Читать книгу Und die Erde wird zittern - Douglas Smith - Страница 25
14. „Gebete, die uns läutern und schützen …“
ОглавлениеIm September 1907 kehrte Rasputin wieder heim nach Pokrowskoje, doch dieses Mal war er im Dorf plötzlich der große Zampano. Manche redeten ihn mit gospodin („Herr“) an, als sei er ein Adliger. Er hatte Geld dabei, das Miliza ihm zugesteckt hatte und das er der Kirche gab. Er brachte den Dorfbewohnern Geschenke (darunter auch Geld), ließ Häuser für die Armen bauen und zahlte für Bestattungen. Er wohnte in seinem neuen, großen dunkelgrauen Holzhaus an der Hauptstraße, das einst einem wohlhabenden Flößer gehört hatte. Das Haus hatte zwei Stockwerke und war von einem hohen Zaun umgeben. Im Hof gab es ein Badehaus, eine kleine Scheune und ein paar weitere Nebengebäude. Sogar Blumenkästen waren an der Fassade angebracht, ein besonders großer zeigte zur Straße hin. Die Fensterzargen waren aufwendig verziert und das Dach bestand aus Blech. Rasputins Vater war inzwischen Witwer – Anna war 1904 gestorben –, doch er hatte beschlossen, nicht bei seinem Sohn zu wohnen. Er blieb in seinem kleinen Haus zwischen der Tura und Grigoris Haus.1
Die Familie wohnte im Erdgeschoss, das über eine Küche und drei separate Zimmer verfügte. Ein Zimmer war voll mit Ikonen, darunter eine große und angeblich wundertätige Muttergottes aus Kasan. Über eine mit bunten Matten ausgelegte Holztreppe kam man in den ersten Stock, der hauptsächlich Gästen vorbehalten war. Hier gab es eine kleine Empfangsdiele mit Bänken und einen größeren Raum, dessen Fußboden mit denselben bunten Matten bedeckt war wie die Treppe. Darin befanden sich ein Schreibtisch, ein paar gut gepolsterte Stühle, eine Anrichte aus massiver Eiche, ein Klavier und eine große Uhr aus Ebenholz. Die tapezierten Wände waren über und über mit Fotos bedeckt, die Rasputin zusammen mit Seminaristen und Geistlichen der Theologischen Akademie, diversen Priestern und Vertretern der adligen Elite der Hauptstadt zeigten. Außerdem hingen dort ein Porträt von Zar und Zarin sowie mehrere Ikonen. Neben dem Fenster stand ein Ficus. Den Rasputins ging es wahrlich nicht schlecht. Das gefiel längst nicht jedem: Feofan teilte 1917 der Außerordentlichen Untersuchungskommission mit, an Rasputins Zuhause habe man ablesen können, „wie sich ein halbgebildeter Bauer den Lebensstil der reichen Städter vorstellt“.2
Zusammen mit Rasputin reisten Olga Lochtina und drei weitere Frauen an. Akilina Laptinskaja wurde später eine von Rasputins treuesten Jüngerinnen (und nicht nur das). Sie stammte aus einer Bauernfamilie und wurde 1879 im Dorf Bachowo in der Provinz Mogiljow geboren. Während des Russisch-Japanischen Krieges hatte sie in verschiedenen Militärlazaretten gearbeitet, und in St. Petersburg war sie als Krankenschwester tätig. Den Namen Rasputin hatte sie zum ersten Mal in Gesprächen im St.-Troizki-Schwesternwohnheim gehört. Das war schon eine ganze Weile her. Sie hatte sich dann an Lochtina gewandt, um ein Treffen zu arrangieren, und im September 1907 war es endlich so weit. Er war ein so ungewöhnlicher Mann, dass sie sofort von ihm angetan war: „Am meisten beeindruckte mich, wie Grigori Jefimowitsch mit den Menschen umging. Er ist so voller Güte und unverfälschter Liebe, mehr als alle Menschen, denen ich je begegnet bin. Er weiß unglaublich viel über das Leben, man kann ihm keine Frage stellen, auf die er nicht ohne Zögern eine Antwort parat hätte.“ Als sie erfuhr, dass eine Gruppe von Frauen ihn nach Pokrowskoje begleiten wollte, um sich anzusehen, wie Rasputin lebte, und um von ihm zu lernen, bat sie darum, mitkommen zu dürfen. Sie durfte. Laptinskaja blieb Rasputin den Rest seines Lebens treu ergeben. Sie wurde so etwas wie seine persönliche Sekretärin und half ihm, seinen Petersburger Haushalt zu führen.3
Sinaida Manschtedt aus Smolensk, war die Ehefrau eines hochrangigen Staatsbeamten. Ein Bekannter beschrieb sie als „brav, hübsch und nett“. Sie hatte sich in Rasputin verliebt, kurz nachdem er in der Hauptstadt aufgetaucht war, wenn auch nicht ganz so arg wie Lochtina. Dennoch kam sie immer wieder nach St. Petersburg, um ihn zu besuchen. Nach der gemeinsamen Pokrowskoje-Reise schrieb Sina (wie sie sich nannte) Rasputin einen Brief, der uns einiges über die Psychologie seiner Anhängerinnen und über deren Beziehung zum Meister verrät:
Hallo, lieber Vater Grigori!
