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Jugend in Pensionaten (1896–1901)
»Von Natur aus fleißig«

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Nach sechs Jahren ist es für Thea an der Zeit, eine weiterführende Schule zu besuchen. Denn die »höhere Mädchen- oder Töchterschule« gehört nicht zum höheren Schulwesen, sondern bezeichnet vielmehr einen standesbewussten Anspruch.[17] Die begriffliche Gemengelage zwischen höherer Bildung und höherem Stand wirft indes ein bezeichnendes Licht auf die Vorstellungswelt eines spezifisch weiblichen Bildungswegs,[18] der auch noch für Thea maßgeblich ist. Zwar beginnt bereits 1872 mit der Weimarer Versammlung der deutschen Mädchenschulpädagogen die Normierung und Institutionalisierung des höheren Mädchenschulwesens in Preußen, die jedoch erst 1908 zum Erlass seiner Neuregelung in Anpassung an das Jungenschulwesen führten.[19] Bis dahin herrscht in der bildungspolitischen Auseinandersetzung über die Mädchenbildung ein breiter Konsens über die »Bestimmung der Frau« als Hausfrau, Gattin und Mutter.[20] Noch in der Denkschrift der Weimarer Versammlung bleibt die Erziehung der Mädchen an den Bedürfnissen des Mannes orientiert:

»Es gilt, dem Weibe eine der Geistesbildung des Mannes in der Allgemeinheit der Art und der Interessen ebenbürtige Bildung zu ermöglichen, damit der deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit an dem häuslichen Herd gelangweilt und in seiner Hingabe an höhere Interessen gelähmt werde, daß ihn vielmehr das Weib mit Verständnis dieser Interessen und der Wärme des Gefühls für dieselben zur Seite stehe.«[21]

Obwohl es 1890 in Köln bereits zehn höhere Mädchenschulen gibt,[22] kommt Thea nach Ostern 1896 mit zwölf Jahren in das neu eröffnete katholische Pensionat der Schwestern Josefine und Anna Meurin nach Bonn. Private Mädchenpensionate sind im 19. Jahrhundert vor allem eine Option für höhergestellte Familien, die ihren Töchtern eine standesbewusste Ausbildung unter ihresgleichen zukommen lassen wollen. Empfohlen wird ein Pensionatsaufenthalt von ein bis zwei Jahren im Anschluss an die Schulzeit, also ungefähr ab dem vierzehnten Lebensjahr, um der moralischen und gesellschaftlichen Erziehung den letzten Schliff zu geben.[23] Wie beliebt das Pensionatswesen war, zeigt sich in dem eigenen literarischen Genre von Internatsgeschichten, das mit Emmy von Rhodens zwei Jahre nach Theas Geburt erschienenem Fortsetzungsroman Trotzkopf einen »Klassiker der Backfischliteratur« hervorgebracht hat.[24] Schon im titelgebenden Spitznamen verdichtet sich das Sozialisationsmuster des aufmüpfigen Backfisches, der durch die Pensionatszeit geläutert zu seiner »weiblichen Bestimmung« findet.

Thea erlebt ihre zweijährige Internatszeit in Bonn ohne Heimweh, aber auch ohne jede Begeisterung.[25] Der streng geregelte Schulalltag lässt wenig Spielraum zur individuellen Entfaltung. Die ein- und ausgehende Post wird kontrolliert, was Thea entweder zu umgehen weiß oder wogegen sie offen rebelliert.

In ihrem Bedürfnis nach Idealisierung und Ausdruck bietet ihr vor allem die Literatur neue Nahrung. An die Stelle des Schutzengels über ihrem Bett hängt sie nun das Porträt des jungen Goethe und ergeht sich selbst in dichterischen Versuchen.

Im Schlafsaal ist die zwei Jahre ältere Eugenie Hauth aus Düsseldorf ihre Bettnachbarin, mit der Thea sich bald anfreundet, wenngleich sich der Altersunterschied zwischen den jungen Mädchen deutlich bemerkbar macht. Während bei Eugenie bereits das Interesse am anderen Geschlecht geweckt ist, hält Thea ihre heimliche Schwärmerei für Fritz Werner vor der Freundin verborgen. Trotz aller Diskretion fühlt sich Theas Vater offenbar bemüßigt, die Schwärmerei mit dem Hinweis auf Werners jüdische Abstammung zu unterbinden, worin Thea erneut den antisemitischen Beigeschmack fühlt, der ihren Widerspruchsgeist weckt.

