Читать книгу Timeflyer - Doris Bühler - Страница 8

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August 1987

Mir war aufgefallen, daß der Doktor abgenommen hatte. Er sah bleich und krank aus und wirkte fahrig und unkonzentriert. Seine sonst so korrekten Konzepte waren jetzt oft so lückenhaft und unzusammenhängend, daß ich beim Schreiben immer wieder nachfragen mußte. Irgendwann hielt er beim Diktat plötzlich mitten im Satz inne und fuhr sich mit einer matten Handbewegung über die Stirn.

“Ist Ihnen nicht gut, Herr Doktor?” fragte ich besorgt.

Er schüttelte den Kopf. “Nein, nein, es geht schon wieder.” Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Der fanatische Glanz, der noch vor Wochen von ihnen ausgegangen war, war erloschen. Er wirkte alt und unsagbar müde.

“Ich werde Ihnen einen starken Kaffee kochen,” sagte ich und stand auf, doch er hob abwehrend die Hand. “Ich vertrage keinen Kaffee mehr, meine Magennerven... Aber vielleicht haben Sie einen Tee?”

“Natürlich, ich mache Ihnen einen Kamillentee, der wird Ihnen guttun...”

“Warten Sie, Karin, setzen Sie sich wieder. Ich muß zuerst etwas mit Ihnen besprechen. Eigentlich sollte ich damit warten, bis Prof. Riechling wieder hier ist, aber, um ehrlich zu sein, das dauert mir zu lange. Mir wird es sicher auch um einiges besser gehen, wenn ich erst mit Ihnen geredet habe. Ich hab es eigentlich schon bei unserem letzten gemeinsamen Experiment machen wollen, sicher erinnern Sie sich, nicht wahr? Damals hielt es der Professor aber noch für verfrüht. Wahrscheinlich hatte er sogar recht.”

Ich setzte mich wieder. “Soll ich Ihnen nicht doch lieber zuerst den Tee kochen?” fragte ich voller Mitgefühl. “Sie sehen wirklich krank aus.”

“Nein, warten Sie,” sagte er noch einmal und erklärte: "Ich habe einfach zuviel gearbeitet in der letzten Zeit. Kaum geschlafen, zu wenig gegessen. Doch nun wird alles anders werden, denn unser ‘Timeflyer’ ist fertig.”

“Wirklich?" Ich freute mich für ihn. "Endgültig fertig?”

Er nickte lächelnd. “Ja. Und er arbeitet genauso tadellos und exakt, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir haben ihn unzählige Male getestet, mit verschiedenen Gegenständen und den unterschiedlichsten Versuchstieren. Er funktioniert einwandfrei und ohne nennenswerte Abweichungen. Natürlich sind wir sehr stolz und glücklich darüber, und genaugenommen könnten wir ihn nun einem breiteren Publikum vorstellen, aber... Dazu fehlt uns noch ein allerletzter Test, und der macht uns große Sorgen.”

Ich schaute ihn schweigend an und wartete.

“Nun ist es nämlich soweit, daß wir den ‘Timeflyer’ an uns selbst testen müßten, um zu beweisen, daß er tatsächlich ungefährlich ist und der Menschheit von großem Nutzen sein kann.” Er schwieg, und für einen kurzen Augenblick schien es, als sei er vollkommen abwesend, dann fuhr er fort: “Die Sache hat nur einen Haken: Ich glaube, ich bin zu alt, um diesen Versuch selbst durchzuführen. Ich weiß nicht, ob mein Herz das mitmachen würde. Vom Professor ganz zu schweigen. Obwohl wir uns hundertprozentig sicher sind, daß der menschliche Organismus den Zeitsprung genauso schadlos überstehen wird, wie der unserer Versuchstiere, wissen wir nicht genau, wie einzelne Organe im menschlichen Körper reagieren werden, wenn sie alt, verbraucht oder krank sind. Wir brauchen jemanden, der jung und gesund ist. Doch nicht nur das, er muß auch intelligent genug sein, um bei den Experimenten verantwortungsvoll mit uns zusammenzuarbeiten. Wir brauchen jemanden, dem die Situation nicht aus den Händen gleitet, oder der sie gar mißbraucht. Jemanden also, der begreift, worum es geht. Der uns versteht, mit uns fühlt und mit uns denkt...! Kurzum, wir brauchen Sie, Karin.”