Ich danke, danke, danke Euch ohne Ende für Eure große Liebe, die meinem Geist wieder Leben eingehaucht hat, für Eure Zärtlichkeit und Sorgfalt. Als ich nach Hause kam, war ich gesund und glücklich, und ich lebe hier nun ganz ruhig und friedlich. Eure letzten Worte, dass es falsch sei, abzureisen, hatten eine starke Wirkung. Ihr habt es gesagt – es muss also wahr sein. Die Worte hallten die ganze Fahrt über in meinen Ohren wider und zwangen mich, jede Bewegung meiner Seele zu erforschen. Natürlich gibt es in meiner Seele auch vieles, das wertlos ist, und ich brauche stets Eure Hilfe und Eure Gebete, die uns läutern und schützen. Als ich nach Hause zurückkehrte, war ich in meinem Inneren ein anderer Mensch. Herr, hilf mir, so zu bleiben! Jetzt bin ich lebendig, zuvor quälte mich der Ärger und schloss mich von allem aus. Ich küsse inbrünstig Eure Hände und bete um Vergebung für all meine Verderbtheit. Eure nachlässige Sina4
Und dann war da noch Chionija Berladskaja, die mit 29 Jahren bereits Witwe war – ihr Mann hatte zwei Jahre zuvor Selbstmord begangen. Berladskaja hatte unter dieser Tragödie ganz fürchterlich gelitten und sich eingeredet, sie sei am Tod ihres Mannes schuld. Im Herbst 1906 erbarmte sich ihrer schließlich die Frau eines Generals und nahm sie mit zu Rasputin. Er sah sie aufmerksam an und sagte: „Was sind das für Gedanken? Weißt du nicht, dass unser Herr zwölf Jünger hatte und dass einer von ihnen, Judas, sich aufgehängt hat? Und das widerfuhr unserem Herrn! Wofür hältst du dich?“ Seine Worte veränderten ihr Leben.
Diese Worte waren die Antwort auf die Gedanken, die mir so schwer auf der Seele lagen, vor allem, dass ich schuld sei am Tod meines Mannes. Wenn so etwas unserem Herrn passieren konnte, dann durfte ich, als schwacher Mensch, doch nicht erwarten, meinen Mann wieder zum Leben zu erwecken. Als mir das klar wurde, war meine Seele mit einem Mal so vollkommen ruhig, wie es weder Hypnose noch irgendeine Medizin vermocht hätte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits ein Jahr lang nicht mehr gefastet, ja ich war nicht einmal in der Lage gewesen, eine Kirche zu betreten, so sehr bekümmerte mich der Klang der frommen Lieder. Mehrmals glaubte ich, einen Herzinfarkt zu erleiden. Zwei Jahre lang aß ich fast nichts, bis ich einen Punkt beinahe vollkommener geistiger und körperlicher Erschöpfung erreichte. Als ich Grigori Jefimowitsch kennenlernte, hatte ich das Gefühl, er könne mit den richtigen Worten aus den Evangelien alle Probleme meines Lebens lösen. Dafür schulde ich Grigori Jefimowitsch meine tiefste Liebe und Dankbarkeit.
