Читать книгу Thea Sternheim - Chronistin der Moderne - Dorothea Zwirner - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеDie im wohlhabenden Fabrikantenmilieu ihres rheinisch-katholischen Elternhauses aufgewachsene Thea Sternheim, geborene Bauer, ist für die Außenwelt lange vor allem eines gewesen: die Ehefrau des skandalumwitterten Dramatikers Carl Sternheim. Dabei entfaltet sich im Spiegel ihres Tagebuchs nicht nur ein eigenständiges und unkonventionelles Frauenleben, sondern ein umfassendes Panorama der ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts, das die kulturelle Blüte dieser Zeit ebenso umfasst wie die politischen Katastrophen. Die Schauplätze dieses bewegten Lebens wechselten so rasch und radikal wie die Regierungen und Staatsformen: zwischen den rheinischen Heimatstädten Köln und Düsseldorf, den Theatermetropolen München und Berlin, den ländlichen Domizilen im belgischen La Hulpe bei Brüssel, im schweizerischen Uttwil am Bodensee und im deutschen Waldhof bei Dresden, bis die zweifach geschiedene Frau und Mutter dreier Kinder Deutschland noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im April 1932 endgültig den Rücken kehrte und nach dreißig Jahren in ihrer Wahlheimat Paris schließlich die letzten Lebensjahre in der Nähe ihrer ältesten Tochter, Agnes, in Basel verbrachte.
»Introvertiert und doch wahrnehmend; glühend von Gefühl u. doch nüchtern; dämmernd von Glauben und Inbrunst und doch wach; contemplativ und doch voller Einfälle; die Substanz feminin und die Methode der Darstellung hart und sicher.« Die dialektische Eloge, die Thea Sternheim als Mensch wie als Schriftstellerin charakterisiert, stammt von keinem Geringeren als Gottfried Benn. Seit 1917 verband Thea Sternheim eine lebenslange Freundschaft und Korrespondenz mit dem Dichterfreund und Arzt ihres Mannes, der ihr 1952 zur Publikation ihres einzigen Buchs Sackgassen verhalf. Doch nicht dieser Lebensroman, an dem sie über dreißig Jahre gearbeitet hat, wurde zu einem veritablen Lebenswerk, sondern das Tagebuch, das sie von 1905 bis kurz vor ihrem Tod 1971 fast täglich führte. Keine drei Monate nachdem sie es dem Literaturarchiv Marbach überlassen hatte, starb Thea Sternheim im Alter von 87 Jahren. Dem Leiter des Literaturarchivs Bernhard Zeller war sehr wohl bewusst, welchen Schatz er erhalten hatte:
»Es ist die Dokumentation Ihres eigenen Lebens als eines Kapitels deutscher und europäischer Geschichte und Geistesgeschichte unseres so unfassbaren Jahrhunderts; es ist Spiegel und Niederschlag eines ganz ungewöhnlichen individuellen Schicksals in seiner Verflechtung mit den Geschicken der Allgemeinheit. Welch eine ungeheure geistige Leistung und geistige Diszipliniertheit repräsentieren die sechs Jahrzehnte hindurch geführten Tagebücher.«[1]
In dieser Würdigung, die Thea Sternheim als eine der letzten Abschriften in ihrem Tagebuch aufbewahrt hat, ist die Aufgabenstellung einer Biographie bereits skizziert: ihren außergewöhnlichen Lebensweg vor dem zeitgeschichtlichen Horizont zu erzählen.
Als Tagebuchschreiberin war Thea Sternheim eine »ebenso leidenschaftliche wie hellsichtige Beobachterin«.[2] Im Unterschied zu den Memoiren und Tagebüchern von Zeitgenossen wie Harry Graf Kessler oder Freunden wie André Gide und Julien Green waren die zehntausend eng beschriebenen Seiten, die sie über sechs Jahrzehnte füllte, jedoch nie zur Veröffentlichung bestimmt. Insofern ist ihr Tagebuch nicht nur ein »einmaliges Zeugnis eines Jahrhunderts, seiner Größe, seines Größenwahns, seiner Niedrigkeiten«[3], sondern es gewährt darüber hinaus intime Einblicke in die Gefühle, Ambitionen und Zweifel einer Frau der ersten Jahrhunderthälfte. Auf der Suche nach Wahrhaftigkeit in Liebe, Kunst und Glauben umfasst es gleichermaßen die Psychogramme einer selbstkritischen Frau und die Chronique scandaleuse ihres dramatischen Schicksals.