Mir stockte der Atem. Ich begriff nicht gleich, was er mir damit sagen wollte. Dann spürte ich, wie mir jeder Tropfen Blut aus dem Gesicht wich, wie ich anfing zu frieren. Um Himmels Willen, dachte ich. Alles, nur das nicht!

Das Portrait des Herrn Bott über dem Schreibtisch lächelte plötzlich nicht mehr, sondern blickte ernst auf mich herab. Das Leder des Sessels fühlte sich eisig kalt an.

“Mich?” stammelte ich. “Nein, das geht nicht, das geht wirklich nicht. Es gibt andere...”

Dr. Weißgerber schüttelte traurig den Kopf. “Wen denn, Karin, wen denn? - Nein, es gibt niemanden außer Ihnen. Wenn wir uns eine andere Versuchsperson suchen müßten, würde uns das Wochen, oder sogar Monate zurückwerfen. Verlorene Monate. Ich bitte Sie, denken Sie darüber nach. Sie dürfen uns jetzt nicht im Stich lassen.”

“Aber ich kann das nicht tun, ich habe... Angst.”

“Wir werden alle Risiken ausschalten. Wir werden uns mindestens ein halbes Jahr lang darauf vorbereiten, werden jeden Punkt besprechen, jede Eventualität durchspielen. Wir werden dieses Experiment nicht eher starten, bevor es keine Situation mehr gibt, in der wir nicht Herr der Lage wären. Bevor absolut nichts mehr schiefgehen kann. Wir werden nur einige wenige Jahre in der Zeit zurückgehen, nur so weit, daß Sie sich immer noch zurechtfinden werden. Frau Dr. Ebenstreit wird dabei sein, sie wird dafür sorgen, daß Sie in bestmöglicher körperlicher Verfassung sind, und sie wird auch während der Experimente ihre Gesundheit strengstens überwachen. Keinesfalls würden wir Sie irgendeiner Gefahr aussetzen, Karin. Bis es soweit ist, wird es keine einzige ungeklärte Frage mehr geben, das versichere ich Ihnen.”

Das Kaninchen fiel mir ein, die entsetzliche Möglichkeit, mir selbst zu begegnen, und eine Gänsehaut lief mir den Rücken hinunter. “Wenn ich mir vorstelle, daß ich wie dieses Kaninchen...”

“Aber nein!” Er winkte ab. “Selbstverständlich werden wir Berlin verlassen, werden uns in Richtung Süden oder Westen orientieren, um die Gefahr einer Begegnung völlig auszuschließen. Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben.”

Er lehnte sich zurück und seufzte tief. “Ich sehe ein, daß Sie mir jetzt noch keine Zusage machen können, deshalb bitte ich Sie vorerst nur, darüber nachzudenken. Wir haben einen detaillierten Plan über den Verlauf der vorgesehenen Versuche aufgestellt. Überprüfen Sie ihn, hören Sie sich an, was wir dazu zu sagen haben. Sagen Sie uns, was Ihnen unklar oder gefährlich erscheint, was Ihnen Angst macht. Wir werden darüber reden. Stellen Sie sich zunächst nur einmal vor, wie es sein könnte... Ich flehe Sie an, Karin, bitte denken Sie wenigstens darüber nach.”

Ich dachte darüber nach, - ich konnte an gar nichts anderes mehr denken. Und war ich mir in einem Augenblick fast schon sicher, daß ich es vielleich doch tun könnte, weil ich begriff, welche wunderbaren Chancen der Menschheit dadurch in Zukunft offenstünden, so packte mich schon im nächsten wieder panische Angst. Angst davor, was passieren könnte.

