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16. Der erste Test

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Die Untersuchung fügte Rasputin keinen erkennbaren Schaden zu, sein Aufstieg in St. Petersburg und am Hof ging unvermindert weiter. Die wenigen Erkenntnisse, die wir über seine ersten Jahre in St. Petersburg haben, weisen darauf hin, dass sich Rasputin damals noch recht zurückhaltend verhielt. Oberst Dmitri Loman aus dem Büro des Palastkommandanten, ein ausgesprochener Bewunderer Rasputins, erinnerte sich:

Damals war Rasputin ohne jeden Fehl und Tadel, weder betrank er sich, noch verhielt er sich irgendwie abseits der Norm. Rasputin machte auf mich einen sehr guten Eindruck. Er empfing Leute, die spirituell erkrankt waren, und wie ein Arzt bei einer körperlichen Krankheit eine Diagnose erstellt, wusste Rasputin sofort, wonach sie suchten und was mit ihnen nicht in Ordnung war. Seine schlichten Umgangsformen und seine Zärtlichkeit für sein Gegenüber beruhigten die Menschen.1

Angesichts der Untersuchung im Vorjahr beschloss Alexandra, sich selbst ein abschließendes Urteil zu bilden. Dazu schickte sie Feofan gegen Ende des Winters 1908 zusammen mit Rasputin nach Pokrowskoje; Feofan sollte sich ansehen, wie Rasputin dort lebte, und ihr dann berichten. Bevor Rasputin abreiste, schenkte Alexandra ihm ein Hemd, das sie selbst genäht hatte. Er schrieb ihr zum Dank: „Ein Hemd – ein Gewand – die Freude des ewigen Lebens. Deine Nähkunst ist eine Münze aus Gold. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie dankbar ich für diese Deine Gunst bin.“

Die Reise scheint insgesamt positiv verlaufen zu sein, doch das Hemd bescherte Rasputin nichts als Ärger. Er zeigte es im Dorf herum, aber kaum jemand glaubte ihm, dass die Zarin es für ihn genäht hatte. Und diejenigen, die es glaubten, waren neidisch, wie Rasputin in einem Brief vom 8. März feststellte:

Hallo Mama und Papa, meine Süßen und Liebsten! […] Sie können das Hemd nicht ertragen, weil es für sie ein zu großer Ausdruck der Zuneigung ist, etwas, mit dem sie nicht gerechnet haben, etwas, das man noch nie gesehen hat, vom Anbeginn der Zeiten bis jetzt, denn tatsächlich hat dieses Hemd all meinen Erwartungen zum Trotz eine solche Bedeutung, sozusagen ein großes, außergewöhnliches Gewicht. Hier lässt es Dein Werk heller strahlen, dort ist es ein Stück Gold; und bei der bevorstehenden Wiederkunft Christi wird es ein besonders kostbares Stück Gold sein und all meine Sünden bedecken. Alle haben das verstanden, und da sie dergleichen nie für einen engen Freund getan haben, wurden sie wütend.2

Als sie auf der Rückreise durch Nischni Nowgorod kamen, beschloss Feofan offenbar, von ihrer vorgesehenen Route abzuweichen und weiter südlich das Diwejewo-Kloster in der Nähe von Sarow zu besuchen. Rasputin wollte ihn nicht begleiten und reiste direkt weiter nach St. Petersburg. Später hieß es, Rasputin habe das Kloster gemieden, weil der dortige Bischof ihm einmal gesagt habe, er solle sich nie weder blicken lassen. Als Feofan nun auf die Mutter Oberin traf, nahm sie eine Gabel, warf sie zu Boden und fauchte: „So sollten Sie es auch mit Ihrem Rasputin machen!“ Geschichten wie diese tauchen in Rasputin-Biografien immer wieder auf. Wahrscheinlich ist nichts davon wahr, denn als Feofan heimkehrte, hatte er Alexandra nur Positives zu berichten über das, was er auf der Reise gesehen und gehört hatte.3