Eine willkommene Abwechslung bieten die Sommerferien, die Thea auf Einladung des Ehepaars Schaurte auf deren Anwesen verbringt. Die bei Neuss gelegene mittelalterliche Lauvenburg mit dem Trabergestüt Schabernack, die Christian Schaurte erworben und in eine heute noch erhaltene Villa umgebaut hatte, wird für Thea zum Ferienparadies. Von hier aus lassen sich Ausflüge zu Theater- und Restaurantbesuchen in das nahe gelegene Düsseldorf unternehmen, aber vor allem gemeinsame Stunden mit der bewunderten Hedwig verbringen, bei deren drittem Kind Thea die Patenschaft übernimmt.

Entsprechend schwer fällt Thea die Rückkehr in das ungeliebte Bonner Pensionat. Durch häufige Erkältungen weiß sie sich jedoch immer wieder dem Unterricht zu entziehen, um sich der Arbeit an einem fünfaktigen Drama über den böhmischen Reformator Jan Hus zu widmen:

»Dieses Machwerk ist der Querschnitt durch meine damalige Weltanschauung. Antiautoritär, antiklerikal, Papst und Kaiser als Roßtäuscher anprangernd, den Ketzer als Märtyrer darstellend. Der verfemten Tochter des Konstanzer Henkers, die selbstverständlich in einen Liebeshandel mit Hieronymus von Prag verstrickt ist, lege ich alle Rechtfertigungsgründe in den Mund, die Fritz Werner der judenfeindlichen Umwelt entgegnen könnte. Hus und Hieronymus sind im Aufmarsch der Personen jedenfalls die einzigen, die die Gebote Jesu befolgen.«[26]

Theas apologetische Eloge auf den Wegbereiter der Gewissensfreiheit verträgt sich schlecht mit der schulischen Missachtung des Briefgeheimnisses. Hat sie bisher ihren heimlichen Briefwechsel mit Gudrun Wette einer Zugehfrau aus der Badeanstalt anvertraut, die für Theas tägliches Vollbad zuständig ist, so sucht sie jetzt die offene Konfrontation mit der Schulleitung, indem sie die Zensur in ihrer offiziellen Korrespondenz zum Thema macht.

Im schöpferischen und gerechtigkeitsliebenden Eifer malt sich Thea bereits eine Zukunft am Theater aus, bei der die bürgerlichen Vorstellungen ihrer »weiblichen Bestimmung« keine Rolle spielen. Sind berufliche Ambitionen für wohlhabende junge Mädchen ohnehin noch eher die Ausnahme, so bedeutet ihr Berufswunsch einer Theaterlaufbahn ein geradezu anstößiges Ansinnen.[27] In erster Linie ist es der Lehrerinnenberuf, der eines der wenigen standesgemäßen Berufsfelder für Mädchen aus bildungsbürgerlichen Schichten eröffnet, allerdings zu dem Preis des Lehrerinnenzölibats.[28]

Ob es Theas eigensinniger »Trotzkopf« ist, der nach zweijähriger Pensionatszeit einen erneuten Schulwechsel geraten sein lässt, oder der elterliche Wunsch nach einer internationalen Ausbildung, ist nicht bekannt. In jedem Fall wird Thea 1897 mit vierzehn Jahren in ein neues, diesmal protestantisches Internat nach Brüssel geschickt.[29]

Anders als in Bonn herrscht dort eine offenere und freiheitlichere Atmosphäre mit Schülerinnen aus aller Welt.[30] Kein frühes Aufstehen, kein verordneter Gottesdienstbesuch, dazu tut die gute belgische Küche das Übrige, um Theas freiheitsliebendes und sinnenfreudiges Temperament zu beflügeln. Hier kann sich ihre Wissbegierde und Begeisterungsfähigkeit erstmals voll entfalten. »Von Natur aus fleißig« werden Literatur und Geschichte zu ihren Lieblingsfächern, ihre französischen Aufsätze können schon bald mit denen der Muttersprachlerinnen konkurrieren, und ihr historischer Horizont weitet sich unter der internationalen Perspektive. Zu dem Goethebild über ihrem Bett gesellte sich Heinrich Heines Porträt, dessen gesammelte Werke sie systematisch durcharbeitet. Reitunterricht gehört ebenso zum extracurricularen Angebot wie die Klavierstunden bei der Musikertochter Louisa Merck, die für Thea zum nächsten Objekt ihrer schwärmerischen Veranlagung wird. Ohnehin bietet das Pensionatsleben reichlich Nahrung für die aufgeladene Gefühlswelt der jungen Mädchen. Über das alterstypische Maß hinaus findet diese überspitzte und aufgewühlte Emotionalität ihren zeitgenössischen Ausdruck in der symbolistischen Strömung der Jahrhundertwende, die Thea bei den belgischen Dichtern Émile Verhaeren und Maurice Maeterlinck für sich entdeckt. In ihrer Begeisterung für die fantasiereiche und märchenhafte Sprache Maeterlincks begnügt sich Thea nicht mit der Lektüre seiner dramatischen Schöpfungen, sondern tut zum ersten Mal das, was sie im späteren Verlauf ihres Lebens immer wieder tun wird. Sie sucht den direkten brieflichen Kontakt zu einem zeitgenössischen Dichter. Maeterlinck erkennt in Thea »une âme, que je sens si jeune, si vivante et en même temps si résolue et si indépendante«,[31] wie er ihr entgegen seiner sonstigen Gewohnheit tatsächlich antwortet. Die Antwort eines der bedeutendsten Vertreter des Symbolismus an die Sechzehnjährige wird für Thea zu einem Schlüsselerlebnis:

