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Ich war an diesem Tag noch nicht draußen gewesen, ja ich hatte noch nicht mal die Vorhänge zurückgezogen, und so wurde ich unsanft davon überrascht, dass es schneite. Dicke weiche Flocken wie aus Seifenschaum wirbelten durch die Luft. Badewetter? Dieser irrigen Ansicht war offenbar Bentley Haskells Auto. Das übel zerschrammte rostig graue Gefährt stand mit runtergeklapptem Verdeck am Rinnstein. Ich wusste, dass Kabrios einen Hang dazu haben, aber doch bitte nicht mitten im Schneegestöber bei eisigem Ostwind. Mr. Haskell hatte meinen Koffer verstaut und hielt mir die Tür auf.

»Darf ich beim Einsteigen behilflich sein, Schatz?« Er lächelte grimmig. »Ich übe schon mal.«

»Nein. Sie dürfen den Deckel von diesem Ding zumachen.«

»Das geht leider nicht. Die Scharniere sind seit Jahren festgerostet. Keine Sorge – Sie werden nicht nass.«

Als ich mich auf einem sehr feuchten Sitz niederließ, drückte er mir einen rotweiß gepunkteten Sonnenschirm in die Hand, löste die Verriegelung und schon wölbte sich über mir ein riesiger Fliegenpilz. Meine Füße trafen auf eine Wärmflasche, aber auch das besänftigte mich nicht. Ich hätte jetzt in einem gemütlichen Zugabteil sitzen können, indes die Landschaft an mir vorbeiglitt und der Schaffner zum Abendessen in den Speisewagen bat. Es gab nur eine Erklärung: Der Mann, der ruhig an meiner Seite saß und die Straßenkarte studierte, war aus Dartmoor entflohen. Mrs. Swabucher hätte ausnahmsweise auf Sohn Reginald, den Wirtschaftsprüfer, hören und ihre Hausaufgaben machen sollen.

»Zu Ihrer Linken finden Sie zwei Reisedecken.« Mr. Haskell faltete die Karte säuberlich zusammen, steckte sie in die Ledertasche unter dem Armaturenbrett und setzte das Monstrum in Gang. Es antwortete mit Geheul, das sich zu wütendem Knurren steigerte. Wir schossen vorwärts, verfehlten knapp eine Frau auf einem schwankenden Fahrrad, drückten uns an einem Laster und einem Doppeldeckerbus vorbei und schwammen mit im abendlichen Berufsverkehr, der London vor Einbruch der Dunkelheit hinter sich lassen wollte.

»Behaglich, Schatz?« Er hatte kleine, schneeweiße Zähne. Einer stand ein wenig über und betonte das Ebenmaß der übrigen.

»Ich erfriere.«

»Wickeln Sie sich die andere Decke um. Mein Problem ist, ich finde dieses Wetter erfrischend und vergesse, nicht alle teilen meine Begeisterung für die Natur im Rohzustand.«

»Im Zug wäre es sicher zu heiß?«

»Zum Ersticken.«

So sollte ich also Einzug in Merlins Schloss halten? Die Finger festgefroren an diesem lächerlichen Sonnenschirm, das Haar schneeweiß und vor der Zeit gealtert? Männer! Und nach so einem hatte ich mich all die Jahre gesehnt!

»Versuchen Sie, in Bewegung zu bleiben«, sagte er, den Blick fest auf die Straße geheftet.

»Na toll! Ich stehe auf und jogge um den Rücksitz. Halten Sie ja nicht an, wenn ich über Bord gehe. Ein rascher Unfalltod ist mir lieber als zentimeterweise zu erfrieren.«

»Ich meinte, wackeln Sie mit den Zehen, wedeln Sie mit den Händen – nicht die mit dem Schirm.« Er blinzelte. »Für diese Fahrt brauche ich beide Augen – die Sicht wird immer schlechter.«

»Ist Ihnen das auch schon aufgefallen?« Ich schloss die Augen und sofort wurden mir die Lider schwer. Schnee drückte sie nieder, nicht süßer Schlaf. Eingemummelt in meine Decken kam ich nicht an die Tafel Nussschokolade, die in meiner Handtasche steckte und inzwischen mit klagender Stimme nach mir rief. »Kann ein Mensch in Leichenstarre fallen«, fragte ich, »obwohl er noch lebt?«

Er schnaubte ärgerlich, fügte dann aber recht sanft hinzu: »Vielleicht hilft es, wenn wir uns unterhalten.« Schmolz der Eisberg? »Um überzeugend zu sein«, fuhr er fort, »muss ich in etwa wissen, wer wer ist auf dem Anwesen, dem wir unseren Besuch abstatten. Ist es ein Landhaus?«

»Eher ein Schloss. Kein echtes natürlich«, fügte ich hastig hinzu, als ich sah, wie seine Brauen in die Höhe schossen. »Eine Miniaturausgabe, die Onkel Merlins Großvater vor über hundert Jahren erbaut hat. Familienlegenden behaupten, dass er bereits an Altersschwachsinn litt, als die Pläne gezeichnet wurden. Nur jemand im Endstadium der zweiten Kindheit besitzt diese Art Phantasie. Das Haus ist schnurstracks aus dem Märchen entsprungen – jede Menge Türme, efeubewachsene Mauern, ein Schlossgraben, nicht größer als ein Goldfischteich, und sogar ein winziges Fallgitter zum Schutz der Eingangstür, obwohl sie das jetzt offen lassen.«

»Wiedersehen mit Dornröschen?«

»Genau. Es gibt sogar ein richtiges Schlossgespenst.«

»Lassen Sie mich raten. Onkel Merlin höchstselbst?«

»So ist es. Seine Verworfenheit besteht darin, was er dem Haus angetan oder vielmehr nicht angetan hat. Er hat es verrotten lassen. Streng genommen ist er kein Onkel – mehr ein Vetter zigsten Grades, aber meine Mutter war eine praktische Frau. Sie bestand darauf, die Verbindung zu unserem einzigen begüterten Verwandten aufrechtzuerhalten. Als Kind musste ich ihm jede Weihnachten Bettsöckchen stricken und wurde nur zweimal eingeladen. Beide Male flog ich vorzeitig raus. Er sagte, ich fräße ihm die Haare vom Kopf und für den Rest des Jahres bliebe ihm nur trocken Brot.«

»Hoffentlich wird das nicht unsere Wochenenddiät.« Bentley Haskell lenkte das Auto um eine rutschige Kurve. Wir näherten uns der Londoner Peripherie. Ich wechselte den Schirmarm und verkroch mich so tief wie möglich in meinen Deckenkokon. Bedauerlicherweise zeigte mein Begleiter keinerlei Frostschäden.

»Welchen faszinierenden Persönlichkeiten werde ich sonst noch begegnen?«

»Allen möglichen.« Ich zitterte vor Kälte. »Einem Vierer mit Partnertausch aus dem East End, einem Wunderdoktor, dem kürzlich die Approbation entzogen wurde, weil er …«

»Wenn Sie rumalbern«, sagte Mr. Haskell durch die Nase, »konzentriere ich mich eben aufs Fahren.«

Zusammengestaucht saß ich da wie ein dicker runder Wackelpudding, der auf seinem Teller zittert. Großmütig reichte er mir einen Ölzweig.

»Wohl alles Verwandte?«

»Da ist Onkel Maurice«, plapperte ich wie ein Kind, das aufsagen muss. »Er ist Börsenmakler und Mitte fünfzig – ziemlich klein mit Schmerbauch, die drei Haare, die er noch hat, kleistert er sich mit stark parfümierter Pomade an. Onkel Maurice riecht man durchs ganze Haus.«

»Bei Mord ein schönes Indiz. Ist ihm zuzutrauen, dass er den Butler erschlägt?«

»Wohl kaum. Sonst hätte er schon vor Jahren seine Frau beseitigt, Tante Lulu, ein Puttputt.«

»Ein was?«

»Ein Huhn. Tante Lulu könnte man das Gehirn entfernen und keiner würde was merken, sobald die Frisur wieder drauf ist. Sie bohnert ihre Böden stündlich, bügelt das Klopapier, bevor sie es aufhängt, und lebt nur für ihre Friseurbesuche dreimal die Woche. Sie und Onkel Maurice haben einen Sohn namens Freddy. Der kommt nach keinem von beiden. Freddy ist ein Freigeist: stolz darauf, dass er sich nie wäscht, trägt die Haare in einem Pferdeschwanz und lässt sich einen Bart sprießen, der aussieht wie ein alter Scheuerlappen, den der Müllschlucker wieder ausgespien hat. Unser Freddy weiß, was angesagt ist – düst auf dem Motorrad durch die Pampa, hat ein Loch im Ohrläppchen und qualmt Hasch wie ein Drache.«

»Also angepasster als sein Vater.« Bentley Haskell spähte durch das Schneetreiben nach einem halbverwehten Wegweiser, schlug an der Weggabelung einen scharfen Haken, erwischte Glatteis, kam kurz ins Schleudern und war wieder auf Kurs. Ich fühlte mich wie ein Klumpen Eiskrem, so hart gefroren, dass sich daran jeder Löffel verbiegt.

»Freddy macht Musik«, schnatterte ich, »so eine Art Garagen-Punk auf Haushaltsgeräten. Gegenwärtig pausiert er. Laut Tante Astrids letzten Katastrophenmeldungen ist der Kuckuck ins Nest heimgekehrt, und die armen Vogeleltern haben nicht die Kraft, ihn rauszuschmeißen.«

»Tante Astrid?« Mr. Haskells dunkle Augenbrauen zogen sich zu einem konzentrierten Strich zusammen, während wir durch das Städtchen St. Martin’s Mill glitten, vorbei an Fachwerkhäusern, die uns im schwindenden Dämmerlicht beäugten.

Es hatte endlich aufgehört zu schneien. Ich nahm den Schirm herunter und machte vorsichtig Armbeugen. »Tante Astrid ist Witwe, zieht sich immer zum Abendessen um und wurde noch nie ohne ihre Perlen gesehen. Ich glaube, sie hält sich für eine Reinkarnation von Königin Viktoria – sie spricht von sich stets im Pluralis majestatis. Sieht immer aus, als hätte sie sich gerade auf einen glühenden Feuerhaken gesetzt. Sie hat eine Tochter – Vanessa«, murmelte ich, da bog Mr. Haskell von der Straße ab und ersparte mir, Vanessa in all ihrer Femme-fatale-Pracht zu beschreiben.

»Zeit zum Auftanken«, sagte er.

»Benzin oder Nahrung?«

»Weder noch«, zügelte mich Mr. Haskell, während mir Visionen von Rührei mit Pommes durch den Kopf tanzten. »Ich dachte, Sie hätten nichts dagegen, wenn wir Ihre Wärmflasche aufheizen.«

»Durchaus nicht«, schoss ich zurück. »Sie hat sich schon vor Stunden in einen Grabstein verwandelt. Aber wenn das da drüben ein Gasthaus ist, werde ich reingehen und mich bei einem dicken, saftigen Steak und Meeren von dampfendem Kaffee auftauen. Sie können machen, was Sie wollen, hier draußen Schneemann spielen oder mitkommen.«

Der arme Mr. Haskell sah hin- und hergerissen aus. Aber das Fleisch war schwach, denn er hielt unter dem knarrenden Gasthausschild, auf dem passenderweise Zur Zuflucht stand, entriss mir die Wärmflasche und stieß seine Tür auf. »Ich hoffe, Sie zahlen«, fauchte er, klopfte sich den Schnee von den Armen und stapfte ums Auto, um mir herauszuhelfen.

»Bleibt mir was anderes übrig? Sie entwickeln sich zu einem sehr kostspieligen Bedarfsartikel, Mr. Haskell.« Meine Würde litt etwas darunter, dass ich mich fest an seinen Arm klammern musste, damit mir nicht die Beine wegrutschten. »Mein Mantel« – zehn Jahre war er alt – »ist völlig ruiniert, und wenn Sie nicht auf die hirnrissige Idee gekommen wären, in Ihrem Frischluftauto zu fahren, säßen wir jetzt beide kuschelwarm in Merlins Schloss und könnten Tante Sybils köstlichen Kochkünsten zusprechen.«

»Was Sie nicht sagen. Nach Ihrer Beschreibung hatte ich eher den Eindruck, sie serviert sehr tote Fledermäuse in sehr kalter Suppe.«

Seine Vorstellung kam der Wahrheit ziemlich nahe, was meinen Zorn weiter anfachte. Wutschnaubend erreichten wir die Tür. Drinnen würdigten wir uns keines Blickes und gaben, während sich um uns kleine Pfützen bildeten, dem irritierten Mädchen hinter der Theke zu verstehen, dass wir einen Tisch für zwei brauchten. Die Antwort war patzig, aber ich schaute stur geradeaus.

Bald saßen wir vor einem prasselnden Kaminfeuer, um uns glänzte gut geputztes Messing vor handgeschnitzter Täfelung. Es war unmöglich, sich der besänftigenden Wirkung von so viel Achtzehntes-Jahrhundert-Charme zu entziehen. Ich beschloss zu vergessen, welch Wurm Mr. Haskell war.

»Gemütlich, nicht?«

»Reichlich übertrieben, die Altertümelei. Warum läuft das Mädchen da mit einer Lockenwickelhaube und im Nachthemd rum?«

»Die Kellnerin? Das ist kein Nachthemd, das ist die Tracht der Kammerzofen am Hofe Karls des Zweiten. Haben Sie Angst, sie enthüpft ins Bett, bevor wir bestellen können?«

Wir entschieden uns beide für Steak mit Champignons. Es war hart, auf die Kartoffeln zu verzichten, aber er sollte doch mein Problem für eine Drüsenstörung halten. Unser Essen kam, es brutzelte auf irdenen Tranchiertellern.

»Miss Simons«, sagte er und nahm die Gabel zur Hand, »ich schlage vor, wir üben uns in der Benutzung des Du, damit wir uns im Schloss nicht verplappern.«

Behutsam spießte ich einen Pilz auf. »Ihre Sorgfalt im Detail ist beeindruckend. Sehr professionell. Ist Ihr Rufname Bentley oder haben Sie eine Kurzform, Benny?«

»Ben«, sagte er frostig, »und Ellie, kommt das von Ellen?«

Ich schnitt ein Stück Fleisch ab, schob es auf dem Teller hin und her, zerschnitt es noch einmal.

»Von Ellen also nicht.«

»Da wir angeblich eng befreundet sind, werden Sie es erfahren müssen. Mein richtiger Name ist Giselle.« Ich schaute auf und erwischte ihn dabei, wie seine Lippen zuckten. Ob die Kellnerin was merken würde, wenn ich ihn mit der Gabel erstach und das blütenweiße Tischtuch Blutflecken bekam? Zu meiner Überraschung wurde sein Gesicht ernst und er berührte meine Hand.

»Eltern können sehr unreif sein. Solche Höhenflüge der Phantasie sind für Kleinkinder hübsch, die in ihren Stühlchen ruckeln und brabbeln, aber auch Herzblättchen und Heideröschen werden erwachsen. Namen sollten zur Ansicht vergeben werden – mit Umtauschrecht nach Entfaltung des Verstandes.«

»Danke.« Meine Stimme gab einen rauen Ton von sich. Ich werde unsicher, sobald Leute, besonders Männer, nett zu mir sind. »Mutter hat es gut gemeint, die Arme. Sie träumte davon, ich würde in ihre Fußstapfen treten und in einem duftigen rosa Tutu umherflattern.«

»Deine Mutter ist Tänzerin?«

»War. Nur in der Gruppe an kleinen Stadttheatern. So viele Pirouetten und Arabesken, und dann stolperte sie, als sie die Bahnhofstreppe runterrannte; genau wie ich kam sie immer zu spät. Inzwischen ist sie seit zehn Jahren tot.«

»Tut mir leid. Und dein Vater?«

»Irgendwo auf der Suche nach sich selbst. Momentan ist er Landwirt und Schafzüchter in Neusüdwales. Zuletzt hatte er zwei – Schafe, nicht Bauernhöfe – und wie ich Papas Pech kenne, nimmt das Mutterschaf die Pille. Eigentlich ist er toll; nächstes Jahr versucht er’s vielleicht als Feuerwehrmann oder Zirkusclown.«

»Was meine Theorie untermauert, dass Eltern, sie mögen noch so liebenswert sein, die wahren Kinder sind.« Ben ließ sich von der Kellnerin mit der Morgenhaube einen Kaffee servieren. Sie umschwänzelte ihn in sattsam bekannter Manier. Zeit, Mr. Haskell daran zu erinnern, dass er im Dienst war. Ich hatte ihn zur Genüge mit spritzigen Einzelheiten aus meiner Familiengeschichte – ausgenommen Vanessa – versorgt, jetzt war Bentley T. Haskell dran.

Er begann seine Erzählung mit der Eröffnung, er sei von seinen Eltern verstoßen, enterbt und zum Teufel gejagt worden. Wieder ein Familienstammsitz verloren? Dieser entpuppte sich als Gemüseladen in Tottenham. Ich sah die armen Eltern mit ihren verarbeiteten Händen vor mir, wie sie den aus der Art geschlagenen Sohn mit Kohlköpfen zur Tür hinausbombardierten, abriegelten und ein Schild mit der Aufschrift »Geschlossen« anbrachten. Aber warum?

Sein Vergehen war interessant. Mami und Papi konnten sich nicht damit abfinden, dass ihr Sohn praktizierender Atheist war.

»Praktizierend?«

»Ich war Mitorganisator einer Protestversammlung vor der Halleluja-Erweckungskirche. Das ist eine von diesen giftigen engstirnigen Sekten, die Ketzer immer noch am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrennen würden. In diesem Fall hatten sie sich geweigert, ein kleines Kind in geweihtem Boden zu bestatten. Wenn das Religion sein soll, kann ich darauf verzichten.«

»Deine Eltern sind fromm?«

»Sehr. Vater ist orthodoxer Jude und Mutter stramme Katholikin. Eines muss man den beiden lassen, sie führen eine großartige Ehe. Seit vierzig Jahren verzehren sie sich in missionarischem Eifer und versuchen, sich gegenseitig zu bekehren. Wir haben eine Mesusah in der Haustür und auf dem Kaminsims eine Jungfrau Maria. Mutter behauptet, sie habe Vater schon vor Jahren beim Haarewaschen getauft und er nennt sie vor seinen Freunden immer Ruth, obwohl sie Magdalene heißt.«

»Dann staune ich, dass sie bei dir so schnell aufgegeben haben. Hinter deiner Vertreibung muss doch mehr stecken als nur die Halleluja-Erweckungs-Demo. Was für Sünden hast du noch begangen?«

Ben hielt nach der Kellnerin mit der Rechnung Ausschau und sagte dabei in liebenswürdigem Tonfall: »Und ich staune, dass du beim Gehen nicht über deine Nase fällst. Wie kommst du dazu, mir Missetaten zu unterstellen?«

Fasziniert beobachtete ich, wie die Kammerzofe auf seinen leisesten Wink hin angedackelt kam. Mit nervtötender Langsamkeit steckte sie das Geld ein, das ich hingelegt hatte. Endlich verzog sie sich schweifwedelnd.

»Heraus damit!«, rief ich. »Die Spannung schlägt mir auf den Magen. Was hast du angestellt, die Tochter vom Bürgermeister entführt? Die Leihbücher nicht zurückgegeben?«

»Mein Kardinalfehler war, als einziges Kind geboren zu werden. Meine Eltern hatten alles auf eine Karte gesetzt. Als ich zur Welt kam, war Mutter fast vierzig. Danach war es aus mit dem Kinderkriegen.«

Hatte wahrscheinlich Angst, die arme Frau. »Dann ist deine Mutter nicht mehr die Jüngste?«, soufflierte ich listig.

»Sie geht auf die siebzig zu.«

Also war Ben an die dreißig, in meinen Augen das beste Alter, vor allem für ledige Männer.

»Was weiter?«, fragte ich.

»Wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe ein Buch geschrieben, ein sehr … anschauliches Buch, sehr … avantgardistisch.« Er suchte nach dem passenden Wort. »Sehr … sinnenfreudig.«

»Mit diesem Adjektiv schmücken sich eigentlich Weinkenner und Frauen mit meiner Figur. Vielleicht wäre pornografisch treffender?«

»Der Ansicht bin ich durchaus nicht.« Seine schwarzen Brauen senkten sich in jener arroganten Manier, die Lore-Roman-Helden auf der Stelle zu verwegenen Teufelskerlen macht. Bentley Haskell dagegen sah aus wie ein kleiner Junge, der seinen Ball wiederhaben will.

»Hat das Meisterwerk schon das Licht der Öffentlichkeit erblickt?«

»Bitte keinen Hohn. Ich arbeite an der zweiten Fassung.«

»Ah ja. Der Ruhm lässt also noch auf sich warten. Aber deinen Eltern musstest du es sofort unter die Nase halten, noch bevor es gedruckt ist! Was ist an solcher Ehrlichkeit bewundernswert? Wolltest du zwei alten Leuten neue Schimpfwörter beibringen?«

Ben war verletzt. »Ich dachte, es gefällt ihnen. Außerdem musste ich ihnen was entgegensetzen. Sie verlangten, ich sollte bei Onkel Solomon arbeiten. Er hat ein Restaurant am Leicester Square.«

»Ins Familienunternehmen einsteigen, hört sich doch gut an.«

»Sicher, es war ja auch mal das, was ich wollte. Ich bin in den besten Hotels Europas und der Vereinigten Staaten ausgebildet worden, bis zum Chef. Aber dann letztes Jahr in Paris hat mich das Schreibfieber gepackt und ich habe meine Kreativität in andere Bahnen gelenkt. Es reizt mich nicht mehr, für den Rest meines Lebens am Herd zu stehen.«

Ein Koch? Gab es für mich kein Entrinnen vom Essen? Mitgefühl für jemand, der einem Cordon Bleu fröhlich den Rücken kehrt, war mir nicht gegeben. »Auch nur halbtags für Onkel Solomon zu arbeiten«, sagte ich scharf, »hätte sich natürlich nicht mit deinem künstlerischen Gewissen vertragen. Ich nehme an, du haust in einer zugigen Mansarde?«

Ben faltete seine Serviette und warf sie auf den Tisch. »Ich bin nicht am Verhungern, dank der Kultivierten Herrenbegleitung und dank Frauen wie dir.«

»Du meinst ›sinnenfreudige‹ Mauerblümchen.« Schwerfällig erhob ich mich und ergriff meine Tasche. »Aber du bist so beschissen verklemmt, dass du dich nicht traust, es auszusprechen.«

»Wie redest du!« Seine entrüstete Stimme folgte mir zum Ausgang. »Meine Mutter hat mir immer verboten, mit Mädchen zu spielen, die fluchen.«

Der Mann war nicht mal komisch. Wir traten aus der Gasthaustür in die schneidende Kälte, nur unser Schweigen war eisiger. Beim Losfahren fiel ihm die Wärmflasche ein. Er riss das Auto herum und verschwand wieder im Wirtshaus.

Die zweite Hälfte der Fahrt war doppelt so beschwerlich wie die erste. Die Nacht hatte sich um uns geschlossen, und unsere Scheinwerfer bohrten sich vergeblich in brodelnde Nebelschwaden – wir sahen keine drei Meter weit. Ben war ein guter Fahrer, aber selbst er hatte Schwierigkeiten, nicht im Graben zu landen. Je näher wir der Küste kamen, desto rauer und salziger wurde der Wind. Schnee wehte von den Bäumen und formierte sich zu dicken weißen Polstern. Wahrscheinlich war es gut, dass Ben und ich nicht miteinander redeten. Tante Sybil erwartete uns gegen sieben. Jetzt war es fast halb zehn. Wir fuhren durch das schöne Städtchen Walled Minsterbury und blieben auf Nordostkurs.

»Wenn wir Chitterton Fells erreicht haben, kannst du mich dann zum Haus deines Onkels dirigieren?« Bens Stimme brach das lange Schweigen mit solch einem Krächzer, dass ich schlaftrunken vor Kälte gegen das Lenkrad kippte und uns ins Schleudern brachte.

Ben benutzte ein Wort aus seinem Buch (ich konnte es ihm nicht mal verübeln), stieß mich grob mit dem Ellbogen weg und lenkte mühsam wieder geradeaus. »Bevor du uns beide umbringst – weißt du den Weg?«

Das war meine Bewährungsprobe. Leider bin ich eine von den Unglücklichen, die selbst unter normalen Umständen ihre eigene Haustür nur mit einem guten Stadtplan finden, und dies waren keine normalen Umstände. Ich konnte kaum Ben sehen, geschweige denn einen Wegweiser. »Es wird dir zwar nicht gefallen«, bemerkte ich im Plauderton, »aber ich war mit zwölf das letzte Mal hier … Knurr mich nicht an!« Ich stierte ins Dunkel. »In solchem Wetter strecken Leute ihre Hand aus und sehen sie nie wieder.«

»Vielen Dank«, kam es höhnisch von dem Unsichtbaren. Das Auto hopste hoch, rutschte aus und glitt ganz langsam gegen einen Baum oder Telegrafenmast oder irgendein anderes vertikales Hindernis, das in den schneegeschwängerten Nebelschwaden nichts zu suchen hatte.

Nicht oft, aber gelegentlich ist es ein Vorteil, viel zu wiegen. Jetzt trug ich redlich dazu bei, das Auto aus dem Graben zu schieben, zu ziehen und zu locken. Meine Anstrengungen brachten mir ein widerwilliges Lob ein. Ben nannte mich »Kumpel«! Eine Stunde später – meine Füße waren inzwischen zwei Scheiben Tiefkühlfisch – hatten wir das eigenwillige Vehikel auf die Straße gehievt. Schnaufend und schniefend stiegen mein Weggefährte und ich wieder ein.

Ich war zwar darauf vorbereitet, dass meine Wärmflasche an Unterkühlung gestorben war, aber zu meinem Schreck starb nun auch die Batterie. Der Motor gab einen asthmatischen Huster von sich, stotterte zweimal und verröchelte. Kein Horoskop hatte mir vorausgesagt, dass der Tag so enden würde. Unter einem viel zu dünnen Mantel klatschte mir ein nasser, zerfetzter Rocksaum um die Knöchel, und so stapfte ich eine öde Landstraße entlang, am Arm eines Mannes, der mir noch vor wenigen Stunden wildfremd gewesen war.

»Durchhalten«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne, »irgendein Dorf erreichen wir bestimmt noch vor Ablauf des Jahrhunderts.«

Ein Baum ragte uns plötzlich entgegen und ein dürrer Zweig griff nach meiner Wange. Das war zu viel. Ich war fertig – eine gebrochene Frau.

»Licht in Sicht!«, schrie Ben. Er brach in wildes Kriegsgeheul aus und warf mich fast um, aber dies war nicht der Augenblick für Vorwürfe. Zu unserer Rechten tauchte ein Haus auf, ein nächtlicher Spuk mit funkelnden gelben Augen. Unwillkürlich umarmten wir uns als zwei Kameraden, die tödliche Gefahren bestanden hatten.

»Auf geht’s, Ellie!« Er drückte meine Hand und wir kämpften uns weiter voran. Wenige Minuten später standen wir vor einem windschiefen Eisentor. »Das Ende der Wildnis!«, jauchzte er.

»Mehr als das«, sagte ich. »Kein Brieftaubenpärchen hätte uns übertreffen können. Das ist Merlins Schloss.«

Die dünne Frau

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