Am 12. März trafen Rasputin und Feofan Nikolaus und Alexandra in Anna Wyrubowas bescheidener Wohnung in der Kirchenstraße 2 in der Nähe des Alexanderpalastes in Zarskoje Selo. „Es war so schön!“, schrieb Nikolaus über das Treffen in sein Tagebuch.4 Das Ausrufezeichen ist äußerst vielsagend. Nikolaus benutzt in seinem Tagebuch fast nie Ausrufezeichen, es ist also ein deutlicher Hinweis darauf, welche Gefühle er für Rasputin hegte. Rasputin muss sich ebenfalls sehr gefreut haben über das Wiedersehen, denn noch wenige Tage zuvor hatte er Nikolaus und Alexandra einen Brief geschickt, in dem er sein Bedauern für ein paar unpassende Worte zum Ausdruck brachte und sie um Verzeihung bat: „Man hat mich nicht so verstanden, wie ich es verdient hätte. Bitte beurteilt mich nicht anhand meiner Sünden, sondern anhand der Gnade Gottes. Redet miteinander und findet Trost in diesen Worten.“ Zusammen mit dem Brief sandte er ihnen eine Ikone, die er selbst gemalt hatte und die Christus zeigte, wie er Nikolaus, Alexandra und Alexei segnete. „Christus persönlich rettet und erlöst sie“, war darauf zu lesen. Anlass hierfür war ein Unfall im vorherigen September, als die „Standart“, die Jacht der Zarenfamilie, auf Grund gelaufen war und die Familie von Bord geholt werden musste. Rasputin schrieb, die Ikone solle sie daran erinnern, dass Gott über sie wache. „Euer Glaube wird niemals nachlassen. Und dies hier wird Euch immer gemahnen, dass Er stets bei Euch ist und seine schützende Hand über Euch hält.“ Später empfahl er dem Zaren, die Ikone an Alexei weiterzugeben, „als Andenken“. Rasputins Brief endete mit den Worten: „Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Ich bin ein Sünder, errette mich.“5

Nikolaus und Alexandra sahen Rasputin noch mehrmals, am Abend des 10. und des 23. Mai. Beide Male trafen sie sich bei Wyrubowa, saßen lange zusammen und unterhielten sich.6

*

Um dieselbe Zeit herum lernte Fürst Nikolai Schewachow Rasputin kennen. Schewachow war ein Mystiker, der geradezu besessen war von Visionen der Apokalypse und der häufig zu diversen Klöstern in ganz Russland pilgerte. Er lernte Rasputin in der Wohnung von Alexander Pistohlkors, Anna Wyrubowas Schwager, kennen:

Was ich seltsam fand, war weniger Rasputin, der sich ausgesprochen gut benahm, so gut, dass er mir fast leid tat, sondern wie sich die dort versammelten Leute ihm gegenüber verhielten. Einige meinten in jedem noch so bedeutungslosen Wort von ihm eine Prophezeiung oder irgendeinen verborgenen Sinn finden zu müssen. Andere verehrten ihn so sehr, dass sie am ganzen Körper zitterten, als sie sich ihm zaghaft näherten, um sich vor seiner Hand zu verbeugen … Rasputin sah sich hilfesuchend um, wie ein Hase, dem der Hund nachstellt. Er war ganz offensichtlich verlegen, hatte zugleich aber Angst, er könne mit einem unbedachten Wort, einer Geste oder Bewegung seine Aura zerstören, von der er anscheinend gar nicht genau wusste, worin diese eigentlich bestand. Waren an jenem Abend auch Leute anwesend, die nur so taten? Mag sein, ich weiß es nicht … Aber die Mehrheit glaubte ganz ehrlich und aufrichtig an Rasputins Heiligkeit, und diese Mehrheit bestand aus einem typischen Querschnitt der allerobersten Schicht der Petersburger Gesellschaft. Leuten mit ganz und gar reinen und erhabenen religiösen Überzeugungen, die lediglich eines Vergehens schuldig waren: Keiner von ihnen hatte auch nur die geringste Ahnung davon, was ein „Starez“ eigentlich war und wie seine Welt aussah.

Wenig später lud Pistohlkors den Fürsten ein, ihn zu Baron Nikolai Rausch von Trauenberg zu begleiten, einem Beamten im Finanzministerium. In dessen Haus auf der Wassiljewski-Insel sollte an jenem Abend Rasputin sprechen. Zu jener Zeit waren Rasputins Predigten – wenn man sie so nennen will – eine echte Sensation. Dabei redete er gar nicht viel, sondern beschränkte sich auf kurze Sinnsprüche und einige abrupte, unzusammenhängende Worte, gab sich vage und geheimnisvoll. Der Salon war voll von Aristokraten – und ein paar Leuten, die Schewachow als „verdächtig“ bezeichnete und die Rasputin die ganze Zeit über anstarrten, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Einer redete laut vor sich hin und erzählte, wie Rasputin ihn geheilt habe. Als Rasputin das mitbekam, schnitt er ihm unwirsch das Wort ab. In einer Ecke stand eine merkwürdige Frau, die Rasputin ununterbrochen mit großen Augen ansah und ganz offensichtlich mit sich zu kämpfen hatte, um nicht in Ekstase zu geraten. Pistohlkors flüsterte dem Fürsten zu, das sei Olga Lochtina; sie habe Mann und Familie verlassen, um bei Rasputin zu sein. Schewachow traute seinen Augen und Ohren nicht. Offenbar war er in einem Irrenhaus gelandet.