»Noch heute entsinne ich mich des inneren Aufruhrs, den ich mit Maeterlincks Antwortschreiben auf meinen an ihn gerichteten Brief empfand. Überhaupt war die in Brüssel verlebte Zeit mit Verlaine, Pascal, Verhaeren und Maeterlinck unbedingt die an musischen Eindrücken reichste meiner Jugend; die, wo ich mein natürliches Ich selbstverständlich leben durfte, die mir gemäße Stellung einnahm, den meinen ähnlichen Interessen vielfach bei anderen begegnete. Das Geschlechtliche war noch ausgeschaltet, keine Enttäuschung hatte meinen Enthusiasmus geknickt.«[32]

Das soll sich bald ändern, als Thea in den Sommerferien 1899 in Köln Arthur Löwenstein kennenlernt. Bei einer Kutschfahrt im Phaeton mit ihrem Bruder Richard begegnet sie ihm das erste Mal, als er gerade aus dem Reitstall kommt. Der angehende Rechtsanwalt verfügt im Unterschied zu ihren bodenständigen und amusischen Brüdern über genau das, was ein feinsinniges Mädchen wie Thea Bauer faszinieren muss: Er sieht gut aus, spielt leidenschaftlich Geige, interessiert sich für Musik und Philosophie und ist galant. Mit dem ersten Kuss ist für Thea jedoch weniger der sinnliche Reiz als der des Verbotenen geweckt. Noch bevor die Sommerferien zu Ende gehen, ist die Fünfzehnjährige mit dem zehn Jahre älteren Löwenstein heimlich verlobt.

Damit bekommt ihre Schreiblust bei der Rückkehr ins Internat eine ganz neue Richtung. Löwenstein ist der willkommene Adressat für einen heimlichen Briefwechsel, der von Theas Vater entdeckt, verboten und von den Verlobten heimlich fortgesetzt wird. Aus dem verbotenen Spiel wird plötzlich Ernst, als Löwenstein beim Weihnachtsbesuch um Theas Hand anhält. Vom Vater schroff zurückgewiesen, muss sich Thea schweren Herzens fügen, mag dabei aber auch eine gewisse Erleichterung empfunden haben. Jedenfalls stürzt sie sich noch einmal in das anregende Internatsleben mit den gleichaltrigen Mitschülerinnen. Neben ihrer literarischen Neigung entdeckt Thea bei den Malern der flämischen Schule ihre Begeisterung für die bildende Kunst. In der Verbindung zwischen individuellem Gefühlsausdruck, religiöser Inbrunst und verborgenem Symbolismus findet sie bei den frühen Niederländern genau die Mischung aus Gefühl, Geist und Intellekt, die sie ein Leben lang begeistern wird.

