Wir werden schon was Passendes für dich finden."

Es fiel ihm schwer, seinen Blick von ihrem nackten Busen zu wenden, der jede ihrer Bewegungen mitmachte.

"Nun mach schon, zieh deine Hosen aus. Anderenfalls darfst du dich nirgendwo hinsetzen," drohte sie.

Inzwischen hatte er sich wieder gefangen. "Viola, ich würde gern... Hättest du was dagegen, wenn ich... bade?"

Sie zog sich ein frisches T-Shirt über den Kopf. “Was willst du?” fragte sie verwundert. “Baden?”

"Weißt du, ich habe schon ewig kein richtiges Badezimmer mehr gesehen,” versuchte er, ihr seinen Wunsch zu erklären. “Und die Dusche in der Firma ist auch nicht das Wahre. Ein Bad wäre für mich jetzt wirklich das Größte.”

Sie hob die Schultern. "Ja, gut. Von mir aus kannst du auch baden, wenn es dich glücklich macht. Beeil dich halt, der Kaffee ist bald fertig.”

Während er das Badewasser einließ, pfiff er vor sich hin. Neugierig öffnete er die Fläschchen und Dosen, die auf den Regalen und Ablagen standen. Aus einem Flakon mit Schaumbad roch es nach Flieder, das war der schönste Duft, der ihm seit Wochen unter die Nase gekommen war. Zufrieden ließ er einen kräftigen Schuß von der lila Flüssigkeit in die Wanne rinnen. Das duftende heiße Wasser war herrlich, es prickelte auf der Haut und wärmte ihn bis auf die Knochen. Er rutschte bis zum Hals hinein, ließ die Füße über den Wannenrand hinausragen, schloß die Augen und fühlte sich wohl. Das erste Mal seit Wochen fühlte er sich wunderbar. Mann, dachte er seufzend, hier könnte man's aushalten.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er in der Wanne zugebracht hatte. Als er herausstieg, fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, Viola nach einem Badelaken zu fragen, und zum Anziehen hatte er auch nichts mitgenommen. Er trocknete sich mit einem der Handtücher ab, die über der Trockenstange hingen, wickelte es sich wie einen Lendenschurz um die Hüften und tappte barfuß über den Flur bis zu Violas Zimmer. "Viola?"

Sie antwortete nicht. Ihre Tür war nur angelehnt, und als er sie ein wenig weiter aufdrückte und bemerkte, daß sie nicht nicht da war, trat er ein und schaute sich neugierig um. Das Zimmer war klein und dunkel, vom Fenster her fiel nur wenig Licht herein. Das Stückchen Himmel, das über den Betonmauern der Nachbarwohnungen zu sehen war, war grau und wolkenverhangen. Das Gewitter war zwar vorüber, aber es regnete noch immer, und irgendwo tropfte der Regen in monotonem Rhytmus auf einen blechernen Gegenstand.

Neben dem Fenster stand ein kleiner runder Tisch mit zwei Sesseln, auf der anderen Seite ein Bett mit gemustertem Bezug. Darüber waren Plakate von Jane Fonda-Filmen mit Reißnägeln an der Wand befestigt. An der Schmalseite des Zimmer, dem Fenster gegenüber, nahm ein großer Schrank fast die ganze Breite der Wand ein. In einigen der Fächer standen Bücher, in einem anderen zerbrechliche Gebilde aus Glas. Daneben, in einem silbernen Rahmen, das Foto einer hübschen dunkelhaarigen jungen Frau.

Als er hinter sich ein Geräusch hörte, wandte er sich irritiert um. Da hatte sich etwas bewegt, er konnte jedoch nicht ausmachen, was es gewesen war. Dann fiel sein Blick auf das Bett, und er sah Viola, wie sie langsam die Bettdecke, die sie sich vor seinem Eintreten über den Kopf gezogen hatte, wieder zurückschob. Trotz des Dämmerlichtes war das Blau ihrer Augen leuchtender, als je zuvor. "Komm," sagte sie leise, “mir ist kalt. Du mußt mich wärmen."

Eine Sekunde lang stand er nur stumm da und schaute sie an, doch sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Okay, sagte er sich, warum nicht? Schließlich war es genau das, was ihm jetzt noch fehlte. Er schloß die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel herum.

"Rutsch ein Stück," sagte er, ließ das Handtuch von seinen Hüften auf den Boden gleiten und stieg zu ihr unter die Decke. Seine Hand tastete als erstes nach ihrem Busen, der ihn von Anfang an fasziniert hatte, und er fühlte, wie sich unter seiner Berührung die Brustwarzen aufrichteten und sich die prallen vollen Rundungen mit einer Gänsehaut überzogen.

"Puh, der Kaffee schmeckt stark und bitter,” sagte Viola später, als Kalle in einer ihrer Jeans und in einem gestreiften T-Shirt hereinkam. "Aber du mußt trotzdem eine Tasse trinken, zum Wegschütten ist er einfach zu schade. Vielleicht kann man ihn mit heißem Wasser ein bißchen verdünnen."

"Stellen wir uns einfach vor, es wäre Espresso," schlug Kalle vor und hielt ihr seine Tasse hin. “Oder arabischer Mokka.”

Sie schenkte ihm ein. Dabei fiel ihr Blick auf die viel zu großen Jeans, die er trug, und sie mußte lachen. "Wenn wir dich eine Weile rausfüttern würden, könnten sie dir eines Tages vielleicht passen,” meinte sie. Dann betrachtete sie ihn nachdenklich und fügte hinzu: "Was hälst du eingentlich von der Idee?”

Er verstand nicht, was sie meinte. “Von welcher Idee?”

Sie sah ihn aus schmalen Augenschlitzen an. “Du suchst doch eine neue Unterkunft. Eigentlich könntest du auch bei uns wohnen.”

"Sag das noch mal!"

"Ja, du könntest bei uns einziehen, - warum eigentlich nicht?" Sie rührte in ihrer Kaffeetasse. "Wir haben noch ein Zimmer übrig. Das ist zwar nur klein, und es steht auch nicht viel drin, außer einem alten Sofa, unserem Bügelbrett und ein paar Sachen, die wir nicht sehr häufig brauchen. Aber besser als bei Josch und Biene wäre es allemal."

"Das kannst du doch nicht einfach über die Köpfe deiner Mitbewohnerinnen entscheiden, oder?”

Sie hob die Schultern. "Ich glaube nicht, daß sie etwas dagegen hätten.”

“Sie kennen mich doch gar nicht.”

“Das Risiko ist auf beiden Seiten, - du kennst sie doch auch nicht.”

Kalle überlegte. "Ist vielleicht ein Haken dabei?" fragte er mißtrauisch.