Rasputin saß an einem Tisch und knackte laut Nüsse mit den Händen. Als er Pistohlkors und Schewachow sah, verwies er ein paar junge Damen recht schroff des Tisches und bat die beiden, Platz zu nehmen. Er fragte sie, warum sie gekommen seien – um ihn anzustarren oder um zu lernen, wie man in dieser Welt Erlösung finden könne? „Er ist ein Heiliger“, rief Lochtina dazwischen. „Ein Heiliger!“ – „Hüte deine Zunge, du Närrin“, blaffte Rasputin sie an. Er erzählte ihnen, nur wenige Menschen seien in der Lage, der Welt komplett zu entsagen und in ein Kloster zu gehen. Die meisten hätten die Verpflichtung, in dieser Welt zu bleiben. Aber wie könne man Erlösung finden, wenn man von so viel Versuchung umgeben sei? Es sei nicht genug, ein gottgefälliges Leben zu leben, wie es einem die Kirche weismachen wolle. Denn was genau solle das bitteschön sein: ein gottgefälliges Leben? Was bedeutete das konkret? Wie fand man zu Gott? Während er so sprach, verstummten alle Anwesenden und beugten sich vor, um seinen Worten zu lauschen. „Begebt euch an einem Sonntag nach der Kirche, wenn ihr gebetet habt, aus der Stadt heraus und auf ein Feld“, sagte Rasputin zu ihnen.

Lauft immer weiter, bis ihr den hässlichen Ruß der Schornsteine der Stadt nicht mehr sehen könnt und vor euch nichts weiter liegt als der blaue Horizont, der das Fernweh weckt. Haltet inne und besinnt euch auf euch selbst. Ihr werdet erkennen, wie klein und unbedeutend ihr seid, wie hilflos, und die Hauptstadt kommt euch auf einmal wie ein Ameisenhaufen vor, ihre Bewohner wie ein Schwarm umhersummender Insekten. Was geschieht dann mit eurem Stolz und eurer Eitelkeit, mit Macht und Rang? Ihr werdet in den Himmel zu Gott schauen und zum ersten Mal sehen, dass er alles ist, was eure Seele braucht. Ihr werdet dies tief in eurem Inneren fühlen, und ihr werdet eine große Zärtlichkeit spüren. Das ist der erste Schritt zu Gott. Tragt dieses Gefühl mit euch zurück in die Stadt und schützt es mit eurem Leben! Alles, was ihr tut und sagt, lasst es von Gott kommen, den ihr in euch hineingelassen habt. Dann verwandelt es sich, und aus den Taten und Worten dieser Welt werden Taten und Worte der nächsten Welt. Dadurch werdet ihr Erlösung finden, denn euer Leben wird nicht länger dazu dienen, eure Leidenschaften zu verklären, sondern Gott zu preisen. Denkt daran: Christus hat gelehrt, dass das Reich Gottes in euch ist. Findet Gott, und lebt in ihm und mit ihm!

Dann war Rasputin wieder still. Schewachow war sichtlich gerührt. Zwar hatte Rasputin nichts gesagt, was man nicht schon Dutzende Male gehört hätte. Aber die Art und Weise, wie er es gesagt hatte, die einfachen, konkreten Worte und Bilder, mit denen er es ausgedrückt hatte, ohne jede lebensferne Theologie und Bibelsprüche – das erlebte man selten, und es hatte eine ungeheure Kraft. Er bediente sich bei seiner eigenen Lebenserfahrung, um den Menschen die Glaubensinhalte zugänglich zu machen, und für Schewachow war genau dies das Geheimnis von Rasputins Erfolg und der Grund für seinen großen Einfluss. Er konnte gut nachvollziehen, warum Frauen wie Lochtina, die ohnehin für „religiöse Ekstase“ anfällig waren, einen Heiligen in ihm sahen.7 Schewachow wurde selbst ein treuer Anhänger Rasputins, und im September 1916 erhielt er seinen Lohn dafür, als er zum stellvertretenden Oberprokuror des Heiligen Synod ernannt wurde. Bis dahin hatte er als kleiner Beamter sein Dasein gefristet.

