Читать книгу Die dünne Frau - Dorothy Cannell - Страница 10

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»Man sollte meinen«, grollte Ben, »dass ein Haus dieser Größe sich eine Klingel leisten kann.«

»Geduld! Onkel Merlins Großvater, der Erbauer dieses mittelalterlichen Phantasiegebildes, hatte eine Abneigung gegen das Naheliegende.« Ich stapfte hinter ihm her durch den Matsch über das Schlossbrückchen und fühlte mich wie eine Tiefseetaucherin, die nach ihren Landbeinen sucht. »Irgendwo links von dir ist ein Wasserspeier, so ein Teufelskopf. Das ist der Türklopfer.«

»Das hier? Das habe ich für Fäulnisschwamm gehalten! Was mache ich damit? Knalle ich ihm eine?«

»Dummbeutel! Du reißt ihm die Zunge raus und guckst, wie er mit den Augen rollt.«

Ben zog eine Fratze und tat wie geheißen. Frierend traten wir von einem Bein aufs andere, während sich im Haus scheppernder Lärm erhob, als ginge ein Stapel Geschirr zu Bruch.

»Wer ist da?«, fragte eine misstrauische Stimme.

»Tante Sybil? Ich bin’s, Ellie!«

»Geh du vor«, sagte Ben wohlerzogen. »Falls du eins über den Schädel kriegst, kann ich Hilfe holen.«

Ein Riegel knarrte und ein fahler Lichtstreif wurde langsam breiter. »Meine Liebe! Wir hatten schon aufgegeben, auf dich zu warten. Onkel Merlin ist vor einer Stunde zu Bett gegangen.« Tante Sybil spähte kurzsichtig in die Nacht. »Und das ist sicher dein Bekannter. Kommt rein, bevor der Wind die Tür wegbläst. Guter Gott! Ihr seht ja aus …«

»Bitte«, Ben streckte meiner verwirrten Tante die Hand entgegen, »kleiden Sie es nicht in Worte. Wir wissen, dass wir aussehen wie wildernde Vampire.«

Inzwischen standen wir in der Empfangshalle, einer düsteren Höhle, von deren Wänden Gaslampen flackerndes Licht auf hungrig grinsende, mottenzerfressene Fuchsköpfe warfen.

»Ach du jemine.« Tante Sybil gab mir einen ihrer schlaffen Küsse. »Ein heißes Bad für jeden von euch wäre wohl das Beste, aber der Boiler macht uns Kummer. Der alte Jonas, unser Gärtner, der so was in Ordnung halten soll, fühlt sich elend. Ärgerlich, aber jedes Ding hat zwei … sonst hätte es uns passieren können, dass er sich mitsamt seinen dreckigen Stiefeln im Salon niederlässt, als gehörte er zur Familie. Kennt seinen Platz nicht und Merlin ist viel zu nachsichtig mit ihm. Tja dann, will einer von euch vorher nach oben« – sie machte eine Anstandspause – »oder kommt ihr lieber gleich in den Salon ans Kaminfeuer?«

Obwohl meine Besuche viele Jahre zurücklagen, erinnerte ich mich lebhaft an die grässliche Kälte in den oberen Regionen und stimmte für sofortige Wärme.

»Gute Idee«, meinte auch Ben, zog den Mantel aus und legte ihn mit meinem zu dem unordentlichen Haufen auf dem Intarsientisch. »Ich glaube, ich fange an zu schimmeln.«

»Merlin wird so enttäuscht sein, eure Ankunft versäumt zu haben.« Tante Sybil ging voran. Von hinten sah sie aus wie ein kleines empörtes Nashorn, ihr dunkles Seidenkleid warf verkniffene Falten. Schlechtes Wetter war bei Tante Sybil keine Entschuldigung für Unpünktlichkeit.