Im April 1907 hatte Berladskaja zum ersten Mal Pokrowskoje besucht. Vier Monate lang wohnte sie bei Rasputin und seiner Familie, „um zu lernen, wie man lebt“, wie sie sagte. Es war eine so wunderbare Erfahrung, dass sie schon im September wiederkam. Im Gegensatz zu den übrigen drei Frauen änderte Berladskaja jedoch später ihre Meinung über Rasputin, und man benutzte ihre Worte, um auch andere gegen ihn aufzuwiegeln.5
Mitte November war Rasputin zurück in St. Petersburg. Eines Abends lud Nikolaus seine Schwester, Großfürstin Olga Alexandrowna, in den Alexanderpalast in Zarskoje Selo zum Abendessen ein. Nach dem Essen teilte er Olga mit, er wolle ihr einen russischen Bauern vorstellen. Sie gingen in den ersten Stock, wo sie die vier Romanow-Töchter und Alexei vorfanden, allesamt in weißem Nachtzeug. Ihre Gouvernanten machten sie gerade bettfertig. In der Mitte des Zimmers stand Rasputin.
Als ich ihn sah, fühlte ich eine große Milde und Wärme von ihm ausgehen. Die Kinder schienen ihn alle zu mögen. Sie gingen ganz ungezwungen mit ihm um. Ich erinnere mich noch, wie sie lachten, als der kleine Alexei, der beschlossen hatte, er sei ein Kaninchen, im Zimmer auf und ab hüpfte. Und dann, ganz plötzlich, nahm Rasputin die Hand des Jungen und führte ihn in sein Schlafzimmer. Wir drei folgten ihm. Es herrschte so etwas wie eine andächtige Stille, als wären wir in einer Kirche. In Alexeis Schlafzimmer waren die Lampen gelöscht. Das einzige Licht rührte von den Kerzen her, die vor einigen wunderschönen Ikonen brannten. Das Kind stand ganz still an der Seite dieses Riesen, der den Kopf gebeugt hielt. Ich wusste, dass er betete. Es war alles äußerst beeindruckend. Und ich wusste, dass mein kleiner Neffe zusammen mit ihm betete. Ich kann es nicht wirklich beschreiben – aber in jenem Moment war mir klar, dass dieser Mann vollkommen aufrichtig war.
Als die Kinder im Bett waren, gingen die Erwachsenen nach unten ins violette Boudoir, um sich zu unterhalten.
Wie mir klar wurde, hofften Nicky und Alicky beide, dass ich Rasputin mochte. Beeindruckt war ich von der Szene im Kinderzimmer auf jeden Fall, und ich gestand dem Mann auch zu, dass er aufrichtig war und es ernst meinte. Aber leider konnte ich mich nie dazu überwinden, ihn wirklich zu mögen. Ich fühlte mich nie von Rasputin gefesselt. Ich war auch nicht der Ansicht, dass er eine unwiderstehliche Persönlichkeit besaß. Wenn überhaupt, fand ich ihn eher primitiv. […] An jenem ersten Abend fiel mir auf, dass er ständig von einem Thema zum anderen sprang. Auch dass er so viele Bibelzitate verwendete, beeindruckte mich nicht; ich kannte die Bauern gut genug, um zu wissen, dass viele von ihnen ganze Kapitel der Bibel auswendig kennen.