Auch Erzbischof Germogen war von Rasputin angetan. „Dieser Mann ist ein Sklave Gottes“, teilte er Schewachow mit, „man sündigt bereits, wenn man nur darüber nachdenkt, negativ über ihn zu urteilen.“ Germogen, der 1858 als Georgi Dolganow zur Welt gekommen war, hatte Rasputin ebenfalls gerade erst kennengelernt. Er wurde einer seiner treuesten Anhänger – und später dann einer seiner größten Feinde. Wie Feofan und Iliodor (sein Protegé) war Germogen Absolvent des Petersburger Theologischen Seminars, und wie Iliodor hatte er extreme religiöse Überzeugungen. Bevor er im Dezember 1890 als Mönch die Tonsur empfing, kastrierte er sich mit eigener Hand, um durch Abtöten der Fleischeslust moralische Vollkommenheit zu erreichen. Das führte zu Gerüchten, dass Germogen den Skopzen angehörte, jener Sekte, deren Mitglieder sich ebenfalls kastrierten.8 Anfang der 1890er-Jahre diente er in Georgien als Inspektor des Seminars von Tiflis. Einer seiner jungen Seminaristen dort war Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, der sich später Stalin nannte. Germogen erwischte den jungen Josef mit einer Ausgabe von Victor Hugos Roman 1793, den die Mönche wegen der positiven Darstellung der Französischen Revolution auf den Index gesetzt hatten, und steckte ihn in den Karzer. Im März 1903 wurde Germogen an den Bischofssitz von Saratow und Zarizyn berufen, wo er bis zu seinem verhängnisvollen Zerwürfnis mit Rasputin Anfang 1912 blieb. Germogen war ein Antisemit und Nationalist. Als offener Anhänger der rechtsextremen Schwarzhunderter predigte er Fremdenhass und einen blinden Glauben an die russische Autokratie. Zu Beginn des Jahrhunderts war er eine der einflussreichsten und mächtigsten Gestalten der Russisch-Orthodoxen Kirche.9

Wenn es darum ging, mäßigend auf die Angehörigen der höheren Geistlichkeit einzuwirken, war Germogen komplett fehl am Platz. Er war ein konsequenter Asket, aber er war auch unausgeglichen und neigte zu heftigen Wutanfällen. Viele fanden, dass sein christlicher Glaube unter seiner Begeisterung für die rechtsextreme Politik litt; er hasste die Intelligenzija und war der Ansicht, alle Revolutionäre gehörten aufgeknüpft. „Germogen ist ein Narr, der sich selbst betrügt“, schrieb Erzbischof Antoni (Chrapowizki) einmal einem Freund. „Er ist geistig stark eingeschränkt und insgesamt nicht ganz normal. Als Student an der Universität von Noworossijsk hat er sich kastriert, und dadurch hat er sich jedes normalen Temperaments beraubt.“10 Germogen lernte Rasputin im Jahr 1908 kennen. Vorgestellt wurden sie einander durch Feofan, auf dessen Urteil Germogen große Stücke hielt, und er wurde nicht enttäuscht. Zumindest für eine Weile. Rasputin, fand Germogen, habe tatsächlich „den Funken Gottes“ in sich und sei auch sonst sehr talentiert. Mehrfach hatte Rasputin für Germogens seelische Nöte die passende Antwort parat. „Er eroberte mich“, sagte Germogen später, „genau wie er andere erobert hatte.“ Aber dann änderte Rasputin sich, und Germogen erkannte endlich, wer er wirklich war – zumindest behauptete er das: „Auch ich lag falsch, aber Gott sei Dank begriff ich rechtzeitig, was wirklich mit ihm los war.“11

Obgleich sich im Jahr 1908 weitere Personen, wie Fürst Schewachow und Erzbischof Germogen, dem Kreis um Rasputin anschlossen, nahm das Gerede in der Petersburger Gesellschaft zu. Einige Aspekte in der Vorgeschichte des Mannes aus Sibirien fand man recht beunruhigend. Bald erreichten die Gerüchte auch Schewachow.