Was wäre beispielsweise, wenn es mir nicht mehr gelänge, zurückzukehren? Ich wollte nicht den Rest meines Lebens irgendwo in einer fremden Zeit verbringen müssen, unter Menschen, die es so für mich eigentlich gar nicht geben durfte. Ich hatte auch Angst davor, zu sterben. Woher sollte man wissen, daß der menschliche Organismus genauso reagieren würde, wie der eines Kaninchens? Und wußte man überhaupt, ob das Häschen nicht einen Schaden davongetragen hatte, der noch gar nicht bemerkt worden war? Der sich vielleicht erst später zeigen würde?

Dennoch ertappte ich mich immer häufiger dabei, daß ich mir vorstellte, eines Tags durch das Berlin der Jahrhundertwende zu spazieren, den Kaiser in seiner Kutsche durch das Brandenburger Tor fahren zu sehen, die Pferdedroschken und die Brauereiwagen, die ich von alten Bildern her kannte... Oder ich dachte an die alten Ägypter, die in ihren Barken auf dem Nil segelten, in reich verzierten Gewändern durch Theben schritten und dem Pharao zujubelten, - und ich mitten unter ihnen!

Es war ein Wagnis, - es war aber auch eine Herausforderung. Und nicht zuletzt war es eine große Ehre für mich, dabei zu sein, wenn die Menschheit diesen gewaltigen Schritt tat. Ähnlich wie Armstrong, der 1969 als erster Mensch den Mond betreten hatte, wäre ich die erste, die ihren Fuß in die Vergangenheit setzt. Konnte ich da überhaupt nein sagen? War nicht auch Armstrong für seinen Mut und seine Risikobereitschaft tausendfach belohnt worden, indem er die Welt aus einem ganz anderen Blickwinkel sah? Ich mußte es tun, und ja, dreimal ja, - ich wollte es tun!

Ich hatte Klaus nicht kommen hören, ich sah nur plötzlich, daß sich die Tür öffnete und er den Kopf hereinsteckte. "Mein Gott, du sitzt ja im Dunkeln,” wunderte er sich. “Darf ich reinkommen?”

Ich nahm die Kopfhörer ab. “Sicher, setz dich doch.” Ich rutschte zur Seite, um ihm neben mir auf der Couch Platz zu machen. "Es ist schon spät, gibt es etwas Besonderes...?"

“Nein, nicht direkt. Ich habe nur seit einer Ewigkeit nichts mehr von dir gehört.” Ein leiser Vorwurf lag in seiner Stimme. “Was war denn nur los?”

Sein Anorak war naß vom Regen. Er zog ihn aus, hängte ihn über die Lehne des Stuhles vor dem Schreibtisch und rieb sich die feuchten Hände. “Ein paarmal habe ich versucht, dich anzurufen, doch entweder warst du noch nicht zu Hause oder du hast bereits geschlafen.”

Er setzte sich nicht, sondern beugte sich zu mir herunter, gab mir einen Kuß und strich mir über die Wange. "Karin, du weißt, daß ich mir Sorgen um dich mache.”

“Das ist völlig unnötig, mir geht es gut," antwortete ich. Dabei war mir bewußt, daß seine Sorgen nicht unberechtigt waren, nur daß er den Grund dafür in einer ganz anderen Richtung suchte. Hatte er mich nicht vor zu vielen Überstunden gewarnt? Hatte er nicht befürchtet, daß ich ausgenutzt werden würde?

Aber nein, ich fühlte mich nicht ausgenutzt. Im Gegenteil. Ich war dazu ausersehen, an einem einzigartigen Experiment teilzunehmen. War es in den Wochen zuvor schon aufregend genug gewesen, bei den ersten Tests dabei gewesen zu sein, so übertraf das, was das Timeflyer-Team nun mit mir vor hatte, bei weitem alles bisher Vorstellbare.

Doch das konnte ich Klaus nicht sagen.

Er seufzte, lief zum Fenster und schaute hinaus. Im Schein der Straßenlaterne konnte ich sein Profil erkennen. "Du arbeitest weit mehr, als nur die übliche Stundenzahl, hast kaum mehr Freizeit. Gibt es denn nur noch das Institut für dich? Du kannst nicht dein Privatleben dafür aufgeben und deine Freunde vergessen."

"Dr. Weißgerber leitet zur Zeit ein überaus wichtiges Projekt, und dabei braucht er meine Hilfe und meine Unterstützung," verteidigte ich mich kleinlaut.

Was hätte ich ihm denn anderes sagen sollen?

Kopfschüttelnd schaute er mich von der Seite an. “Du machst es doch nicht nur des Geldes wegen, oder?”

“Nein, natürlich nicht.”

“Aber weshalb dann? Ich sehe doch, daß es dich belastet. Wie lange soll denn das noch so weitergehen?"

Ich wußte, daß er glaubte, es ginge nur um Schreib- und kleine Hilfsarbeiten, die ich für den Doktor übernommen hatte. "Bis dieses Projekt abgeschlossen ist."

"Könnte das jetzt nicht mal eine andere machen? Sprich doch mal mit Gaby, vielleicht würde sie sich auch gern ein paar Mark dazuverdienen. Zumindest könntet ihr euch die Arbeit teilen.”

"Nein, das geht nicht.”

"Und warum nicht?”

"Weil Dr. Weißgerber möchte, daß ich diese Arbeit erledige. Hätte er Gaby gewollt, hätte er sie gefragt."

"Dr. Weißgerber! Dr. Weißgerber! Wenn ich diesen Namen schon höre.” Ich konnte sehen, wie er mit den Augen rollte. “Manchmal würde ich ihn am liebsten umbringen, deinen Doktor.”

Ich stöpselte die Kopfhörer aus und startete die Platte über die Lautsprecher-Boxen. "Er ist nicht mein Doktor!"

"Zuweilen könnte man es aber meinen."

Ich drehte die Lautstärke weiter auf, als könnte ich damit das leidige Thema beenden. Blackhead-Charlys Stimme nahm den ganzen Raum ein. Sie veränderte ihn, erfüllte ihn mit Wärme und Zärtlichkeit. Doch Klaus hörte gar nicht hin. "Mensch, Karin! Schmeiß doch den ganzen langweiligen Kram hin," schlug er vor. "Sag ihm: 'Ich mag nicht mehr.' Soll er sich doch eine andere Dumme suchen.”

Ich stand auf und knipste das Licht an. Die plötzliche Helligkeit tat den Augen weh. “Es ist nicht so, wie du denkst, Klaus. Ich mag diesen ‘langweiligen Kram’, wie du es nennst. In Wirklichkeit sind die Dinge, mit denen sich der Doktor beschäftigt, alles andere als langweilig."

"Du tust gerade so, als verstündest du etwas davon," antwortete er spitz und drehte die Musik leiser. Ärgerlich drehte ich wieder auf.

"Du hast auch bloß die Mittlere Reife," fuhr er fort. "und vom Abtippen allein wirst du noch lange keine Gelehrte. - Dreh die Musik leiser!”

"Nein!”

Mit zornigem Funkeln trafen sich unsere Blicke.

Er streckte die Hand nach dem Regler aus, ich griff nach seinem Handgelenk und hielt ihn zurück, - und plötzlich erschien mir das ganze Theater so sinnlos. "Müssen wir uns denn immer nur streiten, wenn wir uns sehen?” fragte ich leise. "Komm, hör dir diesen Song an, er ist wunderschön."

"Aber ein bißchen leiser, okay?”

Ich drehte den Knopf um einen Millimeter zurück. “Besser?”

Er hatte mich durchschaut und mußte lachen. "Mir gefallen unsere Streitereien auch nicht, Karin,” sagte er, ließ sich seufzend auf die Couch fallen und zog mich neben sich.

Mit einer Kopfbewegung wies er auf den Blackhead-Charly-Poster an der Wand. "Was findest du bloß an diesem Kerl da," fragte er kopfschüttelnd.

Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter. "Er hat eine so faszinierende Stimme."

"Das ist aber auch alles. Schau ihn dir doch an."

Ich wußte, daß es nichts bringen würde, mit ihm über Blackhead-Charly zu streiten, deshalb wechselte ich das Thema. "Und bitte, schimpf nicht jedesmal, wenn wir uns sehen, über den Doktor. Du änderst nichts an meiner Entscheidung. Ich tu’s für ihn, weil er ein wirklich guter Chef ist."

Klaus hob hilflos lächelnd die Schulter. "Manchmal könnte man glauben, er bedeute dir mehr als ich."

Ich mißverstand ihn absichtlich und lachte. "So ein Unsinn, er ist doch viel zu alt und viel zu klug für mich." Dann bat ich: "Laß mir Zeit, Klaus. Dr. Weißgerbers Arbeit beschäftigt mich im Augenblick wirklich mehr, als sie es eigentlich sollte.”

"Dann laß uns darüber reden.”

“Das ist unmöglich. Da geht es um Dinge, über die ich mit keinem Außenstehenden reden darf.”

"Auch nicht mit einem Freund?” Behutsam küßte er mich auf die Wange.

“Nein, auch nicht mit einem Freund. Und nach einem langen Arbeitstag bin ich im Moment am liebsten allein und höre Musik. Dabei kann ich abschalten und auf andere Gedanken kommen. Das hat nichts mit dir zu tun, und auch nicht damit, daß ich nichts mehr von dir wissen will. Bitte, versuch doch einfach, mich zu verstehen.”

Er legte die Arme um mich und hielt mich ganz fest. Ich spürte seine Traurigkeit. "Ich versuche es ja,” sagte er dicht an meinem Ohr. “Aber ich wünschte, diese Phase, in der du gerade steckst, ginge so schnell wie möglich wieder vorbei."

Ich kannte Klaus schon seit meiner frühesten Kindheit. Bereits im Kindergarten hatten wir zusammen gespielt und waren auch während der Schulzeit immer gute Freunde geblieben. Zumindest bis zur achten Klasse, danach hielt er mich plötzlich für albern und meinte, ich lache zuviel. Mich dagegen störte es, wenn er vor anderen Mädchen den Clown spielte, um ihnen zu imponieren. Das hatte zur Folge, daß wir uns eine Zeitlang aus dem Weg gingen und uns kaum mehr sahen.

Schon während meiner Teenagerzeit schwärmte ich für Musiker, und für mich stand fest, daß der Junge, der mein Herz erobern wollte, unbedingt Gitarre spielen oder doch wenigstens singen sollte. Ich träumte von einem George Michael, einem Bon Jovi oder einem, der es mit den Boys von Duran Duran aufnehmen konnte. Klaus sah zwar nett aus, doch mit dem Singen und der Musik hatte er nichts am Hut. Seine große Leidenschaft galt jeglicher Art von Motoren, gleichgültig, unter welcher Karosserie sie steckten, und so machte er nach der Schulzeit sein Hobby zum Beruf und begann eine Lehre als Automechaniker. Schon während seine Freunde noch mit ihren knatternden Mopeds die Gegend unsicher machten, hatte er sich bereits aus ausrangierten Fahrzeugteilen sein erstes eigenes Vehikel zusammengebastelt. Drei oder vier Jahre später lief er mir erneut über den Weg, und mit Erstaunen stellte ich fest, wie sehr er sich verändert hatte. Aus dem schmalen Jungen war ein attraktiver junger Mann geworden, und der Blick, mit dem er mich nun ansah, schmeichelte mir. Das war der Anfang unserer neu erwachten Freundschaft, und schon bald wurde mehr daraus.

Auch meine Eltern hatten ihn gern. In ihren Augen war er genau der Mann, den sie sich für ihre einzige Tochter wünschten. Oft genug ließen sie mich wissen, wie beruhigt sie hinsichtlich meiner Zukunft wären, wenn aus unserer Freundschaft endlich etwas Festes und Dauerhaftes werden würde.

Manchmal glaubte ich wirklich, verliebt in ihn zu sein, doch sobald er begann, für eine gemeinsame Zukunft Pläne zu schmieden, sobald er von Verlobung sprach oder den Vorschlag machte, wir könnten endlich zusammenziehen, war mir nicht wohl in meiner Haut, und ich drückte mich vor einer Antwort.

Ich war zwanzig, und gewiß wollte ich nicht als alte Jungfer enden, dennoch scheute ich mich vor der Endgültigkeit eines festen Versprechens. Natürlich mochte ich es, wenn wir Zärtlichkeiten austauschten und uns küßten, wenn wir uns liebten und ich danach in seinen Armen einschlief. Doch niemals war ich mir meiner Gefühle für ihn ganz sicher. Immer wieder gab es Augenblicke, in denen ich eine tiefe Leere in mir spürte, ein Unerfülltsein, vielleicht sogar Enttäuschung. So, als hätte ich mir die große Liebe ganz anders vorgestellt. Fantastischer, überwältigender, einzigartiger. Ich hätte mit Klaus darüber reden sollen, doch dazu war ich zu feige. Ich hätte es vielleicht endlich an diesem Tag im August tun sollen, an dem ich ihm gegenüber Dr. Weißgerbers Projekt erwähnt hatte, über das ich nicht reden durfte. Ich hätte ihm sagen sollen, daß die Phase, in der ich seiner Meinung nach steckte, ganz sicher nicht so schnell vorübergehen würde, wie er es erhoffte. Im Gegenteil! Mein Abenteuer mit dem 'Timeflyer' würde jetzt erst beginnen. Es tat mir leid für Klaus, daß ich ihn nicht daran teilhaben lassen durfte, gleichzeitig wußte ich aber auch, daß er es weder verstanden noch gutgeheißen hätte.

Nachdem Klaus an jenem Abend gegangen war, stand Dr. Weißgerbers Ansinnen wieder ganz deutlich vor mir, mit all seiner Schwere, mit all seiner Macht.

Ja, ich wollte tun, was er mir vorgeschlagen hatte, ich wollte den Schritt wagen, der mein ganzes Leben, - vielleicht sogar das Leben der ganzen Menschheit, - verändern würde. Doch vorerst durfte niemand davon erfahren. Zwar hatte ich das Bedürfnis, all das, was ich gesehen und erlebt hatte und was mir möglicherweise bevorstand, mit jemandem zu teilen, doch das durfte ich nicht. So beschloß ich, auch dieses Mal Blackhead-Charly in mein Geheimnis einzuweihen. Ich war überzeugt davon, daß er mich verstehen würde, könnte er mir tatsächlich zuhören. Vom ersten Augenblick an war ich mir sicher gewesen, daß sich ein ganz anderer hinter der Maskierung aus schwarzem Leder verbarg, als man uns glauben machen wollte. Ich fühlte es, und ich glaubte daran. Ich wollte daran glauben.

In einem Brief schrieb ich ihm, was auf meiner Seele lastete. Ich erzählte ihm von Dr. Weißgerber, Prof. Riechling und ihrer großartigen Erfindung. Ich berichtete ihm von ihren Plänen, in denen ich eine ganz gravierende Rolle spielen sollte. Und schließlich schweifte ich ab und erzählte ihm auch von mir und meinem Leben, von meinen Eltern und von Klaus, und von all meinen Wünschen und Träumen. Ich versuchte, ihm zu erklären, was Musik für mich bedeutete, - und im Besonderen seine Musik, und wie leid es mir tat, daß er Angel, seinen guten Engel, verloren hatte.

Nach fünf Seiten war mir leichter, und ich fühlte mich ihm so nah, als säße er neben mir und höre mir zu. Dann setzte ich die Kopfhörer auf und ließ mir noch einmal von ihm seine Geschichte erzählen. Und ganz allmählich wurden aus meinen Gedanken Träume und aus meinen Träumen tiefer fester Schlaf.

Am nächsten Tag fuhr ich zur Eisenbahnbrücke hinaus, blieb in der Mitte stehen und schaute auf das wirre Netz der Schienen unter mir. Langsam zerriß ich meinen Brief in tausend kleine Schnipselchen, ließ sie durch die Luft flattern und schickte mit ihnen all meine Sehnsucht auf die Reise.

Timeflyer

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