Olga fand Rasputin nicht nur wenig beeindruckend, sondern sogar recht aufdringlich:
Seine Neugier war ungezügelt und peinlich. Als wir in Alickys Boudoir saßen, sprach Rasputin ein paar Minuten lang mit ihr und Nicky, während er darauf wartete, dass die Diener den Tisch für den abendlichen Tee deckten. Und dann begann er, mir eine Reihe wirklich unverschämter Fragen zu stellen. Ob ich glücklich sei. Ob ich meinen Mann liebe. Warum ich keine Kinder hätte. Er hatte überhaupt kein Recht, mir solche Fragen zu stellen, und ich antwortete auch nicht darauf. Nicky und Alicky schauten recht unglücklich drein. Ich erinnere mich noch, wie erleichtert ich an jenem Abend war, als ich den Palast wieder verlassen durfte, und ich sagte zu mir: „Gottlob ist er mir nicht noch zum Bahnhof nachgelaufen.“
Olga traf ihn später einmal bei Anna Wyrubowa in der Nähe des Palasts in Zarskoje Selo. Als sie kurz allein waren, setzte Rasputin sich neben sie, legte seinen Arm um sie und streichelte ihre Schulter. Olga stand auf und ging zu den anderen, ohne ein Wort zu sagen. Rasputin bat Wyrubowa später noch mehrmals, ein Treffen mit Olga zu arrangieren, aber sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Etwa zu jener Zeit, als Olga Rasputin kennenlernte, fiel der dreijährige Alexei im Garten in Zarskoje Selo hin und verletzte sich am Bein. Er erlitt innere Blutungen und hatte schreckliche Schmerzen. „Es tat dem armen Kind so weh“, erinnerte sich Olga. „Er hatte dunkle Flecken unter den Augen, sein kleiner Körper krümmte sich, das Bein schwoll ganz furchtbar an. Die Ärzte wussten keinen Rat.“ Die Mediziner sahen noch sorgenvoller aus als die anderen Anwesenden und unterhielten sich miteinander im Flüsterton. Ein paar Stunden später mussten die Ärzte zugeben, dass sie nichts mehr für den Jungen tun konnten. Später an diesem Abend schickte Alexandra eine Nachricht an Rasputin in St. Petersburg und bat ihn, sofort zu kommen. Rasputin kam und betete für Alexei. Als Olga am folgenden Tag in den Palast kam, konnte sie ihren Augen nicht trauen: „Der Junge war nicht nur am Leben – es ging ihm gut! Er saß aufrecht im Bett, das Fieber war weg, seine Augen waren klar und hell, keine Anzeichen einer Schwellung mehr im Bein. Die Schrecken des vorigen Abends wirkten auf einmal wie die ferne Erinnerung an einen Albtraum. Später erfuhr ich von Alicky, dass Rasputin das Kind nicht einmal berührt hatte, sondern nur am Fuße des Bettes gestanden und gebetet hatte.“6 Olga war klar: Diese wundersame Genesung konnte kein Zufall sein. Wie genau Rasputin Alexei dabei geholfen hatte, gesund zu werden, wusste sie nicht. Doch sie äußerte nie wieder Zweifel an Rasputins Heilkräften.
Rasputins abendlicher Besuch an Alexeis Krankenlager machte im Palast sofort die Runde. Manche erzählten, Rasputin habe den Jungen berührt und ihm gesagt, alles würde gut werden, auch wenn, wie er hinzugefügt habe, Gott allein die Stunde unseres Todes kenne. Andere glaubten, Rasputin habe der Zarin mitgeteilt, sie solle sich keine Sorgen machen – Alexei werde zwar noch unter seiner Krankheit leiden, bis er zwanzig sei, doch dann werde sie verschwinden, als sei sie nie dagewesen.7
Ganz sicher wissen wir, dass Rasputin in den letzten Monaten des Jahres 1907 zunehmend selbstbewusst auftrat, was sein Verhältnis zur Zarenfamilie betraf. Am 15. November tauchte er zum ersten Mal im Palast auf, ohne dass man ihn eingeladen hatte. Natürlich waren Nikolaus und Alexandra überrascht, ihn zu sehen, aber sie freuten sich.8 An jenem Tag traf er im Palast auch Maria Wischnjakowa, die seit 1905 Alexeis Kindermädchen war. Wischnjakowa hatte zuvor die Kinder von Stana aufgezogen, und diese hatte sie der Zarin empfohlen, die sie 1897 als Kindermädchen für die neugeborene Tatjana einstellte.
Wischnjakowa war Anfang 30, hatte ein sanftes und empfindsames Wesen und war recht hübsch. Als Rasputin an jenem Abend zu Hause eintraf, schrieb er Wischnjakowa – sichtlich erregt – diesen Brief:
Sei fröhlich im Herrn, Du Teuerste in Christo, denn Du lebst in Herrlichkeit und nährst die Herrlichkeit unseres großen Autokraten Alexei Nikolajewitsch. