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11. Die Dämonen des Silbernen Zeitalters

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Um die Jahrhundertwende waren viele Russen auf der Suche nach neuen spirituellen Anregungen. Die Intellektuellen wandten sich vom materialistischen Positivismus des 19. Jahrhunderts ab und kehrten zur Kirche und anderen Formen der Spiritualität zurück. Es gab eine regelrechte Renaissance der Religion. Viele bemühten sich, die offizielle Russisch-Orthodoxe Kirche wiederzubeleben, die inzwischen gemeinhin als engstirnig, bürokratisch und in spiritueller Hinsicht tot galt; sie wollten der Kirche die Aura des Mysteriums und die alte Glut zurückgeben und ihr wieder Leben einhauchen. Andere lehnten die Kirche von vornherein ab und suchten neue Formen spiritueller Erfahrung, die noch eindrücklichere Begegnungen mit dem Heiligen versprachen. Ein regelrechtes Sinnbild der damaligen Zeit war die von den Schriftstellern Dmitri Mereschkowski, Sinaida Hippius und Dmitri Filissofow 1901 in St. Petersburg gegründete Religiös-Philosophische Gesellschaft, im Volksmund Bogoiskateli – die „Gottsucher“ – genannt. Mereschkowski gab sich als Prophet. Er wollte eine neue Glaubensrichtung begründen, basierend auf der Annahme, dass die Wiederkehr Christi unmittelbar bevorstehe und mit ihr ein neues, ein Drittes Testament geschrieben werde.1

Während der Epoche, die später als Russlands „Silbernes Zeitalter“ in die Geschichte einging, also von etwa 1890 bis 1914 – der Zeitraum ist interessanterweise fast genau mit dem Aufstieg und Fall Rasputins identisch –, stellten die gebildeten Schichten eine große Faszination für Mystik und Okkultismus zur Schau. Alle möglichen Spielarten des „Übernatürlichen“ waren in Mode – Tischerücken, Hypnotismus, Handlesen, Wahrsagerei, Telepathie und die Lehren der Rosenkreuzer. Es war die Zeit der Theosophie, einer Erfindung der russischstämmigen Amerikanerin Helena Blavatsky. Die Theosophie war eine vermeintliche Geheimlehre, die sich zugleich auf gnostische Evangelien und buddhistische Lehren stützte und behauptete, eine allen Kulturen der Welt innewohnende Weisheit zu synthetisieren, der das Versprechen universeller Brüderlichkeit innewohne. Der mystische Zauber der Theosophie begeisterte auch viele der kreativen Köpfe in Russland, beispielsweise die Philosophen Wladimir Solowjow und Nikolai Berdjajew, die Dichter und Schriftsteller Konstantin Balmont und Andrei Bely, den Komponisten Alexander Skrjabin und den Künstler Wassily Kandinsky. Groß in Mode war auch der Spiritismus, der mit der Hilfe eines speziellen „Mediums“ die Kommunikation mit den Toten ermöglichte. Ausgedacht hatten sich das Ganze im Jahr 1848 die Schwestern Kate und Margaret Fox aus Hydesville, New York. Im Sturm eroberte der Spiritismus Amerika, England (Königin Victoria und Sir Arthur Conan Doyle gehörten zu seinen Anhängern), Deutschland und Russland. Die Menschen strömten zu den Séancen, um in Kontakt mit ihren verlorenen Lieben zu treten, deren Geist sich durch monotone, spektrale Stimmen oder automatisches Schreiben manifestierte; manchmal materialisierten sich die Verstorbenen sogar als Ektoplasma. Die spiritistischen Sitzungen wurden so populär, dass die Kaiserliche Universität in St. Petersburg die „Wissenschaftliche Kommission für das Studium mediumistischer Erscheinungen“ einrichtete, die der Chemiker Dmitri Mendelejew leitete, der Vater des Periodensystems.

In Russland war der Hypnotismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts beliebter als in Westeuropa. Vor allem die St. Petersburger Psychiater bedienten sich dieser Praxis. Der Dichter Ossip Mandelstam war ein häufiger Gast im Haus des Petersburger Arztes Dr. Boris Sinani, der dafür bekannt war, seine Patienten allein „durch Suggestion“ zu heilen, wie Mandelstam es ausdrückte. Der bekannteste psychiatrische Hypnotiseur der damaligen Zeit war Wladimir Bechterew, der die Hypnose für seine „Psychoneurologie“ genannte Wissenschaft einsetzte.2

Die Faszination für das Okkulte griff so weit um sich, dass sie neben den russischen Künstlern und Intellektuellen schließlich auch die Mittelschicht erreichte. Spätestens 1914 war sie ein populärer Zeitvertreib. In jenem Jahr gab es in St. Petersburg 35 offiziell registrierte und mehrere Hundert informelle Okkultisten-Zirkel. Die Begeisterung für das Mystische beschränkte sich nicht mehr nur auf die Hauptstadt, sondern hatte bereits auf Moskau und die meisten großen und kleinen Städte in der Provinz übergegriffen. Viele Menschen nahmen das Okkulte sehr ernst, für andere war es einfach eine neue Form der Unterhaltung. In Russland tummelten sich Hellseher, Medien und Weissager jeglicher Couleur. Für jeden Geschmack war etwas dabei: Der „Geheimnisvolle Hund Jack“ war in der Lage zu erraten, wie alt und wie lange verheiratet man war oder sogar, wie viel Geld man in der Tasche hatte; es gab die indische Somnambule Madame Naindra und das polnische Medium Jan Gusik, der nicht nur die Geister von Alexander dem Großen, Napoleon und Puschkin erfolgreich anrufen konnte, sondern auch diejenigen verstorbener Tiere. Einige dieser Tiere waren so wild, dass die Teilnehmer solcher Séancen hinterher einen Arzt aufsuchen mussten.3

Bald befassten sich sogar jene Gruppen, die die große Mehrheit der russischen Bevölkerung ausmachten, die Arbeiter und Bauern, mit den neuen geistlichen Bewegungen und religiösen Praktiken. Immer mehr gingen wie Rasputin als „heilige Pilger“ auf Wanderschaft, der Glaube an Geister, Besessenheit, Wunder und Magie florierte. Arme Leute schlossen sich zusammen und gründeten ihre eigenen christlichen Gemeinden, auch ohne den Segen oder gar das Wissen der Kirche und ganz ohne Beteiligung des Klerus. Auch in den Städten interessierten sich immer mehr Arbeiter für ihr spirituelles Wohlbefinden. In Scharen liefen sie zu Mystikern und populären Predigern, die ihnen Erlösung versprachen.4

Die wohl bemerkenswerteste Gestalt dieser Art war Alexei Schtschetinin. Er kam 1854 in der Nähe von Woronesch zur Welt und wuchs in Stawropol auf. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt im Jahr 1879 verließ ihn seine Frau, und er begann ein neues Leben: Fortan trat er als Chlysten-Prophet auf und nannte sich „freier Sohn des Äthers“ – eine Bezeichnung, die er Michail Lermontows Gedicht Der Dämon (1829–39) entnommen hatte. Schtschetinin war ein launenhafter, unsympathischer Mensch. Er denunzierte konkurrierende Sekten bei orthodoxen Missionaren, nur um im nächsten Moment vor seinen Anhängern auf die orthodoxe Kirche zu schimpfen. Es hieß, er habe versucht, die Missionare daran zu hindern, sich mit seiner Sekte zu befassen; er soll ihnen junge Frauen geschickt haben, die die Geistlichen verführen sollten.5

1906 kam er nach St. Petersburg. Im Handumdrehen schlug er mit seinen Predigten eine Gruppe von Anhängern unter den örtlichen Fabrikarbeitern in seinen Bann. Auch Michail Prischwin wurde auf Schtschetinin aufmerksam und suchte ihn in seiner engen, stickigen Wohnung am Rande der Stadt auf. Er fand Schtschetinin inmitten seiner Jünger; der Meister selbst war betrunken und murmelte vulgäres Zeug vor sich hin. Einer seiner Anhänger, ein Mann namens Pawel Legkobytow, meldete sich zu Wort:

Ich bin der Sklave dieses Mannes. Ich weiß, er ist der vielleicht unangenehmste Mensch auf Erden, aber ich habe mich entschlossen, sein Sklave zu sein, und jetzt kenne ich den wahren Gott und nicht nur den Klang seines Namens. […] Er hat mich aufgenommen, er hat mich getötet, und jetzt bin ich wiedergeboren und führe ein ganz neues Leben. Genauso solltet ihr Intellektuellen sterben und von den Toten auferstehen, gemeinsam mit uns. Schauen Sie sich uns alle an, dann sehen Sie, wie wir einander durch die Sklaverei kennengelernt haben – jenen Bottich, in dem wir alle eingekocht wurden, bis unser wahres Wesen zutage trat.

Prischwin war schockiert von dem, was vor seinen Augen geschah. Dieser „Christen-Zar“ war ein trunksüchtiger Betrüger, doch seine Gefolgsleute glaubten an ihn und schenkten ihm bereitwillig alles, was sie hatten – ihren kargen Lohn und ihre Ehefrauen obendrein. Schtschetinins Lieblingsmotto lautete: „Du bist größer als ich.“ Diese Worte lehrte er seine Jünger, und sie mussten sie ständig vor sich hinbeten. So brach er ihren Willen und brachte sie dazu, „sich in den Bottich zu werfen“. Er war ein Sadist, der seine Jünger leiden sehen wollte. „Ich musste ihn entkleiden und mich neben ihn legen“, erzählte eine Anhängerin. „Dann zwang er mich, seinen Körper zu küssen und an seinem Glied zu saugen, während er die Heilige Schrift rezitierte – ‚den Reinen ist alles rein‘.“6

Es gab auch Intellektuelle, die von Schtschetinin fasziniert waren. Einer von ihnen war Dmitri Mereschkowski, den Schtschetinin unbedingt als Jünger gewinnen wollte. „Unser Leben ist ein siedender Bottich“, teilte der Sektenführer Mereschkowski mit, „und wir selbst werden in diesem Bottich gekocht, wir haben nichts, das uns gehört […]. Stürzen Sie sich mit uns hinein, sterben Sie mit uns, und wir werden Sie wiederauferstehen lassen. Sie werden als Führernatur wiedergeboren.“ Mereschkowski lud Schtschetinin zu einem Treffen der Religiös-Philosophischen Gesellschaft ein, wo Sinaida Hippius ihn kennenlernte. Sie sah in ihm eine „demokratische Ausgabe“ Rasputins und bemerkte, dass die beiden sogar die gleiche Kleidung trugen; nur sei es Schtschetinin nicht gelungen, Kontakt zu den Kirchenführern herzustellen – daher habe er sich auf der sozialen Leiter nicht nach oben, sondern nach unten orientiert und seinen Platz unter den Petersburger Proletariern gefunden. „Ein lebhafter Mensch“, schrieb sie, „offenbar mit einem starken Willen, herrisch und besessen von einer rasenden Leidenschaft, zu reden.“ In Schtschetinins Philosophie und seiner Botschaft – Selbstverleugnung und symbolischer Selbstmord des Individuums auf dem Weg zu einer höheren Daseinsstufe mithilfe der Gemeinschaft – glaubte Hippius, marxistische Ideale wiederzuerkennen.7 Später, nach der Revolution, durfte Hippius Schtschetinins Polizeiakte einsehen. Darin fand sie ein großes Foto von ihm als Frau verkleidet, umgeben von seinen Anhängerinnen. Was sie dort las, verschlug ihr die Sprache, und ihr wurde klar, dass Schtschetinin und Rasputin einander doch nicht so ähnlich gewesen waren, wie sie geglaubt hatte. „Die Schändlichkeiten und Ausschweifungen des Letzteren verblassen im Vergleich zu dem, was Schtschetinin getrieben hat, um seine unstillbare und unbändige Lust zu befriedigen und eine Verderbtheit auszuleben, die an Sadismus grenzte.“8

Als ultimativen Test seiner Macht über die Jünger zwang Schtschetinin alle Eltern, ihre Kinder in ein Waisenhaus zu stecken – und zwar ein Waisenhaus seiner Wahl, damit sie nicht nur ihre Kinder verloren, sondern obendrein niemals in der Lage wären, sie wiederzufinden. Doch damit ging er einen Schritt zu weit: Im Jahr 1909 stürzten ihn seine Anhänger und setzten Pawel Legkobytow an seine Stelle, jenen Mann, den Prischwin in Schtschetinins Wohnung gesehen hatte. Als erste Amtshandlung arrangierte Legkobytow die kollektive Hochzeit aller Frauen in der Sekte mit den männlichen Anhängern.9

Schtschetinin wurde verhaftet, und 1912 wanderte er ins Gefängnis. Sektenspezialist Alexander Prugawin schlug seiner Nichte Vera Schukowskaja vor, die ein gewisses Interesse an solchen Charakteren an den Tag legte, Schtschetinin in der Strafanstalt zu besuchen. Schukowskaja war von der Idee begeistert: „Er ist einer der letzten Propheten, man könnte auch sagen: einer der letzten lebenden Götter. Seine Gabe, seinen Willen nicht nur der Seele, sondern auch dem Leib seiner Jüngerinnen aufzuzwingen, ist ganz einfach bemerkenswert, zumal dieser Mann so freizügig mit dieser Gabe umgeht. Er hat mehrfach vor Gericht gestanden, sogar wegen Vergewaltigung. Und jetzt sitzt er im Gefängnis, aber nicht weil er seine gefährlichen Ketzereien verbreitet hat, sondern wegen Verführung einer Minderjährigen.“10 Schukowskaja war zutiefst schockiert von dem, was sie hinter den Gitterstäben seiner Zelle sah. „Er starrte mich hungrig an, mit zwei leuchtenden, starren Augen, ganz unverkennbar den Augen eines Chlysten.“ Schtschetinin zitterte und strahlte eine große Anspannung aus, wie ein Wolf in einem Käfig, so kam es ihr vor, der ungeduldig von einem Bein aufs andere tritt. Er fing laut zu reden an, zu gestikulieren und umherzuspringen. Dann begann er, ihr das Geheimnis des Lebens darzulegen, aber seine Worte waren nichts als ein chaotisches, unzusammenhängendes Kauderwelsch – „die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus“, und es war ihr kaum möglich, ihrem Sinn zu folgen. Seine Macht war abstoßend und faszinierend zugleich: „Ein süßes, quälendes Glücksgefühl stieg in mir empor, immer höher und höher, bis es meinen Hals erreichte. Ich dachte bei mir: Ich werde ersticken, und das ist dann mein Ende. Ich werde nie wieder etwas anderes empfinden.“ Als Schukowskaja das Gefängnis verließ, war sie zutiefst aufgewühlt von ihrer Begegnung mit diesem eingesperrten Tier, das auf mysteriöse Weise die widerstreitenden Kräfte von Gott und Satan in sich vereinte.

Einige Zeit zuvor hatte Schtschetinin Darja Smirnowa heiraten wollen, die sogenannte „Ochtinskaja-Jungfrau “, die an der Ochta, einem Nebenfluss der Newa im Osten von St. Petersburg, einer Chlystensekte vorstand. Sie war hübsch, trug stets ein grünes Kleid, und in ihrem gepuderten und geschminkten Gesicht saßen, wie Prischwin es ausdrückte, zwei „kalte Augen“. Intellektuelle wie Prischwin, Wjatscheslaw Iwanow und der Dichter Alexander Blok waren von dieser Frau fasziniert. Sie besuchten sie und luden sie ein, vor der Religiös-Philosophischen Gesellschaft zu sprechen. Im Gegenzug bot Smirnowa an, ihnen die geheimen Methoden beizubringen, mit denen man andere Menschen kontrollieren könne, und sie verkündete: „Wer mich für eine Frau hält, der wird eine Frau finden. Wer mich für einen Gott hält, der wird einen Gott finden.“ Sie sprach über sichtbare und unsichtbare Welten und die Astralsphäre.

Im März 1914 stand Smirnowa in St. Petersburg vor Gericht. Man legte ihr gleich mehrere Vergehen zur Last, unter anderem religiöse Perversion und Mitschuld am Tod zweier Frauen, denen sie befohlen hatte, 40 Tage lang zu fasten. Prischwin trat beim Prozess als Entlastungszeuge auf und teilte dem Richter mit, er halte Smirnowa für eine „Eva der Armen“. Doch mit dieser Meinung stand er ziemlich allein da. Wladimir Bontsch-Brujewitsch, der der Verhandlung als Sachverständiger beiwohnte, sagte aus, Smirnowa habe ihre Anhänger gezwungen, ihr schmutziges Badewasser und sogar ihren Urin zu trinken. Es war auch von sexuellen Perversionen die Rede. Das Gericht sprach Smirnowa schuldig. Ihr Eigentum wurde konfisziert, und sie wurde nach Sibirien verbannt.

Und dann war da noch der seltsame Fall von Valentin Swenzizki, einem russisch-orthodoxen Priester und Autor. Er hatte sowohl die „Christliche Bruderschaft des Kampfes“ als auch die Religiös-Philosophische Gesellschaft von Moskau mitbegründet und vertrat die Meinung, der Weg zu Christus führe über Leid, fleischliche Sünden und sogar Folter. 1910 schrieb Swenzizki Folgendes über Christen, die geistige Erneuerung allein mit friedlichen Mitteln suchten:

Erwecke in ihnen grausame Lust und die blutigen Flammen sinnlicher Begierde! Sie sollen mindestens ein Mal nach ihren gelehrten Versammlungen in eine Orgie verfallen, die so wild ist, dass sie alles Menschliche verlieren. […] Der Herr möge ihren Ehefrauen Liebhaber schicken. Und nicht nur einen, sondern derer viele. Und nicht reine, anständige Liebhaber, sondern besonders verdorbene und brutale. Und diese Ehefrauen mögen lernen, ihre Gatten zu betrügen […], sie mögen lernen, ihren Körper der Schande und der Lust hinzugeben. Vergifte ihre „keuschen“ Seelen mit Lust, wecke in ihnen die niedersten Instinkte! All das gib ihnen, damit sie errettet werden können!

Im Jahr 1908 veröffentlichte Swenzizki den Skandalroman Der Antichrist, dessen Held unter Berufung auf Nietzsche Gut und Böse (sowie eine gehörige Portion Sadismus) miteinander mischt, um sein eigenes moralisches Universum zu schaffen. Swenzizkis Freund Mark Wischnjak beschrieb dessen Glauben als „vulgäre Weisheit des gemeinen Volkes: Wenn du nicht sündigst, kannst du nicht bereuen, wenn du nicht bereust, kannst du nicht errettet werden.“

Viele Frauen waren – wie Wischnjak und andere angemerkt haben – ganz vernarrt in Swenzizki. Es gab die aberwitzigsten Gerüchte über sein Sexualleben, und niemand konnte sicher sein, wo die Wahrheit endete und die Legendenbildung begann. Sicher ist, dass er drei junge, attraktive Frauen verführte und mit jeder eine Tochter zeugte. Keine der Frauen nahm der jeweils anderen ihre Existenz übel oder warf Swenzizki Untreue vor. Die Mitglieder der Religions-Philosophischen Gesellschaft sahen das jedoch anders und setzten ihn vor die Tür. Um 1909 herum half er, eine neue Bewegung – die Golgotha-Christen – ins Leben zu rufen. Sie ging von dem Grundsatz aus, dass die Menschheit nur gerettet werden kann, wenn jeder Mensch Christus nacheifert, indem er sein eigenes Golgatha erlebt. Die neue Gesellschaft veröffentlichte ihre Ideen in der Wochenschrift Das neue Land, zu deren Autoren Alexander Blok, der symbolistische Dichter Waleri Brjussow und der spätere Nobelpreisträger Iwan Bunin gehörten. Eben dort schrieb der Priester Iona Brichnitschow über Swenzizki: „Dir wurden die Mysterien anvertraut… / Dir wurde das Wort des Testaments anvertraut… / Du bist nicht zufällig hier. / Du bist das Licht eines fernen Lichts. / Geh, verbreite das Licht. / Es ist an der Zeit, zu handeln. / Erwartet keine Gnade. / Den Propheten wird keine Gnade gewährt.“11

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Um die Jahrhundertwende war die rastlose Suche nach spiritueller Erfüllung ein gesamteuropäisches Phänomen. Zum großen Teil lässt sich das durch den schwindenden Einfluss der Kirche beziehungsweise der institutionalisierten Religion im Allgemeinen erklären, den man überall im Westen beobachten konnte. In Russland gab es darüber hinaus eine Reihe spezifischer Faktoren, die dieses spirituelle Bedürfnis noch dringlicher machten. Vom Ende der Leibeigenschaft im Jahr 1861 bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts hinein erlebte Russland eine weitaus tiefer greifende Umwälzung als die europäischen Länder: Die traditionelle, auf Landwirtschaft ausgerichtete Gesellschaft versuchte, sich praktisch über Nacht zu modernisieren. Hinzu kam die vernichtende Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg, gefolgt von der Revolution von 1905, die die gewohnte Ordnung in ihren Grundfesten erschütterte und die Russen entfremdet und mit der Vorahnung einer drohenden Krise zurückließ. Es schien, als könnten die alten Institutionen und die alten Überzeugungen, die mit diesen Institutionen zusammenhingen, die beunruhigenden Fragen nicht mehr beantworten, welche die neue und für viele Menschen erschreckende Welt aufwarf.12

Dass der Okkultismus so populär wurde, nährte in der Bevölkerung den Glauben, dass allerorten diabolische Kräfte am Werk waren. Das wiederum führte zu Verschwörungstheorien – man suchte nach geheimen Komplotten und nach Staatsfeinden, die sich unter falscher Identität im Land aufhielten. Die politische Rechte vermutete die internationale jüdische Freimaurerei hinter den Problemen. Der Erste Weltkrieg verschärfte diese Glaubensmuster später noch und ließ sie schließlich in einer Art nationaler Psychose kulminieren, doch der Glaube an „dunkle Kräfte“ hatte sich schon mehrere Jahre zuvor festgesetzt. So schrieben Wjatscheslaw Iwanow und die Theosophin Anna Minzlowa um 1906 an den Romanschriftsteller Andrei Bely, dass „wirklich Feinde existieren, die mit dem, was sie an Negativem von sich geben, Russland vergiften; diese Feinde sind Okkultisten aus dem Osten, die das Unterbewusstsein des russischen Volkes beeinflussen. Unter der Sichel des abnehmenden Mondes entfesseln sie wilde Leidenschaften.“ Das Volk werde beschossen mit „okkulten Pfeilen aus dem Reich der Dunkelheit, das Russland ganz bewusst demoralisiert“.13

Nicht nur von den angeblichen „dunklen Kräften“ waren die Leute geradezu besessen, sondern auch vom Teufel. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg schien Satan überall zu sein, von Anton Rubinsteins Oper Dämon (1871/1872) bis zu Michail Wrubels Gemälden „Der Dämon“ (1890), „Liegender Dämon“ und „Besiegter Dämon“ (beide 1902). Wladimir Solowjow quälte es regelrecht, dass er nicht mehr an die traditionelle Kirche glauben konnte. Ihn plagten Visionen von Dämonen, und er glaubte sogar, er habe Satan in Fleisch und Blut gegenübergestanden. Sein letztes literarisches Werk trug den Titel Eine kurze Geschichte vom Antichristen (1899).14 Der bekannte Schriftsteller Leonid Andrejew ließ in seiner Tragödie Anathema von 1909 ebenfalls den Teufel auftreten, und der Komponist Alexander Skrjabin fürchtete sich vor seiner eigenen sechsten Klaviersonate. Weil er glaubte, dass dämonische Kräfte sie verdorben hatten, weigerte er sich standhaft, sie öffentlich aufzuführen. Skrjabin hielt sich selbst für Gott, wenn man einigen seiner späteren Gedichte glauben darf, und versuchte sogar, über das Wasser des Genfer Sees zu wandeln, allerdings ohne Erfolg. Nachdem er mit seiner siebten Sonate versucht hatte, die Dämonen, die ihn heimsuchten, zu vertreiben, komponierte er 1913 eine neunte Sonate, die man „Die schwarze Messe“ nannte und die Hinweise auf Teufelsanbetung, Sadismus und sogar Nekrophilie enthält.15

Auch Autoren wie Alexander Dobroljubow, Waleri Brjussow und Andrei Bely waren von Schwarzer Magie und Dämonen regelrecht besessen. Der 1914 erschienene dritte Band der Mystischen Trilogie des Religionsphilosophen Mitrofan Lodyschenski, der den Titel Dunkle Kräfte trägt, untersucht alle Aspekte solcher Einflüsse auf die menschliche Seele, auch diejenigen des Teufels und des Antichristen. Der Schriftsteller Alexander Blok beschäftigte sich ebenfalls ausführlich mit Satan, und zwar nicht nur literarisch: Er war der Ansicht, dass eine ganz reale dämonische Macht in Russland entfesselt worden sei, vor der niemand die Augen verschließen dürfe. Als er 1917 für die Außerordentliche Untersuchungskommission tätig war, schrieb Blok, um die letzten Tage der Romanow-Dynastie zu verstehen, müsse man sie mit den Augen eines „Dämons“ betrachten.16

Der Glaube an das Übernatürliche, an dunkle Kräfte, die Russland still und heimlich in Richtung Apokalypse steuerten, wobei der Teufel höchstpersönlich am Ruder war – all das kam in der öffentlichen Wahrnehmung Rasputins zusammen. Man kann gar nicht genug betonen, dass Rasputins Image, wie es sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg herauskristallisierte und bis zum heutigen Tag erhalten hat, weniger auf seine Person, seinen Charakter und das, was er tatsächlich tat, zurückzuführen ist als vielmehr auf den Zeitgeist im Russland des anbrechenden 20. Jahrhunderts – einen Zeitgeist, der auf krankhaften Vorstellungen basierte. Kosmische Kräfte bestimmten die Zukunft des Landes, und die Tatsache, dass es einem einfachen Bauern nicht nur gelungen war, sich in den Palast einzuschleichen, sondern auch das absolute Vertrauen des Zaren zu gewinnen, konnte nur eines bedeuten: Entweder war er ein von Gott gesandter Engel oder ein Diener des Teufels. Iliodor meinte es mitnichten metaphorisch, als er sein Buch Der heilige Teufel nannte.17 Als die Jahre ins Land gingen und immer mehr Krisen Russland erschütterten, wuchs die Überzeugung, dass der Bauer aus Pokrowskoje nur ein Diener des Teufels sein konnte. Bloks Mutter war sich sicher, dass Rasputin entweder der Teufel oder der Antichrist war und die Wurzel allen Übels, sprich: aller Probleme Russlands. Sogar der russische Außenminister Sergei Sasonow bezeichnete Rasputin als Antichrist.18 Noch zu Lebzeiten hörte Rasputin auf, ein Mensch zu sein, und wurde zur gespenstischen Verkörperung einer beängstigenden Epoche. Die Neue Sonntagabend-Zeitung beschrieb dieses Phänomen wie folgt:

Rasputin ist ein Symbol. Er ist gar keine reale Person. Er ist das typische Produkt dieser unserer merkwürdigen Zeit, wo wir immer endlos erschöpft sind, wo wir das Gefühl haben, wir seien von giftigen Miasmen umgeben, die aus dem Sumpf aufsteigen, wenn ringsum die Dämmerung hereinbricht und im Dämmerlicht seltsame Gestalten aus ihren engen Höhlen gekrochen kommen – Leichenfresser, Fledermäuse, Untote und böse Geister aller Art.19

Und die Erde wird zittern

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