Dieses Buch ist der Versuch, Thea Sternheims introspektive mit ihrer intellektuellen Biographie zu verknüpfen. Im Spiegel ihrer nach innen gerichteten Beobachtungen wie ihrer literarischen, künstlerischen, religiösen und politischen Kommentare wird Thea Sternheim zu einer Chronistin der Moderne, die sich genauso intensiv mit sich selbst wie mit den Schlüsselfragen ihrer Epoche auseinandergesetzt hat.
In einer krisenhaften Welt im Wandel fand Thea Sternheim ihre Orientierung in Literatur, Kunst und Religion. Lesen und Schreiben, Bilder und Bücher, Gebet und Glauben gehörten von Anfang an zu ihren Grundbedürfnissen, formten ihr Selbstverständnis, boten Halt und Trost. In der Begegnung und Freundschaft mit zahlreichen Künstlern, im Gedankenaustausch und Briefwechsel, in Übersetzungsarbeiten und Zeitungsartikeln, in tagebuchschreibender Auseinandersetzung und stiller Lektüre suchte Thea Sternheim nach der verwandten Seele, die sie im Leben nur schwer finden konnte. In der geistigen und spirituellen Welt der Kunst und des Glaubens konnte sie sich leichter beheimaten als in der privilegierten Welt ihres großbürgerlichen Lebensstils.
Nur vorübergehend erfüllte sich mit Carl Sternheim der Traum von einem Leben im Zentrum des pulsierenden Kulturbetriebs: Theaterproben und Aufführungen bei Max Reinhardt und Felix Hollaender, Lektüreeindrücke und Vorlieben für die französischen und russischen Dichter, Ausstellungen und Kunstkäufe bei Alfred Flechtheim und Paul Cassirer, Begegnungen und Gespräche mit den bedeutenden Dichtern, Künstlern und Politikern ihrer Zeit. Weit entfernt von schöngeistiger Kulturbeflissenheit nahm Thea Sternheim aktiv teil am Aufbruch der Moderne: als Mitarbeiterin, Muse und Mäzenin von Carl Sternheim, als Sammlerin avantgardistischer Kunst von van Gogh bis Picasso, als Amateurfotografin vieler berühmter Zeitgenossen, aber vor allem als hellwache und scharfzüngige Chronistin ihrer Epoche. Weltgewandt und frankophil war ihr jede Form von Nationalismus suspekt. Aus den Erfahrungen des ersten Weltkriegs erwachte ihr politisches Bewusstsein, das sie zur überzeugten Pazifistin und frühen Gegnerin Hitlers und des Nationalsozialismus werden ließ. Trotz der durch Inflation und Emigration erlittenen Vermögensverluste gehörte Thea Sternheim wie nur wenige Emigranten in der Pariser Kriegs- und Nachkriegszeit zu dem Kreis französischer Intellektueller um André Gide. Doch trotz aller Privilegien, Begabungen und Ambitionen zeigt Thea Sternheims Leben die weichen Umrisse einer weiblichen Biographie auf der Suche nach Selbstbestimmung, die der deutlichen Kontur einer beruflichen oder künstlerischen Karriere entbehrt.
Thea Sternheim veröffentlichte zeitlebens außer einigen Artikeln und Übersetzungsarbeiten nur eine Kurzgeschichte und einen Roman. Dass ihre Tagebücher mittlerweile in einer hervorragend kommentierten fünfbändigen Edition vorliegen, ihre Lebenserinnerungen bis 1930, die Briefwechsel mit Carl Sternheim, ihren jüngeren Kindern Dorothea und Klaus, sowie die Korrespondenz mit Gottfried Benn und André Gide posthum veröffentlicht worden sind, ändert nichts daran, dass Thea Sternheim zu jenen großen Frauenfiguren des 20. Jahrhunderts gehört, deren Name noch weitgehend unbekannt ist und deren Lebensgeschichte es zu erzählen gilt.
Angesichts der Fülle primärer Quellen bestand die Herausforderung dieser Biographie eher in der Auswahl als im Auserzählen – in der Kunst des Weglassens. Dabei stellten sich grundsätzliche Fragen der Bewertung von Selbstzeugnissen, des eigenen Standpunkts und der Gliederung einer solchen Stoffmenge: Wie sind die Selbstaussagen der Person zu bewerten, deren Leben erzählt werden soll? Kann man als Biographin eine ausreichend kritische Distanz zu einem Leben herstellen, von dessen Verlauf eine große Faszination ausgeht? Steht vielleicht sogar die Sympathie für die dargestellte Person einer halbwegs objektiven Darstellung im Weg, noch dazu, wenn sie durch ihre Briefe und besonders durch ihr Tagebuch so eindrucksvolle Selbstzeugnisse hinterlassen hat wie Thea Sternheim? Und schließlich: Wie lässt sich eine solche Stoffmenge sinnvoll gliedern?
Die Intimität, Unmittelbarkeit und Kontinuität von Thea Sternheims Tagebuch über mehr als 60 Jahre hinweg verleihen dieser Hauptquelle eine hohe Glaubwürdigkeit und Aussagekraft, die durch eingefügte Briefe, Fotos, Zeitungsausschnitte und Dokumente noch objektiviert und untermauert werden. Darüber hinaus haben sich viele ihrer politischen, ästhetischen und moralischen Urteile als so weitsichtig, geschmackssicher und unbestechlich erwiesen, dass Thea Sternheim weitgehend selbst die Regie und das Wort überlassen werden soll, während mir die Rolle der diskreten Biographin zufällt.
In dieser Rolle hieß es, sich der Chronologie des Tagebuchs anzuvertrauen und die Biographie gleichsam von innen heraus zu erzählen. Dabei kristallisierten sich thematische Schwerpunkte, Fragestellungen und Hauptpersonen heraus, die eine prägende Rolle für Thea Sternheim gespielt haben, sei es in bestimmten Lebensphasen oder als zentrale Lebensthemen: die Frage weiblicher Bildungschancen und die Rolle der modernen Frau in Familie und Gesellschaft, ihre Konflikte in der Ehe und zwischen den Generationen, ihre Verehrung des Schöpferischen in der bildenden Kunst und Literatur, in Theater und Film und insbesondere in Gestalt von Carl Sternheim, Gottfried Benn und André Gide, ihre daraus erwachsenen Reflexionen über das Verhältnis von Kunst und Moral, Künstler und Werk, ihr Hang zu Mystik und Religion, ihre weltanschaulichen Haltungen zum Pazifismus, Kommunismus und Antifaschismus sowie ihre weltoffene Einstellung zur Emigration und zu Europa als geistiger Heimat. Da eine vertikale Gliederung nach diesen Gesichtspunkten zwangsläufig zu Überschneidungen und Redundanzen geführt hätte, blieb die Entscheidung bei einer horizontalen Gliederung, um durch behutsame Einordnungen, Kommentare und Deutungen die inneren und äußeren Zusammenhänge ihres Lebens zu erschließen. So entfaltet sich eine Lebensgeschichte, die exzeptionell und exemplarisch zugleich erscheint – exzeptionell in der moralischen Gradlinigkeit, ästhetischen Souveränität und politischen Hellsichtigkeit, exemplarisch im weiblichen Selbstverständnis, das zwischen Anpassung und Aufbegehren, Selbstzweifeln und Sinnsuche, Disziplin und Demut bis heute fasziniert.