Ihre blauen Augen blitzten spöttisch. "Vielleicht! Aber den mußt du selbst herausfinden."

"Dann lassen wir's doch lieber."

"Sei kein Frosch! Oder macht es dir etwa Spaß, bei Josch und Biene in dieser kleinen stinkenden Kammer zu hausen? Du brauchst mir nichts vorzumachen, ich weiß bescheid. Ich kenne ihre Wohnung und weiß, wie es bei ihnen aussieht."

"Aber du bietest mir dieses Zimmer doch nicht aus lauter Menschenfreundlichkeit an, ohne eine bestimmte Absicht, oder?"

Sie lächelte und schwieg.

"Warum, Viola?" bohrte er weiter.

"Warum nicht? Das Zimmer ist frei, und du bist ein netter Kerl. Uns fehlt schon lange ein Mann im Haus. Zu unserem persönlichen Schutz zum Beispiel." Sie lachte. "Oder wenn das Fenster klemmt, der Wasserhahn tropft oder das Klo verstopft ist."

"Das sind ja schöne Aussichten."

"Dafür könntest du jeden Tag ein Bad nehmen."

Kalle schwieg und dachte nach.

"Du darfst allerdings nicht glauben, daß wir dich wie einen Pascha behandeln würden. Gleiche Pflichten für alle!"

"Dann bleib ich doch lieber bei Josch und Biene, dort kriege ich wenigstens meine Wäsche gewaschen," konterte er.

"Wir haben eine Waschmaschine, die so einfach zu bedienen ist, daß selbst du es lernen könntest, damit umzugehen."

Ihre Blicke trafen sich. Er wünschte, er hätte in dem Blau ihrer Augen lesen können, was in ihr vorging, aber es war, als starre er gegen eine undurchdringliche Wand.

"Ja oder Nein?" fragte sie schließlich.

"Muß ich mich gleich entscheiden?"

"Ja."

"Noch bevor ich die anderen Mädchen kennenlerne?"

"Ja. Denn wenn du Nein sagst, erübrigt es sich, daß ich mit ihnen rede."

Kalle war nicht wohl in seiner Haut. Es war einfach zu schön, um mit rechten Dingen zuzugehen. Was hatte Viola mit ihm vor? Sie kannte ihn doch gar nicht. Suchte sie auf Biegen und Brechen einen Freund, an den sie sich klammern konnte, und den sie dann nie wieder losließ? Das wäre nicht gerade das, was er sich erträumte. Oder lag sie im Clinch mit den anderen Mädchen und wollte sie ärgern oder eifersüchtig machen? - Andererseits, was hatte er zu verlieren? Er konnte jederzeit wieder gehen, wenn es ihm nicht gefiel. Notfalls zurück zu Josch und Biene, sie würden ihn ganz sicher wieder aufnehmen, bevor sie ihn auf der Straße schlafen ließen.

"Also gut, ich nehme dein Angebot an," sagte er schließlich und streckte ihr die Hand hin. Sie schlug ein. “In Ordnung,” sagte sie und stand auf. “Komm mit, und schau’ dir das Zimmer an.”

Als Fredy kam, um abzurechnen und Kalle in Violas Jeans im Wohnzimmer sitzen sah, lachte er, und Kalle hatte das unangenehme Gefühl, daß er genau wußte, was passiert war.

“Kalle wird bei uns einziehen,” sagte Viola ohne mit der Wimper zu zucken, “es wäre nett, wenn du ihn in die Schwanenstraße fahren könntest, damit er seine Sachen holen kann.”

“Halt!” warf Kalle ein. “Du solltest deine Freundinnen vorher fragen. Vielleicht sind sie gar nicht mit mir einverstanden.”

“Ich kenne sie gut genug. Sie werden meine Entscheidung akzeptieren, da bin ich mir ganz sicher.”

Kalle hatte befürchtet, Josch und Biene könnten ihn für undankbar halten, wenn er sie mit seinem Auszug so überrumpelte. Andererseits hielt er es aber auch für möglich, daß sie froh waren, endlich wieder allein und unter sich zu sein. Als er ihnen sein Vorhaben mitteilte, äußerten sie sich allerdings weder positiv noch negativ.

Kalle drückte Biene den Umschlag mit der Tagesprämie in die Hand, die ihm Fredy zugeteilt hatte. “Das ist für dich, Biene,” sagte er und zwinkerte ihr zu. Er hatte ihr zusätzlich noch etwas Geld fürs Wäschewaschen dazugesteckt. “Ich muß mich bei dir bedanken, weil du mich so lange mit versorgt hast.”

Sie lächelte. “Von mir aus hättest du ruhig noch länger bleiben können, Kalle, das weißt du. Und falls es dir bei den Mädchen nicht gefällt...”

Josch warf ihr einen schnellen Blick zu. “Halt den Mund!” sagte er streng, und an Kalle gewandt: “Darfst das nicht falsch verstehen, kannst jederzeit wieder zurückkommen. Sie meint nur, falls es irgendwie Schwierigkeiten geben sollte...”

“Schwierigkeiten? Denkt ihr, wir könnten uns vielleicht nicht vertragen? Ich werde ihnen ganz sicher keinen Grund liefern, sich mit mir zu streiten.”

“Nein, nein, hast ja recht! Wirst schon wissen, was zu tun ist,” antwortete Josch und klopfte ihm auf die Schulter.

Zum Abschied schüttelte Kalle Josch noch einmal die Hand und nahm Biene in den Arm. Sie fühlte sich federleicht und zerbrechlich an. “Danke für eure Hilfe. Das werde ich euch nie vergessen.”

“War doch Ehrensache! Sind doch Freunde!”

Es dauerte eine Weile, bis Kalle die entsprechende rote Tür in dem Gewirr von Gängen im Wohnturm wiedergefunden hatte. Einen Moment lang blieb er davor stehen und überlegte, ob seine Entscheidung wirklich richtig gewesen war. Nicht nur das, was Biene gesagt hatte, sondern auch Fredys Bemerkung, als er sein Gepäck auf der Straße abgesetzt hatte, gab ihm zu denken. “Ich hoffe, du hast dich nicht in Viola verknallt,” hatte er gesagt.

“Was wäre, wenn?”

“Versprich dir nicht zuviel davon.”

“Das heißt?”

Fredy hatte nur gelacht und ihm keine Antwort mehr gegeben.

“Ich bin einfach nur froh, endlich ein anständiges sauberes Zimmer zu haben, verstehst du?” hatte er ihm seine Entscheidung zu erklären versucht. Fredy hatte genickt. “Klar verstehe ich das. Trotzdem gebe ich dir einen guten Rat: Halte dich möglichst aus allem raus.”

“Könntest du vielleicht ein bißchen deutlicher werden?”

“Ich meine, selbst wenn du dich bei den Mädchen wie der Hahn im Korb fühlen solltest, laß dich nicht davon täuschen. Kümmere dich nicht um sie, um keine von ihnen. Geh deiner Wege, damit fährst du am besten!” Dann war er in sein Auto gestiegen, hatte noch einmal die Hand gehoben und war losgefahren, und Kalle ärgerte sich über das dumme Gefühl, das sich in seiner Magengegend festgesetzt hatte. Sicher, Violas Angebot war im Grunde viel zu schnell gekommen, das hatte er sich auch selbst schon gesagt, doch was sollte schon los sein mit den Mädchen? Selbst wenn sie bösartig oder zickig wären, wenn sie versuchen würden, ihn auszunutzen oder gar zu bestehlen, - für ein anständiges Zimmer war er bereit, einiges in Kauf zu nehmen. Notfalls würde er sich auch zu wehren wissen. Er wollte es wenigstens mit ihnen versuchen.

Nachdem er an der roten Tür geläutet hatte, öffnete ihm ein Mädchen mit Brille. "Ja, bitte?" fragte sie, krauste die Nase und beugte sich ein wenig vor, um besser sehen zu können. “Herrje!” Sie tippte sich mit dem Finger an die Stirn. "Schon kapiert, du bist der Kalle, stimmt's?"

"Ja, der bin ich."

"Komm rein! Ich bin die Petra. Viola hat uns schon von dir erzählt."

Sie zog ihn am Ärmel in den Korridor und schloß die Tür hinter ihm. "Laß dich mal genauer anschauen." Sie nahm die Brille ab, kniff die Augen zusammen und beugte sich noch weiter vor. "Tatsächlich, sie hat recht gehabt, du siehst wirklich gut aus!”

Er stellte sein Gepäck im Flur ab und blieb unschlüssig stehen, da Petra ihn noch immer begutachtete.

“Erzähl’ mal, was machst du denn so?” wollte sie wissen. “Ich meine beruflich, - hast du einen interessanten Job? Oder bist du auch Student?”

Noch ehe er antworten konnte, hörte er jemanden hinter sich sagen: "Heb dir deine Fragen für später auf, laß ihn doch erst mal reinkommen. Er wird uns ja wohl nicht gleich wieder weglaufen."

In der Tür zum Wohnzimmer lehnte eine junge Frau mit schulterlangem dunklem Haar. Groß und schlank und sehr hübsch, und eleganter gekleidet, als man es von einer Studentin erwartet hätte. Kalle glaubte, in ihr die junge Frau zu erkennen, deren Bild er in Violas Zimmer gesehen hatte.

"Hast ja recht," meinte die Kleine. “Komm mit, Kalle, ich zeig dir gleich mal dein Zimmer.”

Als sie die Gitarre entdeckte, schlug sie vor Begeisterung die Hände zusammen. "Oh, mein Gott, du spielst Gitarre? Das ist ja fantastisch, das gefällt mir," plapperte sie munter drauflos. "Ich wünschte, ich könnte es auch. Vielleicht kannst du mir eines Tages Unterricht geben.”

Die Dunkelhaarige schob sie behutsam zur Seite und ging einen Schritt auf Kalle zu. Sie trug ein makelloses Make-up, und der Duft ihres Parfums war dezent und aufregend zugleich. Ihre Armreifen klirrten leise, als sie ihm lächelnd ihre Hand reichte. "Ich bin Daniela," sagte sie, "ich freue mich, daß du bei uns wohnen wirst. So, wie dich Viola beschrieben hat, werden wir sicher gut miteinander auskommen."

"Das denke ich auch," sagte Kalle. Er ließ sich in den Raum führen, der in Zukunft sein Domizil sein sollte und stellte Taschen und Gitarre neben dem alten Sofa ab. Für den Moment fühlte er sich erleichtert, denn ihm war nichts Ungewöhnliches an den Mädchen aufgefallen. Im Gegenteil, er fand sie sogar ausgesprochen nett. Jede auf ihre Art.

Im Wohnzimmer wartete Viola bereits auf ihn. "Hallo, Partner," begrüßte sie ihn mit ihren blitzenden blauen Augen. "Setz dich doch! Ich denke, es gibt noch jede Menge zu besprechen.”

Inzwischen war es November geworden. Es nieselte den ganzen Tag, und durch die Straßen fegte ein kalter Wind, der buntes Laub vor sich hertrieb. Es wurde früh dunkel, und die Abende waren ungemütlich und kühl.

Der Vertrag mit der Fischer KG. war zum 31.Oktober abgelaufen, und Kalle bemühte sich seither, mit dem gesparten Geld so gut wie möglich zu haushalten, bis er eine neue Arbeit gefunden hatte. Für den bevorstehenden Winter brauchte er wärmere Kleidung, deshalb drehte er die Mark zweimal um, bevor er sie ausgab.

Seit er bei den Mädchen im Wohnturm wohnte, ging es ihm zwar besser, als bei Josch und Biene, das bedeutete aber auch, daß jeden Monat ein fester Betrag für die Miete draufging. Obwohl ihm Dany angeboten hatte, darauf zu verzichten, falls er einmal knapp bei Kasse sein sollte, hatte er von Anfang an darauf bestanden, sich an allen Kosten zu beteiligen. Sein Stolz ließ es nicht zu, sich von einem Mädchen etwas schenken oder bezahlen zu lassen, lieber würde er auf all die Annehmlichkeiten verzichten, die ihm im Wohnturm zugute kamen, und sich wieder in der Schwanenstraße einquartieren.

Sein Zimmer im Wohnturm war nicht gerade üppig ausgestattet. Das alte Sofa diente ihm als Nachtlager, und Fredy hatte ihm von Freunden einen alten Schrank besorgt, in dem er die wenigen Sachen, die er besaß, unterbringen konnte. Er legte keinen besonderen Wert auf eine aufwendige Einrichtung, für ihn war dieser Raum lediglich ein Platz zum Schlafen, und nur eines zählte: Er hatte es warm, alles war sauber und ordentlich, und sein Leben verlief fast wieder so normal, wie zu Hause in Bretzingen. Allerdings freute es ihn, als Petra die leeren Wände mit bunten Kalenderblättern dekorierte und sogar einige Stücke ihrer Postkartensammlung opferte, - ein Beweis dafür, wie hoch er bei ihr im Kurs stand.

Zu Anfang war er noch der Meinung gewesen, Viola hätte sich am Schmuckstand spontan in ihn verliebt und sei an einer Beziehung mit ihm interessiert. Nachdem er gründlich darüber nachgedacht hatte, sagte er sich, daß es wahrhaftig Schlimmeres geben mochte. Sie war ein hübsches Mädchen, nett und gescheit, es mußte ja nicht für ewig sein. Als er jedoch mit ihr allein war und sie küssen wollte, wand sie sich geschickt aus seinen Armen, legte ihm lächelnd den Finger auf den Mund und sagte: “Gestern war gestern, und heute ist heut.”

Nicht, daß es ihm etwas ausgemacht hätte, von ihr zurückgewiesen zu werden, er war nur ziemlich überrascht. Vor allem aber fühlte er sich verunsichert nach diesem Zwischenfall, weil er nicht wußte, wie er sich künftig ihr gegenüber verhalten sollte. Zunächst hielt er sich abwartend zurück, da aber auch sie weiterhin auf Distanz blieb, akzeptierte er ihre Entscheidung mit einem Achselzucken. Trotzdem fragte er sich manchmal, was sie wohl dazu bewogen haben mochte, mit ihm zu schlafen, wenn er ihr doch so vollkommen gleichgültig zu sein schien. War es ein Ausrutscher gewesen, den sie inzwischen bereute? War sie einfach nur einer Laune gefolgt? Oder gab es irgendwo einen anderen Jungen, den sie ihm vorzog? Und warum waren Dany und Petra mit Violas einseitiger Entscheidung sofort einverstanden gewesen, ohne ihn überhaupt zu kennen? Er erinnerte sich an Fredys Worte und versuchte, weder Viola noch den beiden anderen Mädchen Anlaß zu der Vermutung zu geben, er hätte es auf eine von ihnen abgesehen. Dadurch ergab es sich wie von selbst, daß er nur sehr wenig seiner Freizeit im Wohnturm verbrachte.

Es war Zufall, daß er eines Tages dann doch hinter Violas Geheimnis kam. Ihm war aufgefallen, daß sie mit Dany Blicke und kleine Zärtlichkeiten tauschte, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Kleine liebevolle Gesten, die über das übliche Verhältnis zweier Freundinnen hinausgingen. Aha, dachte er, das also war der Grund für ihre Zurückhaltung, und deshalb hatte ihn Fredy gewarnt. Na gut, er war kein Moral-Apostel, und er wäre der Letzte gewesen, den das in irgendeiner Weise gestört hätte. Doch wenn sie es schon zu verheimlichen suchten, warum hatten sie ihm dann überhaupt angeboten, bei ihnen zu wohnen, anstatt allein und unentdeckt zu bleiben?

Im Gegensatz zu Dany und Viola, die viel ausgingen und sich oft mit ihren Freunden trafen, verbrachte Petra ihre Abende meistens allein zu Hause vor dem Fernseher. Sie war süchtig nach Seifen-Opern und Serien und verpaßte kaum eine Folge. Sie liebte und litt mit ihren Helden, fluchte und schimpfte, wenn ihnen etwas Böses widerfuhr und schluchzte vor Glück oder Leid, je nachdem, was ihnen gerade zugestoßen war.

Kalle mochte das kleine Mädchen mit der Brille und den blonden kurzen Locken, sie war ein netter unkomplizierter Kerl. Ein kleiner Wirbelwind, immer freundlich, immer gut gelaunt. Ein bißchen einfältig und naiv vielleicht, denn sie zeigte ihm ganz unverhohlen, daß sie Gefallen an ihm gefunden hatte, und daß sie ihre Freundschaft gern ein wenig vertieft hätte. Immer wieder inszenierte sie neue Versuche, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Einmal war sie sogar nachts in sein Zimmer gekommen, angeblich aus Angst vor einem Gewitter, und er hatte sie, wie ein ungezogenes Kind, wieder zurück in ihr Bett geschickt.

Trotz ihrer Eskapaden war es ihm unmöglich, ihr böse zu sein. Für ihn war und blieb sie ein liebenswerter kleiner Kindskopf, und es wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, etwas anderes in ihr zu sehen.

Auch in der Stadt hatte Kalle inzwischen Fuß gefaßt. Seine Abende verbrachte er entweder im Alligator am Leopoldsplatz, oder im Kentucky, zwei Häuserblocks weiter. Manche der jungen Leute, mit denen er zusammenkam, mochte er, weil er mit ihnen über alles mögliche reden konnte, von anderen wußte er nicht einmal den Namen. Sie ihrerseits schätzten ihn, weil er bei verschiedenen kleinen Streitigkeiten Partei für sie ergriffen hatte, und als er sich eines Tages sogar mit seinen Fäusten für ihre Sache eingesetzt hatte, wurde er fast so etwas wie ein Held für sie. Ihn deshalb einen Schläger zu nennen wäre falsch gewesen. Er sah sich nur gern in der Rolle des Beschützers, der den Hilflosen und Schwachen zu ihrem Recht verhalf und für sie kämpfte. Notfalls eben auch mit den Fäusten. Das sprach sich schnell herum, und wann immer er irgendwo auftauchte, fand sich bald der eine oder andere derer an seiner Seite, die sich seine Freunde nannten.

Als Kalle an diesem Novemberabend in den Alligator kam, war nicht sehr viel los, und er beschloß, ausnahmsweise früh wieder nach Hause zu gehen. Er schlürfte den Schaum vom Bier und beobachtete die übrigen Gäste, von denen er so gut wie jeden kannte, weil es fast immer dieselben waren, die sich hier trafen. Nur in der Ecke am Fenster saß diesmal einer, den er bisher noch nie gesehen hatte.

“Wer ist denn der dort drüben?” fragte er den Jungen neben sich. “Der mit den langen Haaren und dem Bart? Kennst du ihn?”

Der Junge folgte seinem Blick. “Ach der!” Er machte eine abfällige Handbewegung. “Das ist Carlo, der Spinner. Den kennt doch jeder.”

“Wieso hab ich ihn dann noch nie hier gesehen?”

“Weil er noch nicht sehr lange aus Berlin zurück ist. Er verbringt jedes Jahr den Sommer dort.”

“Und warum nennst du ihn einen Spinner? Danach sieht er eigentlich gar nicht aus.”

“Er ist auch nicht wirklich verrückt, wenn du das meinst. Er ist einfach nur ein Sonderling, hat ein paar recht verrückte Ansichten.”

“Ansichten? Worüber?”

Der Junge zuckte die Schultern. “Über Gott und die Welt eben. Er predigt: Seid nett zueinander, schlagt euch nicht, belügt und betrügt euch nicht... Du weißt schon, was ich meine.”

“Theologie-Student?”

“Carlo doch nicht.” Der Junge lachte. “Der hat vielleicht gerade mal mit Ach und Krach die Schule geschafft.”

Kalle beobachtete den Fremden. Er mochte Ende zwanzig sein, oder auch Anfang dreißig. Die olivfarbene Armeekleidung, die er trug, war zwar abgetragen, aber sauber und ordentlich, die schweren Militärstiefel blank geputzt. Sein braunes Haar, das ihm in Locken bis auf die Schultern fiel, war weder verfilzt noch strähnig. In kleinen Schlucken trank er sein Glas leer und wischte sich mit dem Handrücken über den Bart. Seine Hand war ungewöhnlich schmal und feingliedrig, sie wirkte fast wie die einer Frau und paßte nicht recht zu seinem übrigen Äußeren.

“Hallo, Kalle.” Ein Mädchen war hereingekommen, setzte sich neben ihn an die Theke und unterbrach ihn in seinen Beobachtungen. “Hast du ‘ne Zigarette für mich?”

Er schüttelte den Kopf. “Du weißt doch, daß ich nicht rauche, Nicky.”

“Dann spendiere mir wenigstens einen Schnaps. Es ist so schrecklich kalt draußen heute.”

“Tut mir leid, ich bin total blank,” schwindelte er, “aber sobald ich wieder Arbeit habe und Geld verdiene, kriegst du einen doppelten.”

Sie zog ein Gesicht und rutschte enttäuscht wieder vom Hocker herunter. “Ich nehm’ dich beim Wort.”

Sie hatte bereits einen anderen ins Auge gefaßt, bei dem sie ihr Glück versuchen wollte, wandte sich aber noch einmal nach Kalle um. “Übrigens, da draußen läuft eine Schlägerei.”

“Wer ist es denn?”

Sie hob die Schultern. “Weiß nicht genau, ich habe nur den Andy erkannt.”

Kalle stand auf, zögerte dann aber und setzte sich wieder. Augenblicke später wurde die Tür aufgerissen und Andy Kramer schaute herein. “He, Kalle!” Er winkte ihn mit einer Kopfbewegung hinaus.

“Was ist los?” Ohne eine Antwort abzuwarten stand Kalle nun doch auf und folgte ihm auf die Straße.

Es war ein dunkler, sternenloser Abend. Vom spärlich erleuchteten Schaufenster eines kleinen Buchladens auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel gedämpftes Licht auf den Gehweg, und die Neon-Reklame des Alligators über der Eingangstür blinkte im Sekundentakt und warf rote und grüne Lichtflecken auf das nasse Pflaster. Zwischen Schmutz und Blättern lag ein Junge am Boden. Stirn und Wangen waren mit Blut verschmiert, und in seinem Jackenärmel klaffte ein aufgerissenes Dreieck. Davor, breitbeinig und mit zornesrotem Gesicht, stand ein Mann in schwarzem Lederanzug. Kalle erfaßte die Situation mit einem einzigen Blick, denn er hatte das rot-weiße Emblem auf dem Rücken der Lederjacke erkannt: Big Jack’s Warriors.

“Verdammter Bastard,” keuchte der Mann im Lederanzug und trat noch einmal mit dem Fuß auf den Jungen am Boden ein.

Kalle berührte seinen Arm. “Es reicht.”

Der andere fuhr herum. “Was geht das dich an!”

“Du siehst doch, daß er fertig ist.”

“Aber noch nicht fertig genug.”

“Was war denn überhaupt los?”

“Ist wohl meine Sache, oder?” sagte der Schläger schweratmend. “Und wenn ich ihn totschlage, dann ist das immer noch meine Sache.”

Kalle kniff die Augen zusammen. “Das glaub ich kaum.”

“Halt die Schnauze, sonst bist du der nächste.”

“Das würd’ ich dir nicht raten,” antwortete Kalle leise drohend.

Andy Kramer legte ihm die Hand auf den Arm. “Laß ihn, Kalle...,” raunte er.

Kalle hatte bemerkt, daß der Schläger nicht allein war, eine weitere Gestalt in Schwarz trat nun aus dem Dunkel und baute sich drohend vor ihnen auf. Es war der Hartmann. Derselbe Hartmann, der sich vor einiger Zeit bei der Fischer KG. an der Kasse vergriffen hatte und fristlos entlassen worden war. Kalle hatte ihn seither nicht mehr gesehen. ”Da schau her, der Hartmann!” sagte er spöttisch. “Das ist also der Verein, dem du angehörst. Schöne Freizeitbeschäftigung, wehrlose Leute zusammenzuschlagen.” Er schob sich an ihm vorbei, nahm Andy Kramers Arm und sagte, indem er auf den Jungen am Boden wies: “Komm, wir müssen ihn reinschaffen.”

“Rühr ihn nicht an!” rief der Hartmann, aber Kalle beachtete ihn nicht, beugte sich stattdessen zu dem verletzten Jungen hinunter und klopfte ihm behutsam auf die Wange, bis er die Augen aufschlug. “Hallo! Geht’s wieder?” fragte er ihn.

Im gleichen Augenblick packte ihn Hartmanns Gefährte am Ärmel, zog ihn zu sich herum und holte zum Schlag aus. Kalle hatte damit gerechnet, wunderte sich aber dennoch, daß es ihm gelang, rechtzeitig auszuweichen und seine eigene Faust so genau auf der Kinnspitze des Angreifers zu plazieren, daß er lautlos in sich zusammensackte. Auch der Hartmann wunderte sich, - eine Sekunde zu lange, und Kalle holte ein zweites Mal aus. Er genoß die taube Kälte in den weißen blutleeren Knöcheln seiner rechten Hand, als sie irgendwo in Hartmanns Gesicht landete. Daß er dabei lächelte, war ihm nicht bewußt gewesen. Er hörte ihn auf das Pflaster aufschlagen, und die Tatsache, daß er liegenblieb, versetzte ihn in Hochstimmung und gab ihm für einen Augenblick das Gefühl, unbesiegbar und unverwundbar zu sein.

“Das war nicht sehr klug von dir,” meinte Andy, während sie dem verletzten Jungen halfen, sich aufzurichten.

“Sie haben’s nicht anders verdient.” Unbekümmert schaute sich Kalle um und sah, wie sich die Lederjacken aufrappelten und den Schmutz von den Kleidern klopften.

Der Junge am Boden stöhnte.

“Mannometer,” sagte Kalle kopfschüttelnd, “du hast ja ganz schön was abgekriegt. Kannst du aufstehen?”

“Weiß nicht.” Der Verletzte versuchte es und stützte sich schwer auf die Schultern seiner Helfer. Sein Gesicht war geschwollen, seine Oberlippe unförmig aufgeworfen und das blonde Haar mit Blut verklebt.

Die Warriors fluchten. “Gnade euch Gott, wenn wir euch das nächste Mal treffen,” rief ihnen der Hartmann zu.

Kalle lachte nur, bugsierte den blonden Jungen mit Andys Hilfe über die Schwelle des Alligators und ließ die Tür hinter sich zufallen. Sie setzten ihn an einen der kleinen runden Tische vor der Theke.

“Du lachst!” brachte er gequält hervor. “Du scheinst nicht zu wissen, wer das war. Big Jack’s Warriors, die vergessen nichts. Das nächste Mal werden sie mit der ganzen Bande kommen, und dann habt ihr nicht mal den Deut einer Chance.”

“Warum hast du dich dann mit ihnen angelegt, wenn du sie für so gefährlich hälst?” fragte Kalle und half ihm, die Jacke auszuziehen.

“Ich hab mich nicht mit ihnen angelegt. Sie haben mich angerempelt. Ich habe nur gewagt, mich darüber zu beschweren, das war alles.”

“Wie heißt du eigentlich?”

“Pit. Peter Neumann. Aber meine Freunde nennen mich Pit.”

“In Ordnung, Pit, dann halt jetzt mal still, damit wir nachsehen können, was an dir kaputt und was noch ganz ist. - Nicky?” Kalle sah sich nach dem Mädchen um, das wieder an der Theke saß und ein neues Opfer bearbeitete, um an eine Zigarette oder einen Schnaps zu kommen. “Komm mal her, du mußt uns helfen. Wir müssen ihn irgendwie verarzten.”

Pit hatte Glück gehabt, im großen und ganzen hatte er die Sache besser überstanden, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Wenn man von seiner geschwollenen Oberlippe, einem demolierten Schienbein und ein paar blauen Flecken absah, war eine stark blutende Platzwunde über der linken Augenbraue das einzig wirklich Schlimme, was er abbekommen hatte.

“Sie werden zurückkommen und uns alle drei fertigmachen,” lamentierte er. Vor Schmerzen preßte er die Zähne zusammen, als ihm Nicky vorsichtig das Blut von der Stirn tupfte. Sie hatte heißes Wasser und Jod organisiert und versorgte die Wunden so geschickt mit Mull und Pflastern, daß Kalle anerkennend durch die Zähne pfiff. “Du bist doch nicht etwa Krankenschwester?”

Sie grinste. “Nein, aber ich habe drei Brüder.”

Pit beschwor Kalle noch immer. “In Zukunft solltest du ihnen aus dem Weg gehen. Du stehst jetzt auf ihrer schwarzen Liste, und sie werden nicht eher Ruhe geben, bis sie dich nach Strich und Faden vermöbelt haben. Man kommt ihnen nicht ungestraft in die Quere. Sie zum Feind zu haben ist so ziemlich das Schlimmste, was einem passieren kann.”

“Mach dir mal keine Sorgen um mich. Sollen sie nur kommen, ich kann mich wehren,” antwortete Kalle zuversichtlich. Hatte er das nicht gerade wieder bewiesen? Er würde es auch ein nächstes Mal mit dem Hartmann aufnehmen.

Der Fremde mit den langen Haaren, der schweigend in seiner Ecke gesessen und ihnen zugeschaut hatte, stand auf und lief zur Theke hinüber, um seine Rechnung zu bezahlen. Kalle, der ihm im Weg stand, trat einen Schritt zur Seite und machte ihm Platz. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Die Augen des Fremden waren grau. Es waren helle klare Augen, und es lag keinerlei Feindseligkeit in ihnen. Nur Unverständnis und vielleicht ein leiser Vorwurf. Dazu ein Hauch aufrichtigen Mitleids. Kalle hielt ihm Stolz und eine Portion Überheblichkeit entgegen, die der andere zwar registrierte, ihm aber nicht übelzunehmen schien, denn er lächelte. Und obwohl sich beide auf ihre Art dagegen zu wehren suchten, konnten sie doch nichts tun gegen den Anflug von Sympathie, der sie in Sekundenschnelle erfaßt hatte.

“Gute Nacht,” sagte der Fremde.

Kalle sah ihm nach. “Gute Nacht.”

Dann wandte er sich wieder seinen Kameraden zu und überlegte, was als nächstes zu tun war. “Andy, du hast doch ein Auto, kannst du Pit nach Hause fahren?”

Der verletzte Junge hob die Hände und schüttelte heftig den Kopf. “Oh nein, glaubst du vielleicht, ich ginge jetzt nach Hause? Ich wette, sie stehen längst vor meiner Tür und warten auf mich. Ich habe keine Lust, gleich noch mal eine Tracht Prügel zu kassieren.”

”Hast du Freunde, bei denen du übernachten kannst?”

“Ich wüßte jetzt nicht...”

Kalle dachte kurz nach. “Gut, dann kommst du mit zu mir.”

Pit lachte trocken. “Das bringt doch nichts. Wie ich sie kenne, wird bereits ein Trupp auch vor deiner Haustür stehen.”

“Die wissen doch gar nicht, wo ich wohne. Der Hartmann kann unmöglich meine neue Adresse kennen. Der denkt wahrscheinlich, er findet mich noch immer in der Schwanenstraße. Und dort kann er auf der Lauer liegen, bis er schwarz wird.”

Andy Kramer erklärte sich bereit, Kalle und Pit in seinem alten Opel zum Wohnturm zu fahren, und erst, als er die Anlage dreimal langsam umkreist hatte und ihnen nichts Verdächtiges aufgefallen war, hielt er und ließ die beiden aussteigen. Kalle hatte von der Straße aus zum Wohnzimmerfenster hinaufgeschaut und festgestellt, daß es dunkel war. ‘Keiner zu Hause’, hatte er gedacht, doch als er die Korridortüre aufschloß und seine Hand schon am Lichtschalter lag, hörte er Stimmen und bemerkte einen Lichtstreifen hinter Violas nur angelehnter Tür. Viola und Dany stritten miteinander.

“Es war doch deine Idee,” hörte er Viola sagen, “was machst du mir jetzt Vorwürfe.”

“Es war aber nicht meine Idee, den erstbesten anzuschleppen,” antwortete Dany ärgerlich. “Du weißt, ich habe nichts gegen Kalle, wirklich nicht. Ich mag ihn sogar sehr gern. Aber du hättest dir rechtzeitig überlegen sollen, ob er auch für unsere Zwecke der Richtige ist.”

“Hätte ich ihn vielleicht fragen sollen?”

“Warum nicht? Das wäre nur fair gewesen. Wir hätten ihm offen und ehrlich sagen sollen, was wir von ihm erhoffen.”

“Dann wäre er nie geblieben.”

“Na und? Dann hätten wir uns eben nach einem anderen umsehen müssen. Aber er hätte zumindest gewußt, woran er ist.”

Kalles Hand rutschte vom Lichtschalter. Er machte Pit ein Zeichen, ihm wortlos zu folgen und schob ihn in sein Zimmer. “Warte hier auf mich,” flüsterte er ihm zu, "ich bin gleich zurück."

Viola hatte Geräusche gehört und kam auf den Flur heraus. “Petra, bist du’s?”

“Nein, ich bin’s,” gab sich Kalle zu erkennen. “Sorry, daß ich im falschen Augenblick gekommen bin. Es war nicht meine Schuld, daß ich einen Teil eurer Unterhaltung mit angehört habe. Ich glaube, ihr seid mir eine Erklärung schuldig.”

Viola war erschrocken. “Mein Gott, Kalle, das tut mir leid. - Komm rein. Es ist richtig, wir hätten schon lange mit dir reden sollen.”

Obwohl sie ihm Platz anbot, blieb er an den Türrahmen gelehnt stehen, während sie sich wieder neben Dany auf den Bettrand setzte. Die Mädchen schauten sich betreten an.

“Du darfst das nicht falsch verstehen, Kalle,” nahm nun Dany das Wort, “im Grunde geht es gar nicht wirklich um dich.”

“Sondern?”

Sie spielte nervös mit ihren Armreif. “Setz dich doch lieber,” bat sie leise, “es redet sich leichter, als wenn du dort wie auf dem Sprung an der Tür stehst.”

Kalle setzte sich. “Also? Dann schießt mal los.”

Dany zündete sich eine Zigarette an und sagte zu Viola: “Ich finde, eigentlich ist es deine Sache, es ihm zu erklären.”

Viola nickte und schaute ihn mit ihren leuchtend blauen Augen an. “Wir haben die Wohnung jetzt seit fast zwei Jahren,” begann sie. “Zuerst wohnte ich hier mit Dany allein. Das heißt, genaugenommen ist es Danys Wohnung. Sie nahm mich bei sich auf, weil wir... Freundinnen geworden waren. Du verstehst, was ich meine?”

“Ja.”

“Nein!” Sie seufzte resigniert. “Du verstehst es eben nicht! Was ich meine, ist, daß Dany nicht nur meine Freundin ist, sondern sie ist... ist...”

“Du brauchst nicht ins Detail zu gehen, ich kann mir tatsächlich denken, was du meinst,” antwortete Kalle gereizt.

Dany blies langsam den Rauch aus. Sie hatte die hübschen langen Beine übereinandergeschlagen und beobachtete ihn aus schmalen Augenschlitzen. “Bist du sicher?”

“Mein Gott, ich bin weder blind noch beschränkt,” sagte Kalle ärgerlich. “Ihr seid ein Paar, na und? Von mir aus könnt ihr machen, was ihr wollt. Das geht mich nichts an, und das interessiert mich auch nicht. Nur, - was hat das alles mit mir zu tun.”

Viola schluckte. “Ich habe nicht erwartet, daß du es gemerkt hast,” meinte sie. “Wie ich schon sagte, zuerst habe ich mit Dany allein hier gewohnt, doch dann ist meinen Eltern etwas über uns zu Ohren gekommen. Sie haben mich zur Rede gestellt, aber ich habe es abgestritten. Ich habe ihnen gesagt, alles, was sie gehört haben, sei nur dummes Geschwätz gewesen. Daraufhin haben sie uns meine Schwester geschickt. - Ja, Petra ist meine Schwester. Meine Stiefschwester. Sie soll, wenn man so will, auf mich aufpassen, soll zu Hause genau Bericht erstatten, verstehst du?”

“Das einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum ihr ein Geheimnis daraus macht. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter.”

Dany zog an ihrer Zigarette und lachte trocken. “Siehst du, genau das predige ich ihr jeden Tag.”

Viola sah Kalle unglücklich an. “Du kennst meine Eltern nicht,” sagte sie leise. “Mein Vater ist Pfarrer in einer kleinen Gemeinde, in der jeder jeden kennt. Für ihn wäre es eine Katastrophe, wenn herauskäme, daß ich....”

Kalle zuckte die Schultern. “Schön und gut, aber das ist euer Problem. Ich wüßte nicht, wie ich euch dabei helfen könnte.”

“Eines Tages hatten wir dann eine brillante Idee," fuhr Viola fort. "Jedenfalls dachten wir das. Wenn wir einen netten Freund für Petra fänden, dachten wir, dann hielte sie vielleicht den Mund, verstehst du? Sie weiß genau, daß es unsere Eltern nicht gern sehen würden, wenn sie schon einen Freund hat, sie ist erst sechzehn. Aber wenn es mit euch beiden geklappt hätte, dann hätten wir sagen können: Okay, Kleine, wenn du schweigst, dann schweigen wir auch. - Eine blöde Idee, ich weiß, aber...”

“Und ihr dachtet, ich wäre der Richtige für sie?”

“Ich dachte es,“ sagte Viola. “Du bist genau der Typ..."

“Weil ich gleich am ersten Tag...?”

Sie warf ihm einen schnellen, beschwörenden Blick zu, und er verstand. “...weil ich mich gleich am ersten Tag hab einladen lassen und bereit war, zu bleiben?”

Viola atmete auf. “Du kommst mit Mädchen gut zurecht. Und du bist genau der Typ, auf den sie fliegt, das wirst du selbst schon gemerkt haben. Ich dachte, wenn sie erst einmal um dich herumtanzt... Petra ist ein lieber Kerl. Es hätte ja sein können, daß du darauf eingegangen wärst, - daß du dich vielleicht sogar in sie verliebt hättest.”

Kalle schüttelte den Kopf. “Tut mir leid, daß ich euch enttäuscht habe. Sie ist zwar wirklich ein netter Kerl, aber ich habe mich nicht in sie verliebt. Und ich hatte auch niemals vor, mich in irgendeiner Weise mit ihr einzulassen.”

Die beiden Mädchen schwiegen.

“Das bedeutet also, ihr müßt weitersuchen,” sagte Kalle und stand auf. “Und ich werde mich wohl oder übel nach einer neuen Wohnung umsehen müssen.”

“Nein!” riefen beide wie aus einem Mund.

“Natürlich nicht, Kalle,” beteuerte ihm Viola. “Wir mögen dich, und wir haben uns an dich gewöhnt....” Sie lächelte hilflos.

Er hob die Schultern. “Aber ich hab die Erwartungen nicht erfüllt, die an euer Angebot geknüpft waren. Jetzt muß ich Platz machen für einen anderen, mit dem ihr vielleicht mehr Glück habt. Glaubt ihr denn, ich würde mich jetzt hier noch wohlfühlen?”

“Das tut uns sehr leid.”

Müde fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und seufzte. Leb wohl Badezimmer, dachte er, leb wohl Waschmaschine, Fernseher, gemütliches Wohnzimmer.. Es wäre auch zu schön gewesen. Das also war der Haken, den er befürchtet hatte. Dieses unbestimmte, unangenehme Gefühl hatte sich letztendlich also doch als richtig erwiesen. In gewisser Weise war er sogar froh darüber, daß er nun endlich wußte, woran er war. “Ich werde versuchen, etwas anderes zu finden, aber ich weiß natürlich nicht, wie schnell es klappen wird.”

“Kalle!”

“Schon gut, c’est la vie!” Er ging zur Tür, wandte sich dann aber noch einmal um und sagte: “Ich habe einen Freund mitgebracht. Er hatte einen kleinen Unfall und kann heute nacht nicht mehr nach Hause. Wenn ihr nicht wollt, daß er im Wohnzimmer auf der Couch schläft, schlafe ich dort, dann kann er in meinem Zimmer übernachten.”

“Natürlich kann er auf der Couch schlafen, Kalle” sagte Dany, und Viola fügte schnell hinzu: “Wir haben nichts dagegen.”

Auf dem Flur lief ihm Petra über den Weg, sie war gerade nach Hause gekommen. “Hallo, Kalle, du bist aber früh dran heute.” Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe. “Kommst du mit rüber zum Fernsehen?”

“In meinem Zimmer wartet ein Freund von mir...”

“Na, den bringst du mit. - Habt ihr schon was gegessen? Ich habe einen Mordshunger. Wenn du willst, mach’ ich euch was mit.”

Sie knipste das Licht im Wohnzimmer an und schaltete den Fernseher ein. “Nun komm schon, hol deinen Freund. Im Zweiten kommt ein spannender Krimi.”

Dann steckte sie den Kopf in Violas Zimmer. “Hallo, ihr Hübschen, habt ihr schon gegessen?”

“Ja. Danke, Kleines,” hörte man Dany antworten.

“Wollt ihr euch denn wieder den ganzen Abend nur verkriechen? Schaut euch doch mit uns zusammen den Film an.”

“Wir kommen später.”

“Okay!” Petra stürmte in die Küche und begann, laut klappernd und vor sich hin trällernd, das Abendbrot zu richten.

Als sie Pit sah, hielt sie bestürzt inne. “Was ist denn mit dir passiert?”

Pit verzog das geschwollene Gesicht. “Ich hab das Pech gehabt, jemandem in die Faust zu laufen,” spaßte er, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumute war. Selbst das Lächeln, zu dem er sich durchrang, fiel ihm schwer.

Petra setzte das Tablett ab und deckte den Tisch, ohne dabei den Blick von ihm zu wenden. “Kannst du denn überhaupt essen mit dieser Lippe?” fragte sie voller Mitleid.

“Du wirst ihn wohl füttern müssen,” neckte Kalle.

Aber sie bohrte weiter. “Jetzt erzähl mal, wie ist das passiert.” Und sie ruhte nicht eher, bis sie die ganze Geschichte kannte.

Es verging kein Tag mehr, an dem Pit nicht im Wohnturm vorbeikam und sich von Petra versorgen und bemitleiden ließ, oder daß er sie abholte, um mit ihr auszugehen. Spätestens nach einer Woche war jedem klar: Zwischen den beiden hatte es gefunkt. Kalle wußte nicht, ob er darüber lachen oder weinen sollte. Im Grunde hätte er froh sein sollen, daß jetzt endlich jemand gefunden war, der die Rolle übernahm, die eigentlich ihm zugedacht gewesen war. Andererseits sah er sich aber gerade deshalb genötigt, so schnell wie möglich auszuziehen. Da ihn die Mädchen jedoch nicht drängten, schob er den Gedanken, zu Josch und Biene zurückzukehren, immer wieder von sich, in der Hoffnung, doch noch etwas anderes zu finden.

“Ich verstehe gar nicht, warum du unbedingt ausziehen willst,” sagte Petra eines Morgens kopfschüttelnd zu ihm, als sie miteinander zur Straßenbahnhaltestelle liefen. Sie war Lehrling in einem Schuhgeschäft in Durlach. “Ist es dir denn nicht gut gegangen bei uns?”

Er lachte. “Oh doch! Besser, als ich es mir je hätte träumen lassen.”

“Na also! Und warum gehst du dann?”

Er hob die Schultern. Was sollte er ihr darauf antworten?

“Die Bedingungen haben dir nicht gefallen, stimmt’s?” meinte sie.

Er sah sie von der Seite an. “Was meinst du damit?”

“Oh, mein Gott,” schnaubte sie verächtlich. “Ihr tut alle, als sei ich blöd! Glaubst du, ich weiß nicht, daß wir zwei füreinander bestimmt waren?” Sie kicherte. “Aber du hast mich ja nicht gewollt! - Gut, akzeptiert, ich bin nun mal nicht dein Typ. Aber dann, - Ironie des Schicksals, - findest ausgerechnet du den Richtigen für mich! Nur leider nicht schnell genug eine andere Wohnung. - So ein Pech, was?”

Kalle blieb erstaunt stehen. “Sag mal...”

Sie lachte wieder. “Weißt du, Kalle, ich würde mich wirklich freuen, wenn du bei uns bliebst. Ehrlich. Du bist nämlich ein prima Kumpel. - Obwohl ich natürlich verstehen kann, daß du von uns die Nase voll hast. Weißt du, Pit würde eh’ nie zu uns ziehen. Und meine Schwester würde ich auch niemals verraten.”

“Hast du ihr das schon mal gesagt?”

“Nein.”

“Warum nicht?”

“Warum sollte ich. Sie behandelt mich wie einen Idioten und hält es nicht für nötig, mit mir wie mit einem vernünftigem Menschen zu reden. Sie kann ruhig noch eine Weile zappeln.”

“Mannometer!” Kalle lächelte und schüttelte den Kopf. “Du bist ein Mordskerl!”

“Danke! Deine Anerkennung kommt reichlich spät,” spottete sie. “Übrigens, da kommt meine Bahn. Noch schnell einen guten Rat von mir: Laß dir Zeit mit der Wohnungssuche und kümmere dich einfach nicht um unsere zwei Schönen.” Lachend stieg sie ein und winkte ihm aus der Bahn noch einmal fröhlich zu.

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