Читать книгу Die dünne Frau - Dorothy Cannell - Страница 11

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Ich hätte wissen müssen, dass ein Mann, der mitten in der Nacht in mein Zimmer schlich, nur eine verirrte Seele auf dem Heimweg vom Badezimmer sein konnte. Onkel Maurice, der in seinem lavendelfarbenen Flanellschlafanzug ziemlich lächerlich aussah, entschuldigte sich vielmals für die Störung und flehte mich an, Tante Lulu nichts davon zu sagen. Sie würde sich fürchterlich aufregen, wenn sie erführe, dass er bei mir hereingeplatzt sei und meine Nachtruhe gestört habe. Ich schwor, meine Lippen seien versiegelt, und knipste das Licht aus. Nun aber schlafen.

Ein Geräusch weckte mich, ein bedrohliches Knurren. Ich schreckte hoch, verschlafen und überhaupt nicht aufgelegt, mitternächtliche Vagabunden zu empfangen. Noch ein falscher Alarm: Der Lärm entsprang meinem knurrenden Magen und gemahnte mich, dass es Zeit war für mein Lieblingsrendezvous – nur wir zwei ganz allein – ich und Essen. Ich versuchte, stark zu sein. Ich ermahnte mich, dass es mehr als gierig war – geradezu diebisch, nachts um zwei die Treppen hinunterzustapfen und Tante Sybils Küche zu überfallen. Mir juckte die Nase. Staub! Nahm Tante Sybil je ein Staubtuch in die Hand, lüftete sie je die Betten, kochte sie je eine anständige Mahlzeit? Mein Groll wuchs. Diese popligen Schnittchen! Und auch noch altbacken! Was für eine Mahlzeit für Menschen, die gerade einem sibirischen Schneesturm entronnen waren! Außerdem hatten Freddy und Ben die meisten verdrückt! Ich klopfte energisch das Kissen auf und genoss meinen Zorn. Wenn Tantchen nicht kochen konnte, was war schon dabei, vom Bäcker ein paar Bratwürstchen im Schlafrock zu holen und vielleicht noch Blätterteigpasteten? Mein Magen fluchte und jubelte abwechselnd. Jedenfalls schien er entschlossen, mir keine Ruhe zu gönnen.

Eine Lichtspirale erhellte das ansonsten dunkle Zimmer: Mondlicht, vom Schnee zurückgeworfen. Diese Beleuchtung reichte zum Ablesen der Uhr. Halb drei. Noch Stunden bis zum Frühstück, und ich setzte in dieses Mahl keine großen Hoffnungen. Klumpiges Porridge und kalter Tee waren keine ausreichende Ernährung für eine Frau im Wachstum. Ich kletterte aus dem Bett und fröstelte in der kalten Luft. Das Feuer hatte längst den Geist aufgegeben, und es wunderte mich nicht, dass das rote Ungetüm immer noch eher nass als feucht war. Was sollte ich anziehen? In meiner Unterwäsche die Treppe hinabzusteigen kam nicht in Frage. Es gab keine größere Pein, als von Ben in Taillen-BH und Schnürkorsett erwischt zu werden. Ich tappte im Mondlicht umher und fand den Kleiderschrank. Sein Inneres stank nach Mottenkugeln und alten Zeitungen, enthielt aber nichts außer einem Paar Knöpfstiefel und einem Federhut, den ich zuerst für einen toten Vogel hielt. Das reichte nicht, um mich zu bedecken. Meine Hand ertastete auf einer Seite ein Bord, und meine Suche wurde belohnt. Unter einer Staubschicht lag etwas, das sich als Tagesdecke entpuppte. Sie schien aus Chenille und gottlob für ein Doppelbett gedacht.

Vorsichtig öffnete ich meine Tür und spähte in den Flur. Mehrere Fenster, besonders ein großes mit farbigem Glas oberhalb der Treppe, warfen unheilvolle Schatten, die an den Wänden entlangkrochen. Nur die Aussicht auf heißen Toast mit Butter und eine anständige Tasse Tee trieben mich voran. Eine der ermutigenden Theorien über schwere Leute besagt, dass ihr Schritt leicht ist. Ich hoffte inständig, dass sie stimmte. Den schmalen Läufer hatte ich überquert und musste nun die Treppe in Angriff nehmen. Meine Toga verrutschte und ich steckte sie wieder zusammen. Ich kam mir vor wie ein Ozeanriese, der in flaches Gewässer vom Stapel läuft. Also schön sachte!

Die Küchentür schüttelte sich und schwang nach innen auf. Mit dem ersten Griff fand ich den Lichtschalter. Die schwache Birne gab wenig Licht. Der Rest des Hauses mochte deprimierend sein, die Küche war schlimmer. Schmuddeliges graues Linoleum und lachsrosa Wände. Wenig hilfreich war auch die Versammlung altersschwacher Küchenschränke, denen fast alle Farbe und etliche Türen fehlten. Das Gewirr angelaufener Kupferleitungen, das vom altmodischen Boiler die Wände hochlief, hing voller schmieriger Wischlappen und fleckiger Geschirrhandtücher. Ob Tante Sybil sie manchmal verwechselte? Selbst jemand mit geringen hausfraulichen Instinkten musste sich hier ekeln. Ich betrachtete den Raum aber auch mit professionellem Blick. Ausmaße und Proportionen der Küche waren gut, auch die Fenster waren groß und gingen nach Süden. Unter dem ekelhaften Linoleum befand sich wahrscheinlich ein Steinfußboden. Schon stellte ich mir die Küche vor, wie sie hätte sein können, mit marineblauem Herd, zu warmem Glanz polierten Kupferpfannen, vielen Grünpflanzen, die die Vorhänge ersetzten, und einer cremefarbenen Tapete mit marienblauen und korallenroten Akzenten.

Die Vision entschwand und ich starrte auf Berge schmutzigen Geschirrs, die den Tisch, das Ablaufbrett und andere Flächen bedeckten. Kein Wunder, dass Onkel Merlin gedämpftes Licht wollte.

Ich bin nicht dafür, per Gesetz vorzuschreiben, dass jeder Haushalt vollkommen steril zu sein hat. Tobias hatte mein Sofa zerfetzt und manchmal machte ich eine Woche lang nicht das Bett. Aber dieser Dreck war unerträglich. Gott sei Dank war der Boiler noch heiß. Ich kramte tapfer in den Spinnweben unter dem Ausguss und fand einen aufgeweichten Karton mit einer Dose feuchtem Scheuerpulver und einer Schachtel Seifenflocken. Damit musste es gehen. Geschirrspülmittel stand offenbar nicht auf Tante Sybils Liste lebensnotwendiger Dinge. Ich hievte meine Bettdecke hoch, band sie im Genick zu einem dicken Knoten, beschwor sie, nicht runterzurutschen, und machte mich daran, den Unrat aus dem Ausguss zu graben.

Zwei Stunden später war das Geschirr gespült, getrocknet und möglichst ordentlich in die Schränke gestellt. Der Tisch hatte recht gut auf das Schrubben angesprochen. Die Hälfte der Farbe war dabei abgeblättert, aber was darunter zum Vorschein kam, sah sauber aus. Ich füllte einen Eimer mit heißem Wasser, goss eine ganze Flasche Bleichmittel (so alt, dass der Deckel völlig zerfressen war) hinein, nahm mit den Fingerspitzen die Lappen von den Leitungen und sah zu, wie sie in den Dämpfen versanken.

Ich unterdrückte ein Gähnen und plinkerte ein paarmal heftig, um meine Augen daran zu erinnern, dass ich noch wach war. Wie wollte ich Tante Sybil meine Einmischung erklären? Vielleicht würde sie ja denken, die Heinzelmännchen seien da gewesen. Ich verbiss mir noch ein Gähnen, füllte den Wasserkessel, stellte ihn auf den frisch gescheuerten Herd und zündete das Gas an. Endlich kam ich dazu, die Märchentür zu öffnen.

Die Speisekammer war wiederum ein Raum, der altmodischen Charme hätte ausstrahlen sollen. Ihre Marmorborde waren für Schinken und Käselaibe gebaut worden, für Schweinesülzen und -pasteten. Sie hätte Düfte verströmen sollen, die von kulinarischen Köstlichkeiten kündeten. Die Wahrheit war, sie stank. Geruch von ranzigem Fett mischte sich mit Gestank von verdorbenem Fleisch und Mäusekötteln. Überall lagen Krümel, und verschüttete Milch war zu einer gelben Kruste angetrocknet. Bis auf ein halb verzehrtes Huhn, eine Schüssel mit sauer gewordenem Pudding und einen Korb mit keimenden Kartoffeln war sie wie die Speisekammer der Eltern von Hänsel und Gretel – leer.

Ich fand den Brotkasten. Er war aus Metall mit einem gut schließenden Deckel, also entnahm ich ihm ohne allzu großes Misstrauen ein Brot, ging hinaus und schloss hinter mir die Tür. Der Kessel pfiff, ein gellendes Schrillen, bei dem mir einfiel, dass ich noch den Tee finden musste. Es schien den Kessel zu ärgern, dass ich seinem Ruf nicht sofort folgte, denn das Geräusch wurde tiefer, ein bedrohliches Gepolter, das die Kasserollen auf dem Brett über dem Herd tanzen und die Tassen auf ihren Haken unter den Schränken klingeln ließ. Ziemlich viel Getöse für einen Kessel. Eher wie von einer Dampflok! Ich drehte das Gas ab, der Lärm ging noch ein Weilchen weiter, ehe er sich legte. Donnergrollen? Aber der Streifen Himmel, den das Küchenfenster freigab, war recht klar. Wahrscheinlich kam der Krach vom Heißwasserbehälter, der sich wieder aufgefüllt hatte. Wo war die Teedose?

Zurück in die Speisekammer. Ich öffnete die Tür, mir war, als bewegte sich etwas. Mäuse? Ich mochte sie zwar nicht, aber wenn ich nicht endlich meine Tasse Tee bekam … Eine Gestalt wuchs aus den Schatten; mit ausgestreckten Armen und flatterndem weißem Gewand kam sie langsam auf mich zu. Der Geist von Merlins Schloss! Mein Schrei endete in einem Quieken, über das jede Maus sich scheckig gelacht hätte. Ich vermochte nicht, das Gesicht der Erscheinung zu erkennen, denn eine weiße Zipfelmütze bedeckte den Kopf. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Sie lachte, ein entsetzliches, halbersticktes, heiseres Gelächter … Jede jugendliche Heldin, die ihr Pulver wert war, wäre jetzt in Ohnmacht gefallen. Ich schaffte es fast; ich stolperte über die Chenille und ging bis neun zu Boden, wobei ich das Gespenst stöhnen hörte: »Himmel, es ist Aphrodite.«

Eigentlich hätte mich der beißende Geruch von Riechsalz zu mir bringen müssen. Doch solches Glück war mir nicht beschieden. Jemand hatte mich unter den Achseln gepackt und zerrte mich über den holperigen Fußboden, was mir den Popo aufschrammte und das letzte bisschen Mut raubte.

»Herr im Himmel, lieber würde ich einen Ochsen schleppen.« Ben! Wie kam der denn hierher? Er war doch nicht das Speisekammergespenst. »Das muss reichen.« Er lehnte mich an die Wand wie einen Sack Mehl. »Wenn ich sie auf einen Stuhl hieve, hole ich mir einen Bruch – einen doppelten.«

Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht! Aber sobald ich die Arme bewegte, nahm die Chenille endgültig Reißaus. Die einzige Möglichkeit, es ihm heimzuzahlen, war, mich bei der Kultivierten Herrenbegleitung über ihn zu beschweren. Eine andere Stimme sprach, eine neblige, bellende, unmenschliche Stimme.

»Was wollen Sie von mir – Mitleid? Sie ist doch Ihr Schatz. Ein Mann, der sich mit einer doppelt so großen Frau einlässt, sollte an der Stelle, wo sonst das Gehirn sitzt, wenigstens Muskeln haben. Hören Sie auf, rumzutändeln wie eine Narzisse im Wind und bringen Sie sie wieder zu Bewusstsein, wenn sie welches hat. Kippen Sie den Eimer da über ihr aus. Sieht aus, als hätte sie hier rumgefummelt und die naturgegebene Unordnung durcheinandergebracht. Verdammte Einmischung.«

Das Bleichmittel! Ich wollte schon immer erblonden, aber nicht durch so drastische Maßnahmen. »Das wirst du nicht tun!« Meine Augen sprangen auf wie Schnapprollos. Ich machte mich von Ben los, ließ die Fäuste fliegen und hatte die Befriedigung, ihn voll am Kinn zu erwischen. »Idiot!«, brüllte ich und rappelte mich auf. »Lass den Eimer fallen und wir haben ein Loch im Boden, das bis nach Australien reicht.« Ich drehte mich um und drohte der knochigen Gestalt in Weiß mit einem wütenden Lehrerinnen-Zeigefinger. »Hören Sie zu, Sie spukendes Heinzelmännchen, warum verziehen Sie sich nicht und kauen an Ihrer Troddel? Ich bin vielleicht kein Schönheitsideal, aber Sie müssten sich mal sehen mit Ihrem lächerlichen Kopfputz!«

Bens eines Auge hatte plötzlich einen nervösen Tic, aber ich kümmerte mich nicht drum. Ich war unfähig, klar zu denken, geschweige denn, optischen Morsecode zu entziffern.

»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«, fragte ich das dürre Gespenst. »Ungebeten mitten in der Nacht aus Speisekammern zu hopsen!«

Ein freudloses Kichern entfuhr seinem zahnlosen Mund, dann zischte er in bösem Flüsterton: »Erkennst du mich nicht, mein Puddingbäckchen, sehr ungezogen! Du bringst einen alten Mann noch zum Weinen. Du Trampel! Ich bin dein Gastgeber, Giselle, dein lieber alter Onkel Merlin.«

»Welch geselliges Beisammensein«, griente Ben in die ungemütliche Stille. »Mr. Grantham erzählte mir, während du in Ohnmacht lagst, dass er oft mitten in der Nacht Appetit bekommt und dann mit dem Speiseaufzug zu einem Imbiss runterfährt. Ich habe durch den Schlafzimmerfußboden deine Angstschreie gehört und kam phantasieloserweise die Treppe runter, um nachzuschauen.«

»Ich bin nicht in Ohnmacht gefallen.« Wütend starrte ich beide an. »Ich bin gestolpert. Vielleicht bin ich später weggeblieben, als ich mit dem Kopf aufgeschlagen bin, aber das ist nicht dasselbe.« Ich zupfte die Chenille hoch. »Und mal angenommen, ich habe mich wirklich blöde angestellt. Wenn du auch nur einen Funken Anstand besäßest, Onkel Merlin, dann würdest du einen Teil der Verantwortung dafür übernehmen. Ich bin es nicht gewohnt, mitten in düsterer Nacht Männer in weißen Nachthemden und Zipfelmützen umherschlurfen zu sehen.«

»Ha! Wohl nicht gewohnt, nachts Männer in irgendeiner Gewandung zu sehen. Es sei denn … hast du diesem Londoner Burschen erzählt, du erbst mein Geld? Da bist du an der falschen Adresse, Mädel! Meine Nachthaube hindert die Körperwärme daran, während des Schlafs durch den Kopf zu entweichen. Kann mir diese elektrischen Heizapparate nicht leisten, besonders heute Nacht. Einer meiner Blutsverwandten könnte sich reinschleichen und einen Kurzschluss einbauen.«

»Um noch mal auf den nächtlichen Imbiss zurückzukommen, Mr. Grantham«, schlug Ben vor, während er den Herd inspizierte, »soll ich Ihnen ein bisschen was Schaumiges machen? Vielleicht Benedikt-Eier?«

»Ach, jetzt wird mir alles klar«, krächzte der liebe alte Onkel. »Einer von denen sind Sie! Im Dekorateurgeschäft triffst du wohl viele schwule Jungs, was, Ellie?«

Was hatte dieser abscheuliche alte Mann für eine ekelhafte Phantasie. Ich wollte zur Tür, doch dann überlegte ich es mir anders. So leicht sollte er den Sieg nicht davontragen. »Weißt du was? Ich glaube, es ist gut, dass du dich hier all die Jahre vergraben hast. Die Welt draußen ist zu gut für dich.«

Onkel Merlin saß auf einem Stuhl und rührte sich nicht. Einen grausigen Moment dachte ich, ich hätte ihn zu Tode erschreckt, dann sah ich unter der Zipfelmütze ein Flackern eisiger Belustigung in seinen Augen aufglimmen.

»Wenn Sie Eier nicht göttlich finden«, Ben klimperte mit den Wimpern in Richtung Onkel Merlin, »dann vielleicht etwas, das ein bisschen mehr prickelt, sagen wir eine reizende kleine Speise aus Quark und Molke?« Mit seiner normalen Stimme fügte er hinzu: »Gleichzeitig eine Methode, Ihre verdammten Spinnen zu verscheuchen.«

»Richtige Männer«, bellte Onkel Merlin, »essen keine aufgemotzten Eier oder so was zum Frühstück. Wir mögen unsere Bücklinge. Gehen Sie Ihrer Nase nach und Sie finden ein Paket aus Zeitungspapier in der Schublade rechts vom Ausguss. Richtig, unter den Geschirrtüchern. Habe sie vor Sybil versteckt. Die Bücklinge waren für Jonas und mich. Freitagabend spielen wir immer Karten, sobald sie in ihrem Bett liegt und nicht mehr über uns die Nase rümpfen kann. Sybil hat nichts gegen Glücksspiele – ein Zeitvertreib für Gentlemen –, aber sie billigt es überhaupt nicht, dass ich mit der Dienerschaft verkehre. Ha! Wenn ich so von Jonas dächte, hätte ich ihn schon längst in Rente geschickt. Ich mag die Art, wie er beim Kartenspiel betrügt. Herrgott noch mal, was muss der alte Esel auch auf der Nase liegen! Wer will seinen Fisch? Meiner ist der große.«

»Da du Bücklinge zur Männerspeise erklärt hast, Onkel Merlin, werde ich jetzt zwei Scheiben Brot in diesen Toaster stecken, der aussieht wie eine Rattenfalle, hinein damit, mir eine Tasse von dem Tee nehmen, den Ben gerade braut, und mit einem Tablett nach oben verschwinden.«

»Was, und mich diesem jungen Ganoven ausliefern? Deine Schuld, wenn du morgen früh runterkommst und mich mit einem Fleischspieß im Herz vorfindest! Wo hat sie Sie überhaupt aufgegabelt, junger Mann? Wahrscheinlich in einer von diesen Kontaktbars. Und was machen Sie außer mit Bratpfannen zu schlenkern?«

»Er schreibt Bücher.« Wütend kratzte ich Butter von einer angeschlagenen Untertasse und schmierte sie auf meinen Toast. »Herrlich schmutzige Bücher, richtig schweinisch, aber nicht so schweinisch wie diese Küche, bevor ich sie saubergemacht habe. Gute Nacht, liebster Onkel, und tu mir nicht den Gefallen, an einer Gräte zu ersticken.«

Das Frühstück am nächsten Morgen war grässlich. Glücklicherweise war Tante Sybil nicht anwesend, um die Kommentare mitzukriegen, die diese Mahlzeit hervorrief. Sie hatte das Essen hereingebracht und trug jetzt ein Tablett zu Onkel Merlin hinauf. Freddy saß da und rührte in seinem Porridge wie ein Kind, das auf Mamis »Ein Löffel für Mutti, ein Löffel für Vati« wartet. Er ließ den Löffel fallen und brummelte: »Entweder hat jemand auf meinen Teller gekotzt oder ich tu’s gleich.«

Genau mein Gefühl. Auf diese Mahlzeit konnte ich verzichten, insbesondere da Tante Lulu, ihr Kopf ein Schaum seifiger Löckchen, gerade von ›der Verlobung‹ erfahren hatte und einen mürrischen Ben nach Einzelheiten piesackte. Schlafmangel hatte seine Stimmung nicht gebessert. Ich entschuldigte mich und kehrte in mein Zimmer zurück, wo ich auf der Kommode am Fenster meinen Koffer vorfand. Ben hatte mir gesagt, dass er und Freddy schon früh draußen gewesen waren und das Auto wiederbelebt hatten, das jetzt neben dem alten Pferdestall stand.

Eine Diät, auch eine unfreiwillige, sollte von körperlicher Bewegung begleitet werden. Ein Spaziergang im Schnee! Nichts wie runter mit dem roten Ungetüm, und ich war glücklich wieder vereint mit meinem Kamelhaarrock, meinem grauen Pullover, den soliden Tretern, mit Wollmantel und Kopftuch. Der Spiegel verriet mir, dass ich aussah wie eine treue alte Zugehfrau. Immer noch besser als eine Karnevalsprinzessin. Ich übergab das Rote dem Mülleimer.

Ich hatte ganz vergessen, wie nah Merlins Schloss am Meer lag. Der klatschende, brausende Rhythmus der Wogen mischte sich mit dem Wind, der mich vorantrieb und mir den Mantel so eng um die Beine wickelte, dass das Gehen schwierig wurde. Sicher, ich hatte in meinem Leben alles falsch gemacht, aber ich hatte kein brennendes Verlangen, es zu beenden, indem ich mich von den Klippen wehen und auf den zackigen Felsen drunten zerschmettern ließ. Ich machte eine Kehrtwendung, da sah ich durch den Schnee, der von den Bäumen stob, die gebeugte Gestalt eine Mannes auf mich zustolpern, er hatte sich den Hut tief über die Ohren gezogen, und Mund und Nase waren mit einem dunklen Schal vermummt. Das musste der Gärtner sein – Jonas. Hieß er nicht so? Statt stetig auszuschreiten taumelte ich im Wind hin und her, aber ich kam voran, so gut ich konnte. Als unsere Wege sich trafen, lüftete der alte Mann seinen zerbeulten Hut, duckte kurz den Kopf und sagte »Morgen, Fräulein«, gab einen trockenen Huster von sich und wollte weitergehen.

»Scheußlicher Tag zum Spazierengehen«, sagte ich. »Zumal Sie erkältet sind.«

Er warf mir einen argwöhnischen Blick zu. »Ordentlicher Frost tötet die Bazillen. Mr. Merlin, der geht an so einem Tag nicht raus. Könnte sich ja den Tod holen und andern eine Freude machen. Sie sind Miss Giselle, wie? Ja, ich kenn mich aus mit euch. Außer beim Kartenspiel zu betrügen, schwatzt er gern über die, wie er sagt, Maden im Familienkuchen. Hähä! Seid alle sofort gekommen, was? Bei Ihnen war er nicht so sicher, aber ich hab ein Pfund gewettet, dass Sie kommen. Haben sich auch einen Burschen mitgebracht, höre ich. Einen Pornoschreiber noch dazu. Wo Sie so eine züchtige alte Jungfer sind!«

»Wir sind verlobt«, fauchte ich und stapfte zum Haus zurück. Tante Sybil war in der Küche, als ich durch die Hintertür hereinkam. Sie hängte sehr zerlöcherte Abtrockentücher über die Rohre und war offenbar wenig begeistert, mich zu sehen. Hatte wohl Angst, dass ich den Fußboden schmutzig machte.

»Ich bin dem Gärtner begegnet«, sagte ich.

»Ach, der! Wohnt in dem Häuschen beim Eingangstor. Klippenblick heißt es.« Sie zog die Nase hoch, vielleicht machten die Bleichdämpfe aus den Tüchern ihr die Nebenhöhlen frei. »Bei dem schlechten Wetter gestern Abend wird es dir nicht aufgefallen sein. Warum Merlin diesen Jonas behält, ist mir ein Rätsel. Dauernd fehlt ihm was. Aber so sind die Männer – nur glücklich, wenn sie was zum Jammern haben. Mit Merlin ist das natürlich eine andere Geschichte.« Ihre von der Bleichlauge verschrumpelten Hände wanderten zu ihren Haaren und richteten eine Strähne.

»Jonas’ Husten hat sich ziemlich echt angehört und damit läuft er draußen rum.« Ich schälte mich aus meinem Mantel.

»Will nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Und wenn’s keine Erkältung ist, dann ist es was anderes. Letzten Sommer war es der Stuhlgang und davor Krampfadern. Nicht ein Unkraut im Garten gejätet, außer um irgendeinen Heiltrank zu brauen. Und Merlin bestand darauf, dass ich Jonas morgens, mittags und abends heißen Tee davon brachte.« Ihr Unterkiefer zitterte. »Als ob ich nicht genug zu tun hätte, ohne hypochondrische Dienstboten zu verwöhnen. Ja, ich weiß, wir haben unsere Verpflichtungen gegenüber dem Proletariat – und wenn Jonas der Butler wäre oder zumindest irgendwas Sauberes, würde es mir auch nicht so viel ausmachen.«

So etwas von blasiertem Dünkel! Langsam fragte ich mich, ob Onkel Merlin hinter der Maske des bösartigen Einsiedlers nicht doch ein oder zwei lobenswerte Charakterzüge besaß. Wenigstens behandelte er jedermann mit gleicher Verachtung, und er schien an Jonas zu hängen. Oder war das nur, weil der Mann ihm zur Unterhaltung diente? »Onkel Merlin muss doch froh darüber sein, dass seine eigene Gesundheit unverwüstlich ist«, regte ich an.

Tante Sybil fixierte mich mit einem Blick, der sagte »Was weißt du schon davon?« Sie schälte Kartoffeln und zog eine regelrechte Schau ab. Unter dem Ansturm ihres Messers flogen die Schalen in alle Richtungen. Meine Hilfe wurde kategorisch abgelehnt, nur sie allein wusste, wie Onkel Merlin sein Gemüse mochte.

»Der Arme, er ist einsam«, sagte sie. »Er und Jonas sind wie Pech und Schwefel, stecken ständig die Köpfe zusammen über Kreuzworträtseln oder Spielkarten. Ich mache mir Sorgen, denn« – sie fixierte mich mit ausdruckslosen, wässerigen Augen – »abgesehen vom Klassenunterschied hat Jonas für mein Gefühl keinen guten Einfluss auf Merlin. Er bringt ihn zum Lachen, ja manchmal dazu, sich völlig albern aufzuführen. Sehr unschicklich! Sein Vater, der selige Onkel Arthur, sagte nie mehr als ›Holen!‹ und ›Bringen!‹ zur Dienerschaft. Aber ich habe so wenig Zeit, mich hinzusetzen, wo ich das ganze Haus in Ordnung halten muss, und er gehört schließlich, wie man so sagt, einer neuen Generation an.«

Onkel Merlin voll im Trend? Unter Anpassungsdruck?

»Jonas sah ziemlich harmlos aus«, sagte ich.

Tante Sybil schniefte und wütete weiter mit ihrem Messer. Das Mittagessen war noch ein Erlebnis, das man besser rasch vergisst, denkwürdig allein, weil ich mehrere Pfunde abnahm. Vanessa mit Schmollmündchen war verführerischer denn je, mein Verlobter verdrossen und Onkel Merlin beehrte uns nicht mit seiner Anwesenheit. Tante Sybil verkündete, als bereite sie uns eine große Freude, dass er zum Tee herunterkäme.

Der Nachmittag neigte sich zur Dämmerung. Die Standuhr in der Halle schlug vier, und prompt gingen die Verwandten in Stellung. Tante Sybil drückte sich bei der Tür herum wie ein begeisterter Fan, der seinem Idol an der Bühnenpforte auflauert. Aus der Halle ließen sich langsame, gedämpfte Schritte vernehmen. »Da kommt er«, rief sie. »Mein lieber Merlin, ich habe sie mit dem Tee nicht ohne dich anfangen lassen. Wir haben alle auf dich gewartet.«

»Das glaube ich gerne.« Onkel Merlins Stimme war kräftig, obwohl er sich schwer bei Tante Sybil aufstützte, eine graue, schattenhafte Gestalt im Halbdunkel. »Eine Bande von Aasgeiern seid ihr, alle miteinander«, schnaubte er giftig. »Stürzt euch auf mich, um mir das Fleisch von den morschen Knochen zu hacken, aber ich lege euch alle rein, jeden von euch. Noch bin ich nicht tot, und wir wollen mal sehen, wer zuletzt lacht.«

»Was für ein böser alter Mann«, sagte Tante Astrid und erstickte fast, so heftig zog sie an ihren Perlen. »Wahrscheinlich vermacht er alles einem Katzenasyl. Er gehört in eine Anstalt.«

Die dünne Frau

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