Fürstin Jelisaweta Naryschkina (genannt Sisi) war die ranghöchste Hofdame der Zarin. Sie war Jahrgang 1840 und hatte bereits unter Zarin Maria Fjodorowna gedient. 1909 ernannte Alexandra sie zur Oberhofmeisterin. Dies war die wichtigste Position unter den 240 Damen, die offiziell für die täglichen Abläufe im Leben der Zarin am Hof zuständig waren. Naryschkina war, wie ein Zeitgenosse notierte, „äußerst scharfsichtig“ und sah „alles“.12 Und was sie sah, gefiel ihr nicht. Sie teilte Schewachow mit, Rasputin besuche ständig den Palast und treffe sich mit Alexandra, aber er werde stets durch einen Hintereingang eingelassen, damit sein Name nicht in den offiziellen Besucherlisten des Hofes auftauche. Schewachow war verblüfft, dass sie ihm so etwas erzählte, zumal bei ihrer allerersten Begegnung. Er gab ihr zu verstehen, wie gefährlich solches Gerede sei: „Glauben Sie mir, Jelisaweta Alexejewna, so über Rasputin zu sprechen, ist gefährlicher, als Rasputin selbst es ist. Das ist die Privatsphäre Ihrer Majestäten, und wir haben kein Recht, uns damit zu befassen. Wenn die Leute weniger über Rasputin redeten, dann gäbe es auch weniger Nahrung für all die Legenden, die eigens dazu verbreitet werden, das Prestige der Dynastie in Misskredit zu bringen.“13

Hofarzt Dr. Jewgeni Botkin teilte Schewachows Bedenken. In seinem Haus ließ er es nicht zu, dass jemand schlecht über die Majestäten sprach, und auch anderswo beunruhigten ihn solche Worte zutiefst. Er war regelrecht bestürzt, dass die Leute so redeten. „Ich verstehe einfach nicht, wie Menschen, die sich als Monarchisten betrachten und darüber sprechen, wie sehr sie Seine Majestät verehren, so leichtfertig all den Klatsch glauben können, der verbreitet wird, und ihn auch noch weitertragen“, teilte er seiner Familie mit. „Sie verleumden damit die Zarin und merken gar nicht, dass sie dadurch auch Ihren Erhabenen Gatten beleidigen, den sie doch zu verehren behaupten.“14

Ein solches Monarchisten-Ehepaar waren General Jewgeni Bogdanowitsch und seine Frau Alexandra. Bogdanowitsch war Mitglied des Ministerrats, Aufseher der Isaakskathedrale und Herausgeber einer Reihe monarchistisch-orthodoxer Publikationen. In Kirchenkreisen genoss er einen so guten Ruf, dass Vater Johannes von Kronstadt ihn den „Sämann des guten Wortes“ nannte. Wladimir Dschunkowski, der ehemalige Adjutant von Großfürst Sergei Alexandrowitsch und von 1908 bis 1913 Gouverneur von Moskau, schrieb über Alexandra, sie sei „eine tief religiöse Frau, die in der Lage ist, mit ihrem russischen Charme die Herzen sowohl der hochwohlgeborenen als auch der ganz gewöhnlichen Menschen zu erwärmen“. Jewgeni und Alexandra Bogdanowitsch waren glühende Nationalisten und prominente Unterstützer des Bundes des russischen Volkes, der sich ganz am rechten Rand des politischen Spektrums befand.