Als Kind hatte mich der Salon immer an eine Leichenhalle erinnert. Die Zeit hatte ihn nicht verschönt. Wie in der Halle flackerte trübes Licht von einer Gaslampe und vereinzelten Kerzen. Dunkle schwere Möbel ließen keinen Fußbreit Boden frei. Eine passende Zutat war auch das Gemälde über dem Kamin – ein holdes Mägdelein auf ihrem Totenbett, die Lippen zu einem Lächeln verklärt, in der wächsernen Hand eine Rose, während im Hintergrund ein Klagechor schluchzte. Meine Verwandtschaft hatte sich im Halbkreis um den Kamin drapiert wie Schauspieler in einem viktorianischen Melodrama. Aber es war genau andersrum. Sie waren das Publikum – die Akteure waren Ben und ich.

»Großer Gott, Ellie!«, näselte Tante Astrid so steif wie ihre Fischbein-verstärkte Taftbluse. »Was hast du mit dir angestellt?«

»Sieht aus wie eine übergroße ertrunkene Ratte«, steuerte Freddy wenig einfühlsam bei. Der musste reden! Wie er sich am Kaminsims lümmelte, hätte man ihn mit einem schmutzigen Lappen verwechseln können, wäre nicht der goldene Totenkopf an seinem Ohrläppchen gewesen.

Ich beschloss, das Verfahren abzukürzen. »Schön!«, sagte ich und zerrte Ben in die Mitte des Zimmers. »Wie ihr seht, bin ich völlig durchgeweicht, aber leider in der Wäsche nicht eingegangen. Können wir jetzt artig Guten Tag sagen?«

»Musst du so streitlustig sein, Schatz!« Vanessa ringelte sich wie drei Ellen Fallschirmseide aus dem Stuhl empor, der dem Feuer am nächsten stand, und richtete ihre strahlenden Topasaugen auf Ben, der zu seiner Schande dümmlich griente. »Willst du uns nicht deinen reizenden Freund vorstellen?«, schmollte sie. »Oder ziehe ich voreilige Schlüsse? Sogar pitschnass ist er nicht dein üblicher Typ, Ellie, Liebes.«

Da der einzige Mann, mit dem Vanessa mich bislang gesehen hatte, der Gepäckträger von Charing Cross war, beschloss ich, mich in würdiges Schweigen zu hüllen. Sollte Ben sich doch selber vorstellen. Er schien ganz glücklich, Konversation machen zu dürfen. Reihum Hände schüttelnd pflichtete er bei, dass das Wetter abscheulich sei, und schwang dann wie ein Pendel zurück zu meiner bildhübschen und charakterlosen Cousine. Ben brauchte sehr bald einen Rüffel, denn Ranschmeiße an den Feind stand nicht in seinem Vertrag.

Mein Retter war der leutselige, beleibte Onkel Maurice. Er langte nach der Karaffe mit Portwein, goss welchen in ein reichlich schmutziges Glas und fragte dabei mit seiner Stentorstimme, ob er mich nun seit zwei oder seit drei Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich hörte nicht zu. Der Mann von der Kultivierten Herrenbegleitung lieferte einen witzigen Bericht von unserer Reise, in dem ich keine gute Figur machte. Vanessa kann als vorzügliche Zuhörerin posieren, vorausgesetzt, ein Mann ist der Redner.

Das Feuer spie wie ein müder alter Vulkan mehr Rauch als Wärme aus. Aber da er sehr dicht davor stand, begannen Bens Hosenbeine zu dampfen und – dem Glimmen seiner Augen nach – seine Gedanken gleichfalls. Tante Sybil murmelte gequält etwas von Roastbeef-Schnittchen und Tee und verfügte sich in die Küche, wobei sie die Tür nur anlehnte.

»Diese Zugluft«, erschauerte Tante Astrid, »ist noch mal mein Tod.«

»Hab dich nicht so, Tantchen!« Freddy war in die Hocke gegangen und wippte auf den Fußsohlen. »Wenn dein Ischias, dein Hexenschuss, dein Sodbrennen und andere ausgewählte Leiden dich noch nicht zur Strecke gebracht haben, dann wird eine Verkühlung es kaum schaffen. Hat Mami nicht letzten Monat erzählt, du hättest so hässliche Hämorrhoiden?«

»Musst du so ordinär sein!« Tante Astrid richtete sich empört auf.

»Entschuldigung, Tantchen! Hatte ganz vergessen, wie schlecht es sich darauf sitzt«, erwiderte Freddy fröhlich, während er mit beiden Händen an seinen Bartbüscheln zupfte.

»Herrgott noch mal, Frederick«, bellte Onkel Maurice, »hör auf, an dir rumzurupfen. Man könnte meinen, du bist in der Mauser. Und wenn es nicht zu viel verlangt ist, dann steh entweder auf oder setz dich ordentlich hin. Hör auf, herumzuhopsen wie ein Springteufelchen! Du machst mich seekrank.«

Freddy stand auf, zeigte aber keine Reue. Er stupste mich schelmisch in den Bauch. »Schon mal versucht abzunehmen, Ellie?«

»Schon mal versucht, Arbeit zu finden, Freddy?«

Er schaute mich vorwurfsvoll an. »Certainement! Aber die Arbeitgeber sind nie bereit, meine Bedingungen zu akzeptieren – ich arbeite von zwölf bis eins mit einer Stunde Mittagspause.«

»Welch großer Kummer muss dein Sohn und Erbe für dich sein, Maurice, und für unsere arme Lulu«, warf Tante Astrid bissig ein.

»Da wir von der liebenden Mutter sprechen«, sagte ich und blickte in die Runde, »wo ist Tante Lulu?«

»Oben, scheucht Wanzen durchs Zimmer, um sich abzuregen. Das alte Mädchen hat wieder mal Zustände.« Freddy rollte mit den Augen und pochte sich dumpf an die Brust. »Wie du unschwer erraten kannst, natürlich meinetwegen. Vanessa hat mich wieder mal in den Schatten gestellt, die Zähne sollen ihr verfaulen. Da berichtet sie deinem Galan gerade von ihrem letzten Coup. Mutter konnte es einfach nicht ertragen.«

»Lulu ist mit Migräne zu Bett gegangen«, schnaubte Onkel Maurice. Aber niemand beachtete ihn.

»Wie lautet die Sensationsmeldung, Vanessa?« Meine Stimme sollte teilnehmende Neugier ausdrücken, aber ich bin keine gute Schauspielerin. Wollte denn niemand hören, dass ich kürzlich Mrs. Hermione Boggsworth-Smith ein dänisches Sonnenstudio eingerichtet hatte?

»Ach, Mami, musstest du das ausplaudern? Du weißt doch, ich mag keinen Rummel.« Die schöne Heuchlerin sank auf die Sofalehne. Sie hob die wohlgeformten Arme über den Kopf und ließ ihre langen, schlanken Finger in einer zaghaften und zugleich betörenden Geste durch ihre schweren kastanienbraunen Locken gleiten.

»Lügnerin.« Freddy sprach fröhlich aus, was ich dachte.

Tante Astrids und (schlimmer noch) Bens Augen hingen mit einer Ergebenheit an Vanessa, wie sie nur Götzenbildern oder Goldenen Kälbern zukommt. Apropos Rindvieh, wo blieben eigentlich die Roastbeef-Schnittchen?

»Vanessa«, psalmodierte Tante Astrid, »ist in aller Form gebeten worden, Model bei Felini Senghini zu werden.«

»Bei wem?«, krächzte ich über Freddys Gelächter hinweg.

Bens entgeisterter Gesichtsausdruck gab mir zu verstehen, dass er mich für ein öffentliches Ärgernis erster Ordnung hielt. »Ellie, du machst wohl Witze! Von Felini Senghini hat nun wirklich jeder gehört!«

»Auf leeren Magen mache ich nie Witze.« Meine Stimme schwoll bedrohlich, aber ich besann mich darauf, dass dieser Mann angeblich mein Herzallerliebster war, hakte ihn besitzergreifend unter und entblößte die Zähne zu einem freundlichen Lächeln. »Ist das der Mann mit dem Olivenölteint auf den Spaghettipackungen?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Nein, ich weiß! Das ist der Opernsänger, der den Figaro zur Begeisterung des Publikums nur in Schnurrbart und Krawatte sang.«

Wie ihr großes Vorbild Königin Viktoria war Tante Astrid nicht belustigt. Über Vanessa und deren Karriere wurden keine Witze gerissen. »Es muss schwer für dich sein, Ellie, eine Cousine wie Vanessa zu haben«, schnarrte sie und schaute dabei über mich hinweg, »aber Gehässigkeit ist nie kleidsam.«

Freddy zwinkerte mir zu. »Ich mag Ellie, wenn sie kiebig ist. Nicht kleidsam ist dieser scheußliche rote Aufzug. Bist du aus einem Harem entsprungen oder ist der Scheich als Erster geflohen?«

Tante Astrid redete über uns hinweg. »Felini Senghini gilt unter Eingeweihten als der Modeschöpfer des Jahrhunderts.«

»Ellie, meine Liebe«, miaute Vanessa, »willst du mir nicht gratulieren?«

Diese Zumutung wurde mir erspart durch die Ankunft von Tante Sybil mit dem Abendbrottablett. Einen freien Platz dafür aufzutreiben, erforderte einige Findigkeit. Ben eilte zu Hilfe und schob auf dem Büfett zwei Messingleuchter und eine angelaufene Silberschale voll mit Haarnadeln, Zuckerwürfeln und einem grauen Wollknäuel beiseite.

»Was ist denn los mit dir?«, hauchte er mir ins Ohr. »Ich fange an, mich zu amüsieren.«

»Gewöhn dir das nicht an«, zischte ich zurück.

»Soll heißen?«

»Soll heißen, wenn du nicht aufhörst, dich an Vanessa ranzuschmeißen, kannst du deinem Honorar Ade sagen.«

Ben besaß die Frechheit, ein erstauntes Gesicht zu machen. Bevor er antworten konnte, schlich sich Freddy von hinten an. »Reden wir ein bisschen über euch zwei, alle blutrünstigen Einzelheiten – wo ihr euch kennengelernt habt und so.«

Ben und ich schauten uns an, für den Augenblick einte uns ein labiler Waffenstillstand. »Wo war das, Ellie?«, murmelte mein Mitverschwörer, den Mund voll altbackenem Sandwich. »Wir kennen uns … schon eine Weile, und das Drum und Dran … die Einzelheiten sind recht …«

Und dieser Mann wollte ein schöpferisches Genie sein!

»Ball der Einsamen Herzen?«, schlug Freddy vor.

Ich trat Ben fest auf den Fuß und signalisierte ihm, dass er das Fabulieren mir überlassen sollte. Er stöhnte kurz auf, vor Erleichterung oder auch vor Schmerz, denn seine Augen waren etwas glasig, als ich seelenvoll hochblickte. Zur Beruhigung drückte ich ihm noch zärtlich die Hand, was ein leises Autsch auslöste und ein Aufblitzen der weißen Zähne, das er Freddy zuliebe hastig in ein strahlendes Lächeln umwandelte.

»Ben leidet durchaus nicht an Gedächtnisschwund«, sagte ich, »aber unsere erste Begegnung fand unter recht traurigen Umständen statt. Nämlich auf einer Protestversammlung gegen Kindesmisshandlung vor der Halleluja-Erweckungskirche.«

»In der Kirche!« Tante Sybil reichte mir einen Krug mit lauwarmem Wasser, um darin die Kaffeekanne aufzuwärmen. »Wie hübsch. Das ist doch mal etwas anderes als diese Discos und Single-Bars. Welcher Konfession gehören Sie an, Mr. Händel?«

»Haskell. Gläubiger Ath–«

»Jedes Kind sollte im Glauben erzogen werden«, mischte sich Tante Astrid gewichtig ein und gab Ben zu verstehen, dass sie nicht beeindruckt war. »Warum kann nicht jeder in der Anglikanischen Kirche sein? Was der Königin gut genug ist, ist es mir allemal!«

Ich vermied sorgfältig, Ben anzuschauen. »Tante Sybil«, fragte ich, »wann werden wir Onkel Merlin sehen?«

»Wahrscheinlich nicht vor morgen Abend.« Tante Sybil versuchte, drei Leute gleichzeitig mit Kaffee zu versorgen. »Ihr jungen Leute müsst bedenken, dass der arme Merlin nicht jünger wird.«

»Nicht gerade ungewöhnlich«, murmelte Freddy.

Glücklicherweise bekam Tante Sybil diesen ruppigen Kommentar nicht mit. Sie fuhr fort: »Der Morgen macht ihm immer zu schaffen. Er sagt, das Licht tut seinen Augen weh.«

»Verwandelt sich allmählich in Dracula, was?«, witzelte mein unverbesserlicher Vetter. Er und Ben grinsten sich zu wie ungezogene Schuljungs.

»Ist das die Erklärung für das funzlige Licht überall?« Onkel Maurice ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, schweren Schrittes auf dem abgewetzten Kaminvorleger auf und ab.

»Es tut mir leid, wenn du das Gaslicht bedrückend findest.« Tante Sybil sah tief verletzt aus, als sie sich der Gruppe um den Kaminvorleger zugesellte.

Ben bot sein charmantestes Lächeln dar. »Ist eine Sicherung durchgebrannt? In einem alten Haus, das so einsam liegt, und bei dem Schneesturm würde mich das nicht wundern.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme, Mr. Hamlet. Aber wir leiden keineswegs unter Strommangel. Wie ich schon sagte, mag Merlin kein helles Licht; aber der Grund, weshalb er auf dieser Etage keinen Strom benutzt, ist völlig selbstlos. Er mag etwas abgeschieden leben, aber er liest Zeitungen – nicht diese grauenhaften Skandalblätter, die Partnertausch und Geschlechtsumwandlungen herausposaunen, sondern die Times und den Telegraph. Und Merlin meint, auch er müsse einen Beitrag zur Bekämpfung der Energiekrise leisten.«

»Kokolores!«, donnerte Onkel Maurice. »Da bin ich anderer Meinung.«

Ben wandte sich um und betrachtete ihn kühl. »Ich finde, der Mann verdient Respekt.«

»Selbstaufopferung ist schön und gut«, schaltete sich Tante Astrid ein, als hätte sie selbstverständlich das letzte Wort zu diesem Thema, »solange sie nicht fanatisch wird. Wenn Weltraumraketen hin- und hersausen wie Fernlaster, dann besitzt hoffentlich niemand die Unverfrorenheit, von mir den Verzicht auf alles zu verlangen, was zum Leben einer Dame gehört.«

»Keine Sorge, Tantchen«, tröstete Freddy, »die Zeiten des Außenklos sind lange vorbei.«

»Müssen denn alle meckern?« Vanessa sprach zum ersten Mal seit langem. (Ohne Zweifel braucht es angestrengte Konzentration, um stundenlang hinreißend auszusehen.) »Ich hatte mir vorgestellt, wir verbringen alle ein himmlisches Wochenende miteinander.« Sie befeuchtete ihre schimmernden Lippen und bedachte Ben mit einem verführerischen Augenaufschlag.

»Ich meckere nicht«, sagte ich griesgrämig. »Das trübe Licht stört mich nicht. Ich mag es sogar.«

»Natürlich!«, schnurrte Vanessa. »So sehen wir nur die Hälfte von dir.«

Schweigen verdickte die Luft, und etwas Düsteres und Finsteres ergriff Besitz von meinem Hirn. »Ach ja? Deshalb muss wohl Ben gesagt haben, er könne gar nicht genug von mir kriegen, als er mir in einer Mondnacht einen Heiratsantrag gemacht hat. Oh, Liebling, tut mir leid.« Ich wandte mich zu meinem neuen Verlobten und senkte entschuldigend meine verkümmerten Wimpern. »Ich weiß, wir wollten mit der entzückenden Neuigkeit warten, bis Onkel Merlin hier ist, aber ich konnte nicht widerstehen. Will uns niemand gratulieren?«

»Du willst heiraten?«, tönte Tante Astrid, als hätte ich ein heiliges Sakrament obszön entweiht. Der Rest war erstarrt. Meine Verwandten sahen mit ihren offenen Mäulern herzlich komisch aus. Ich wollte schon lachen, da sah ich Bens Gesicht. Richtig schade, dass ihm das keinen Spaß machte. Schließlich bekommt man nicht alle Tage eine neue Verlobte, noch dazu, ohne zu fragen.

»Ach, das ist hübsch«, sagte Tante Sybil. »Ich selber war ja nie sehr aufs Heiraten aus, aber heutzutage, wo man sich ohne Weiteres scheiden lassen kann, ist natürlich alles viel einfacher. Und jetzt sind wir alle müde, also gute Nacht. Ihr müsst jeder eine Kerze mitnehmen, damit ihr die Treppe rauffindet. Rechts vom Treppenabsatz ist ein Lichtschalter. Ich sehe euch dann morgen früh.«

»Die Klasse kann abtreten!«, wisperte Freddy und langte nach der größten Kerze. Zweifellos die Macht der Gewohnheit; als Kind hatte er sich immer das Kuchenstück mit der Kirsche drauf geschnappt. Das, das ich haben wollte. An der Tür wandte ich mich um, ob Ben mir wohl folgte, um mir, sobald wir allein waren, den Hals umzudrehen, aber er sagte gerade Vanessa ausführlich Gute Nacht. Wären ihre Kerzen sich noch näher gekommen, wären beide in Flammen aufgegangen. Unter dünnem Gemurmel verspäteter Glückwünsche ging ich verzagt in die Empfangshalle und stieß prompt mit Onkel Maurice zusammen, der mir an der Treppe aufgelauert hatte. Er stellte unsere Kerzen auf ein Marmortischchen und umklammerte meine Hände mit seinen feuchten und schwammigen Fingern. Sein Gesicht hing dicht über meinem. Ich konnte seine Pomade riechen und seinen heißen, portweingeschwängerten Atem.

»Meine liebe Ellie«, sagte er, »verzeih einem alten Trottel, dass er dich so abfängt, aber da dein Vater am anderen Ende der Welt Schafe scheucht, brauchst du, meine ich, Rat und Zuwendung eines erfahrenen Mannes von Welt. Ist diese plötzliche Verlobung klug? Eine Frau von deinen herausragenden Qualitäten hat etwas Besseres verdient als diesen Mr. Haskell. Irgendwas an dem Burschen kommt mir komisch vor. Hat was von einem Araber, würde ich sagen.«

»Ach komm, Onkel, glaubst du, er wird seine Kerze fallen lassen und das Haus abbrennen, damit er das Grundstück billig aufkaufen kann?« Ben war ein Windhund, der für die Lockungen von Vanessas Fleisch nur allzu anfällig war, aber eine von uns beiden musste unserer Beziehung treu bleiben.

»Na, na, Ellie.« Onkel Maurice drückte mir wieder die Hände und gluckste tadelnd, in seine hervorquellenden Augen trat ein Glitzern. »Meinst du nicht, meine Liebe, dass du Maurice zu mir sagen kannst? ›Onkel‹ in meinen Jahren, da kommt man sich direkt alt vor. Außerdem ist es lediglich eine Höflichkeitsanrede. Wir sind nur ganz entfernt miteinander verwandt. Deine Mutter war Merlins was, Cousine zweiten Grades?«

»Irgend so was«, sagte ich und überlegte, wie ich die Flucht antreten konnte.

Onkel Maurice bekam offenbar Schwierigkeiten mit der Atmung. »Ellie«, keuchte er und kam mir noch näher. Ich konnte seine Westenknöpfe durch die rote Seide spüren. »Ein paar von meinen Freunden sagen Maury zu mir.«

Bevor ich mit »Ach ja?« antworten konnte, ging die Tür zum Salon auf und Ben kam mit Vanessa heraus, die an seinem Arm hing. Leicht betreten rückte er von ihr ab.

»Da bist du ja, Liebling«, sagte ich. »Hast du Vanessa gesagt, dass ich sie als Brautjungfer möchte?«

Meine Cousine erbleichte, Onkel Maurice ließ meine Hände los und verdrückte sich zur Treppe. Nicht ganz so gelassen wie sonst ergriff er seine Kerze und wünschte uns Gute Nacht. Vanessa rankte sich graziös hinter ihm die Treppe hoch.

Als sie fort waren, sagte Ben: »Starr mich nicht so an. Schließlich musste ich höflich zu dem Mädel sein. Mrs. Swabuchers Anweisungen waren, deine Verwandtschaft mit meinem umgänglichen Wesen zu bezaubern. Worauf sie mich nicht vorbereitet hat, ist die Verlobung, in die ich plötzlich geraten bin.«

»Mach dir keine Sorgen.« Ich zuckte die Achseln. »Sie muss nicht vollzogen werden.«

»Nichts, was mit Heiraten zu tun hat, ist komisch.«

»Quatsch. Niemand wird dich in Handschellen vor den Altar schleppen. Nur eine unschuldige Schwindelei. Außerdem hast du es dir selber zuzuschreiben, so wie du bei Vanessas Anblick zu sabbern anfingst. Das gehörte nicht zu unserer Abmachung.«

»Weißt du, was du bist?« Ben zog so heftig an seinem Schlips, dass er zu ersticken drohte. Sein Gesicht wurde zinnoberrot. »Eine Plage! Schon als ich dich zum ersten Mal sah, ein Taifun in einem roten Leichenhemd, war mir das klar, und seitdem bist du ein einziger Alptraum. Dir traue ich zu, dass du mich als Heiratsschwindler vor Gericht bringst, wenn ich unsere erfundene Verlobung löse.«

»Das bist du nicht wert.« Ich ging zur Treppe. »Du hast nicht das Geld, um mich in Versuchung zu bringen.«

»Und noch etwas«, fuhr er in meinem Rücken fort. »Ich verstehe nicht, warum du so ein Theater machst. Sie sieht phantastisch aus, aber ansonsten ist deine Cousine Vanessa eine Null. Eine Unterhaltung mit ihr ist eine Strafe. Ich konnte dabei nur an eins denken – an mein Bett.«

»Was sonst?«, sagte ich.

»Gute Nacht, meine Lieben«, rief Tante Sybil von unten; es sollte sanft, aber endgültig klingen. Sie hatte mir unsere Schlafzimmer zugewiesen, so konnte ich Ben informieren, dass seine Tür die vorletzte auf der linken Seite war. »Nicht die letzte«, warnte ich ihn. »Das ist der Speiseaufzug. Der wurde vor Jahren eingebaut, um Mahlzeiten aus der Küche nach oben zu befördern.«

»Ein Ort, den ich lieber nicht aufsuchen möchte.« Ben schüttelte sich. »Nach dem Fraß heute Abend sehe ich sie vor mir: Spinnweben an der Decke, Schleim an den Wänden, und in einem Bottich mit Brühe schwimmt der Butler mit dem Gesicht nach unten.«

»Unsinn! Der ging schon vor Jahren in Pension. Entweder weigert sich Onkel Merlin, Geld für Personal auszugeben, oder die haben Angst, hier zu arbeiten.« Wenn ich auf einen zärtlichen Abschied gehofft hatte, dann stand mir eine herbe Enttäuschung bevor. Ben gab mir einen soldatischen Klaps auf die Schulter, erklärte, dass er kein Frühaufsteher sei, und entschwand den Korridor entlang.