Theas Bildungshunger verdrängt ihren Liebeskummer und führt zu dem Wunsch, das Abitur machen zu dürfen. Da die Allgemeine Hochschulreife für deutsche Mädchen um 1900 nach wie vor die Ausnahme bildet, lehnt Georg Bauer das Ansinnen seiner Tochter ab. Noch immer steht Preußen Gymnasien für Mädchen ablehnend gegenüber, unterstützt aber ab 1893 die Errichtung aufbauender Oberlehrerinnen- oder Gymnasialkurse.[33] In der zunehmenden Diskussion um die Gleichberechtigung und Verbesserung der Bildungschancen für Mädchen und Frauen hat die bürgerliche Frauenbewegung mit ihren schnell wachsenden Frauenvereinen einen bedeutenden Anteil.[34] Im Jahr 1899, als Thea ihren Abiturwunsch äußert, wird in Köln gerade auf Initiative von Mathilde von Mevissen der »Verein Mädchengymnasium Köln« gegründet.[35] Die 1848 geborene Mathilde von Mevissen stammt wie Thea aus dem industriellen Großbürgertum Kölns und hat bis ins Erwachsenenalter unter ihrer mangelnden Bildung gelitten. Aus diesem Defizit heraus hat sie 1890 die Frauenbewegung für sich entdeckt und die Förderung der Mädchen- und Frauenbildung zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. Zwar gehört es in Köln schon bald »zum guten Ton, Mitglied des Vereins Mädchengymnasium zu sein«, jedoch zieht sich das Genehmigungsverfahren so lange hin, dass erst 1903 das erste humanistische Mädchengymnasium in Deutschland, zunächst auf Probe, gegründet wird.[36] Auch wenn diese Gründung für Theas Abiturwunsch zu spät kommt, hätte eine wohlhabende Bürgerstochter wie sie ohne Weiteres einen gymnasialen Aufbaukurs machen oder ihr Abitur auch im benachbarten Belgien, in Frankreich oder der Schweiz machen können, wo den Mädchen bereits seit den 1870er und 1880er Jahren die Allgemeine Hochschulreife und der Zugang zu den Universitäten offenstand.[37]

Für Theas Vater liegt diese Möglichkeit offenbar noch weitgehend außerhalb seines wie des allgemeinen Vorstellungshorizontes. Oder will er seine Tochter, wie diese mutmaßt, bewusst in Abhängigkeit halten? Vermutlich hätte er gut daran getan, Theas offenkundiger Begabung und Wissbegierde Ziel und Richtung zu geben. Stattdessen schürt seine rechthaberische Mitteilung, dass Löwenstein bereits um die Hand einer anderen jungen Dame angehalten habe und ebenfalls abgewiesen worden sei, Theas Widerspruchsgeist. Sie nimmt den heimlichen Briefwechsel mit ihrem Verlobten wieder auf, schwört ihm ewige Treue und wird abermals entdeckt. Diesmal fällt das väterliche Verbot ungleich deutlicher aus. In einem emotionalen Brief zeigt sich der Vater enttäuscht über den Vertrauensbruch und unterstellt dem Heiratskandidaten vor allem pekuniäre Motive, die seine unerfahrene Tochter noch nicht durchschauen könne. Diese Unterstellung trifft Thea an ihrer empfindlichsten Stelle, so dass sie darüber sogar die gleichzeitig eintreffende Nachricht vom Tod ihrer geliebten Großmutter Schwaben kaum zur Kenntnis nimmt. Ausgerechnet in diesem Moment geht für Thea nach knapp drei Jahren im Winter 1900 die Brüsseler Pensionatszeit zu Ende, so dass sie voll inneren Aufruhrs mit gerade siebzehn ins Elternhaus zurückkehren muss. Entsprechend aufgeladen muss man sich wohl die häusliche Stimmung vorstellen, die sich am Dreikönigstag 1901 in einer dramatischen Szene entlädt. Thea hat die sie zum Kirchgang begleitende Jungfer zu einem heimlichen Treffen mit Arthur Löwenstein überredet. Bei ihrer Rückkehr konfrontiert die Mutter sie mit einer Lutherbibel, die sie in Theas Zimmer gefunden hat und für ein Geschenk Löwensteins hält. Der heftige Wortwechsel gipfelt in der ersten Ohrfeige, die Thea je bekommen hat. Außer sich vor Wut stürzt sie sich auf die Mutter und erhält vom herbeieilenden Vater die nächste Ohrfeige. In ihrer Verzweiflung versucht Thea aus dem Fenster zu springen und verfällt, als man sie daran hindert, in einen Weinkrampf.

So marginal der Anlass des Streites gewesen ist, so nachhaltig erschüttert er Theas ohnehin getrübtes Verhältnis zu ihren Eltern. Von nun an herrscht eisiges Schweigen bei Tisch, den Thea gleich nach den Mahlzeiten verlässt, um sich in ihr Zimmer zurückzuziehen.

In dieser prekären Lage ist wieder einmal Hedwig Schaurtes Einladung, mit ihr und ihren vier Kindern die Sommerferien in Holland zu verbringen, die willkommene Rettung. Außer Ablenkung und Zerstreuung hat Thea nun die Mutterfreuden ihrer vergötterten Freundin täglich vor Augen, die ihr als verlockende Zukunftsvision erscheinen. Fern vom Elternhaus lassen sich weitere Briefwechsel und Treffen mit Löwenstein arrangieren, bei denen der Plan zu einer heimlichen Flucht und Heirat heranreift. Die letzten Zweifel hilft Hedwig Schaurte zu überwinden, die sich beim geschickt eingefädelten Kennenlernen von dem heimlichen Verlobten und den romantischen Fluchtplänen begeistern lässt. Kabale und Liebe übernehmen die Regie.

Wie alle großen Lebensentscheidungen ist auch diese für Thea mit einem literarischen Schlüsselerlebnis verbunden. Tolstois gerade in deutscher Übersetzung erschienener letzter Roman, Auferstehung, ist das erste Werk des russischen Dichters, das ihr zufällig in die Hände fällt und den Beginn einer lebenslangen Verehrung markiert.[38] Bei nachmittäglichen Ausflügen in die botanische Gartenanlage »Flora« liest sie ihrer Kusine Olga die Läuterungsgeschichte des adligen Gutsbesitzers Nechljudow vor, der als Geschworener vor Gericht über eine Prostituierte urteilen soll. Als dieser in der Angeklagten die von ihm in jungen Jahren verführte Katjuschka erkennt, fühlt er sich schuldig am Schicksal der zu Unrecht Verurteilten und folgt ihr in die Verbannung nach Sibirien. Das Motiv der selbstlosen Liebe als Wiedergutmachung und Pflicht berührt Thea zutiefst, da es ihr wie eine Bestätigung für ihren Entschluss gegen die väterliche Zurückweisung von Löwenstein als jüdischem Mitgiftjäger erscheint. Ist es nicht ihre heilige Pflicht, den Verlobten gegen die antisemitischen Vorwürfe ihres Vaters bedingungslos zu verteidigen? In diesem Tenor verfasst Thea, unterstützt von Hedwig Schaurte, einen ebenso radikalen wie pathetischen Abschiedsbrief an ihre Eltern:

»Ich bitte Euch um Verzeihung, weil ich Euch Kummer bereiten muß, nicht darum, weil ich fortgehe, denn das ist mein Muß und mein Wille. Ich habe mich nicht überreden lassen. Ich bin aus freien Stücken und mit meiner Liebe gegangen. Es ist gut, daß ich gegangen bin. Das war kein Leben mehr zu Haus, nicht für Euch und nicht für mich. Ich wußte mich jeder Freiheit beraubt, an allen Ecken und Enden beobachtet; das aber sind Dinge die sich nicht ertragen lassen. Auch hätte ich nicht länger unter Menschen leben können, die mir mein Liebstes und Bestes wegnehmen. Und das ist Euer Wille gewesen. Ihr sagtet, daß ihr mein Glück wolltet; mag sein; aber das Glück ist verschieden. […]

Ich fühle mich nicht schuldig, in nichts. Seine, meine Liebe ist rein, warum sollte sie nicht bestehen dürfen? Ihr habt mir Eure Zustimmung aus Gründen verweigert, die ich nicht begreifen kann. Weshalb solch kleinlichen Gründen das Glück zweier Menschen opfern? Man hat auch eine Pflicht gegen sich zu erfüllen, und diese Pflicht wird größer, wenn sich das Glück eines anderen Menschen damit einigt. […] Wenn er auch nur ein Jude ist, dieser Jude ist mir so wert geworden, daß ich alles für ihn ertragen könnte … […] Und noch eins: Ihr habt behauptet, es sei meinem Mann um Euer Geld zu tun. Ich darf nichts von Euch annehmen, auch wenn ich es wollte. Aber ich werde nichts wollen. […]«[39]

Mit diesem Abschiedsbrief, in dem sich die großen Lebensthemen von Freiheit, Glück, Liebe, Pflicht und Opferbereitschaft nicht ohne Pathos aneinanderreihen, beginnt für Thea ein völlig neuer Lebensabschnitt. Darin werden von nun an nicht mehr die elterliche Autorität und bürgerliche Wertvorstellungen, sondern künstlerische und christliche Ideale maßgeblich sein. Welche Rolle der männliche Besitzanspruch darin spielen wird, kann die Siebzehnjährige noch nicht ahnen.

Thea Sternheim - Chronistin der Moderne

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