Drei Jahrzehnte lang veranstalteten sie einen der einflussreichsten Salons der Hauptstadt. Ab 1908 luden die Bogdanowitschs regelmäßig zu einem offenen Frühstück in ihre Wohnung am St.-Isaak-Platz 9 ein, bei dem der neueste Klatsch verbreitet wurde; es gab kaum ein Thema, das man dort nicht diskutierte. Ein ausgewählter Personenkreis wurde dann eingeladen, zum Abendessen zu bleiben. Zu den regelmäßigen Teilnehmern des Salons gehörten Graf (später Baron) Wladimir Frederiks, seit 1897 Minister des Zarenhofs, Fürst Wladimir Meschtscherski, Lew Tichomirow, Wladimir Purischkewitsch, Mitgründer des Bundes des russischen Volkes und später einer der Verschwörer, die das Attentat an Rasputin planten, sowie der konservative Publizist Michail Menschikow und Boris Stürmer, der spätere Premierminister. Jewgeni Bogdanowitsch nannte seine Wohnung in einem Brief an den Zaren aus dem Jahr 1910 einen „Treffpunkt für alles, was in unserem Vaterland patriotisch ist“ – nun wurde sie schnell zum Dreh- und Angelpunkt der Gerüchte und Verleumdungen um Rasputin. Dank einer ganzen Reihe von Quellen hatten die Bogdanowitschs direkten Zugang zu intimen Details des Lebens am Hof. Zu diesen Quellen zählten Alexandras Schwester Julia, eine Ehrendame der Zarin, Wladimir Dedjulin, Palastkommandant von 1906 bis 1913, und Nikolai Radzig, der über dreißig Jahre lang, von 1877 bis zu seinem Tod im Jahr 1913, Kammerdiener des Zaren war. Nikolaus nannte ihn gern seinen „treuen alten Freund“.15 Wenn er geahnt hätte, was Radzig hinter seinem Rücken so alles über ihn erzählte …

Zum Salon am 8. November 1908 brachte Radzig einige besonders beunruhigende Neuigkeiten mit. Er hatte sich vor Kurzem mit Wyrubowas Zofe, Feodossija Woino, angefreundet, und als er ihre Herrin einmal eine brave und ernsthafte Frau nannte, da habe das Mädchen aufgelacht und gesagt, sie kenne Fotos, die ihm diese Meinung sofort austreiben würden. Woino sagte, Wyrubowa umgebe sich seit Neuestem mit einem Bauern von außerhalb, und dann zeigte sie ihm eine Fotografie, auf der die beiden zusammen zu sehen waren. Radzig konnte es kaum glauben. Der Mann habe Augen wie ein wildes Tier, erzählte er den Anwesenden, und auch sonst sehe er ganz furchterregend aus. Wyrubowa achte darauf, das Foto nicht herumliegen zu lassen, sondern bewahre es zwischen den Seiten ihrer Bibel auf. Es hieß, sie habe diesem Mann sogar ein Seidenhemd genäht. Das Schlimmste an Radzigs Geschichte aber war, dass die Zarin ebenfalls anwesend gewesen sein soll, als der Fremde Wyrubowa besuchte. Immerhin konnte Radzig seinen Zuhörern versichern, dass der Mann noch keinen Fuß in den Palast gesetzt hatte (da lag er allerdings falsch).16 Das Gerede nahm kein Ende. Noch vor Jahresende hörte Madame Bogdanowitsch weitere Geschichten, die die Zofe weitergetratscht hatte und die darauf hinausliefen, dass sich zwischen Wyrubowa und der Zarin ein Liebesverhältnis entwickelt habe.17 So unglaublich es auch scheint: Die Bogdanowitschs und ihre Gäste zogen durchaus in Betracht, dass in diesen Geschichten mehr als ein Fünkchen Wahrheit steckte.

Noch jahrelang versorgte Radzig den Salon der Bogdanowitschs mit saftigem Klatsch. Im Dezember 1910 erzählte er dort, dass Wyrubowa im Palast mittlerweile keiner mehr mochte, aber da sie ständig bei Alexandra sei, wage niemand, etwas gegen sie zu sagen. Jeden Vormittag um halb zwölf begebe sich der Zar in sein Arbeitszimmer, und die Zarin ziehe sich mit Wyrubowa in ihr Schlafzimmer zurück. „Was für ein erbärmliches und beschämendes Bild!“, schrieb Alexandra Bogdanowitsch in ihr Tagebuch. Ganz offensichtlich nahm sie an, dass die beiden Frauen eine sexuelle Affäre hatten. Was die Gesundheit der Zarin anging, so sagte Radzig, sie sei gar nicht schwer krank, sie tue nur so. Die einzige Krankheit, an der die Zarin leide, sei „psychiatrischer“ Natur. So liege sie manchmal wie tot auf ihrem Bett, nur um im nächsten Moment aufzuspringen, als ob nichts gewesen sei, und kurz darauf einfach wieder zusammenzubrechen.18

Auch Dedjulin hatte einiges über den Fremden zu erzählen, der Wyrubowa besuchte. Er fand die ganze Angelegenheit recht merkwürdig und versuchte, mehr über diesen Mann herauszufinden, kam aber nicht weit. Dedjulin fürchtete, der vermeintliche Mann Gottes könnte ein Terrorist sein, der einen Anschlag auf das Leben des Herrschers plante. Daher nahm er Kontakt zu General Alexander Gerassimow auf, dem Leiter der Petersburger Ochrana. Gerassimow hatte den Namen Rasputin ebenfalls noch nie gehört und versprach herauszufinden, wer der Fremde war. Ihre Angst war nicht ganz unbegründet: Immerhin gab es eine Bauersfrau mit Namen Anna Rasputina, die eine bekannte sozialrevolutionäre Terroristin war und für einen Mordanschlag auf Großfürst Nikolai Nikolajewitsch und Justizminister Iwan Schtscheglowitow verantwortlich war. Rasputina und einige ihrer Komplizen waren festgenommen worden, bevor sie die Tat ausführen konnten, und am 17. Februar 1908 wurde Rasputina gemeinsam mit 16 anderen Terroristen gehängt.19 Der Name, der soziale Hintergrund, der Zeitpunkt, zu dem Rasputin, soweit sie wussten, am Hof eingeführt wurde – all das erschien ihnen äußerst verdächtig.

Gerassimow forderte Informationen aus Sibirien an und behauptete später in seinen Memoiren, er habe einen Bericht mit Details über Rasputins ausschweifendes Leben erhalten. Demnach stahl er, betrank sich und verführte Mädchen. Er habe erfahren, dass Rasputin mehr als einmal für seine Vergehen inhaftiert worden sei und man ihn am Ende gezwungen habe, sein Heimatdorf zu verlassen. (Selbstverständlich stimmte das nicht, Gerassimow hat es sich für seine Memoiren ausgedacht.)20 Gleichzeitig ließ er Rasputin in St. Petersburg heimlich von seinen Agenten beschatten. Dabei habe sich, wie Gerassimow in seinen Memoiren schreibt, ein ähnliches Bild ergeben – Rasputin sei ein ungehobelter Klotz, ein vergnügungssüchtiger Unhold. Gerassimows Fazit: Man dürfe Rasputin nicht näher an den Zarenhof lassen, „als ein Geschütz feuern kann“.

Gerassimow unterbreitete Premierminister Pjotr Stolypin seine Erkenntnisse, und nach seinen eigenen Aussagen gelang es ihm auch, Stolypin zu überreden, den Fall Rasputin vor den Zaren zu bringen. Bei ihrem nächsten Treffen sprach er die Geschichte an. Nikolaus erwiderte, Rasputin gehe Stolypin überhaupt nichts an. „Warum interessiert Sie das überhaupt?“, soll er seinen Premierminister gefragt haben. „Das ist meine Privatangelegenheit und hat absolut nichts mit Politik zu tun. Dürfen meine Frau und ich etwa keine persönlichen Bekannten haben? Dürfen wir uns nicht mit jedem treffen, der uns interessiert?“

Stolypin war gerührt, wie naiv sich der Zar verhielt. Er versuchte Nikolaus zu erklären, dass der russische Monarch auch in seinem Privatleben nicht einfach tun könne, was er wolle, schließlich personifiziere er ganz Russland, und alle seine Untertanen schauten auf ihn. Schon daher dürfe er niemals mit irgendetwas in Kontakt kommen, das sein Ansehen beflecken und die moralische Autorität des Thrones beschädigen könne. Stolypins Worte machten Nikolaus nachdenklich, und er versprach, Rasputin nie wiederzusehen. Der Premierminister war zuversichtlich, dem Zaren hinsichtlich der Gefahr, die von Rasputin ausging, die Augen geöffnet zu haben, und er rechnete damit, dass Nikolaus entsprechend handeln würde. Gerassimow hatte seine Zweifel und setzte noch mehr Agenten auf Rasputin an. Das Ergebnis war deutlich: Rasputin besuchte nach wie vor regelmäßig Wyrubowa, und dort traf er die Zarin.

Indessen bat Nikolaus Wladimir Dedjulin und seinen Ordonanzoffizier Oberst Alexander Drenteln, sich mit Rasputin zu treffen und sich ein Bild von ihm zu machen. Beide kehrten mit kritischen Worten zurück. „Er ist ein kluger, aber auch gerissener und hinterlistiger Bauer“, teilte Dedjulin dem Zaren mit, „und er hat eine gewisse Begabung in der Hypnose, die er auch anwendet.“

Dann hatte Gerassimow eine neue Idee: Er bat Stolypin, Rasputin kurzerhand aus der Hauptstadt zu verbannen. In seiner Funktion als Innenminister hatte Stolypin durchaus die Befugnis dazu. (Stolypin hatte damals die beiden mächtigsten Ministerposten inne.) Nach einigem Hin und Her erklärte sich Stolypin einverstanden. Offenbar bekam Rasputin aber Wind von der Sache: Er vermied es fortan, sich länger an einem Ort aufzuhalten, übernachtete in den Wohnungen diverser Anhänger und war Gerassimows Agenten immer einen Schritt voraus. Als er einmal aus Zarskoje Selo zurückkehrte, gelangte er am Bahnhof unbemerkt an der Polizei vorbei und sprang in ein Automobil, das bereits auf ihn wartete und das ihn zu Großfürst Pjotr Nikolajewitsch brachte. Drei Wochen lang überwachten die Agenten den Palast des Großfürsten und warteten darauf, dass Rasputin herauskäme, nur um schließlich vom Gouverneur von Tobolsk zu erfahren, dass Rasputin vor Kurzem in Pokrowskoje eingetroffen war. Es war ihm schon wieder gelungen, die Ochrana zu überlisten.21

Die Aktionen von Stolypin und Gerassimow waren der erste echte Test für Rasputins Position am Hof. Und sein erster wichtiger Triumph.

Der Zar und die Zarin trafen sich auch weiterhin mit Rasputin. Am 4. August 1908 schrieb Nikolaus in sein Tagebuch, er sei um 18.30 Uhr in Schloss Peterhof eingetroffen, wo er ganz unverhofft Alexandra und Rasputin ins Gespräch vertieft vorgefunden habe.22 Dies ist eine ganz erstaunliche Offenbarung: Rasputin und Alexandra trafen sich allein im Palast, ohne den Zaren, der nicht einmal davon wusste. Was dachte sich Alexandra dabei? War ihr nicht klar, dass man am Hof genau so etwas zum Anlass nahm, wilde Geschichten zu erfinden, die dann in der Petersburger Gesellschaft weitergetratscht wurden? Nikolaus indes war alles andere als wütend oder verärgert oder auch nur enttäuscht von seiner Frau. Stattdessen freute er sich offenbar, dass er zeitig genug heimgekehrt war, um sich mit den beiden noch unterhalten zu können.

Das nächste Mal sahen sie Rasputin am 6. November, diesmal bei Wyrubowa. Sie unterhielten sich lange, und als er wieder fort war, schrieb Rasputin den beiden ein paar tröstende Worte: „Ich bin ganz ruhig. Ihr lernt von mir, weise zu sein, aber später wird es einige Widrigkeiten geben, erst dann werdet Ihr bereit sein. Ihr werdet es sehen, und Ihr werdet es verstehen.“23 – „Bei dem, was Ihr liebt, werdet Ihr Trauer finden; Gott wird es euch nehmen, weil Ihr stark und mutig seid in der Freude eurer Seele.“24

Weihnachten waren Nikolaus und Alexandra zusammen mit Rasputin bei Wyrubowa. Bis Mitternacht saßen sie gemeinsam unterm Weihnachtsbaum. „Es war sehr schön“, schrieb Nikolaus.25 Nikolaus’ Schwester Olga war in jenem Jahr ebenfalls bei Wyrubowa zu Besuch, doch sie empfand den Abend als nicht ganz so angenehm.

Rasputin war da, und er schien hocherfreut, mich wiederzusehen. Als die Gastgeberin zusammen mit Nicky und Alicky den Salon für ein paar Momente verließ, stand Rasputin auf, legte seinen Arm um meine Schultern und begann, meinen Arm zu streicheln. Ich zog ihn sofort weg, sagte aber nichts, ich stand lediglich auf und gesellte mich zu den anderen. Ich hatte mehr als genug von diesem Mann. Ich mochte ihn weniger denn je. Ob Sie es glauben oder nicht, bei meiner Rückkehr nach St. Petersburg tat ich etwas ganz Seltsames – ich suchte meinen Mann in seinem Arbeitszimmer auf und erzählte ihm, was bei Anna Wyrubowa passiert war. Er hörte sich alles an, und mit ernstem Gesicht sagte er, ich solle Rasputin in Zukunft wohl besser meiden. Es war das erste und einzige Mal, dass ich wusste: mein Mann hat Recht.26

Und die Erde wird zittern

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