Mein Schlafzimmer war kein heiterer Ort. Arger Schüttelfrost schien es zu plagen, denn die Wände schwitzten in großen Flecken durch die schimmelfarbene Tapete. Die Decken auf dem großen Himmelbett stanken vor Alter und das nervöse Feuerchen zischte und stotterte im Kamin, aber unternahm nichts, um die Kälte zu vertreiben. Zum Glück hatte ich in weiser Voraussicht meinen wollenen Schlafanzug mit den integrierten Bettsöckchen eingepackt. Dieser Gedanke tröstete mich, bis mir einfiel, dass er sicher in meinem Koffer verstaut war, der immer noch in Bens Auto lag.

Zitternd zog ich mich bis auf BH und Unterwäsche aus, hängte das rote Ungetüm über einen Stuhl, den ich so platzierte, dass er jeden kleinsten Wärmestrahl des mürrischen Feuers abfangen konnte, und kroch wie ein gehäuteter Eisbär zwischen die verflohten Laken. Vom Bett aus konnte ich den Lichtschalter erreichen. Das Zimmer versank in Finsternis, aber der Schlaf tänzelte wie eine rüstige alte Elfe außerhalb meiner Reichweite. Ich traute mich nicht, die Beine ganz auszustrecken, falls etwas Weiches, Pelziges im Bett nistete. Die Ereignisse des Tages drängelten und knufften sich in meinem Kopf, aber aus dem Chaos kam eine Erkenntnis: Ben hatte zwar meinen Erwartungen an das Betragen eines Mannes von der Kultivierten Herrenbegleitung überhaupt nicht entsprochen, aber ich fühlte mich, kaum dass wir uns fünf Minuten gezankt hatten, in seiner Gesellschaft ausgesprochen wohl. Statt Schafe zu zählen, spielte ich mein Lieblingsspiel: Was, wenn? Was, wenn ich schlank bis zur Magersucht wäre und völlig erhaben über Cremetorte, Yorkshirepudding und große, flockige Klöße in dicker Soße? Ach zum Teufel! Bei solchem Festschmaus, wer braucht da Männer!

Vor meiner Tür waren leise Schritte zu hören. Die Klinke bewegte sich ächzend. Ben? Essen konnte ich auch noch morgen; Nahrung gab es immer, wohingegen … Er tapste durchs Zimmer. Es krachte und ein erstickter Aufschrei verriet mir, dass er Kopf voran Bekanntschaft mit dem Kleiderschrank gemacht hatte. Mein Herz hämmerte gegen die Rippen und meine Temperatur ging rauf und runter wie ein Kaufhausfahrstuhl. »Schrei!«, rieten mir Anstand und Vernunft. »Damit du in ewiger Unwissenheit stirbst?«, fragte deren Widerpart. Seine Hand war auf der Bettdecke, Zentimeter von meinem entblößten Fleisch. Die Decke hob sich. Ich spürte ein pyjamabehostes Bein an meinem. Dann war alles vorbei. Meine Hand fand den Lichtschalter und das Zimmer erwachte blinzelnd.

Ich drehte mich um, Ben mit empörtem, aber dankbarem Blick zu durchbohren.

»Onkel Maurice?«, bebte ich und zerrte mir die Bettdecke um den Hals. »Kannst du mir erklären, was das soll? Ich zähle bis zehn, dann schreie ich.«

Die dünne Frau

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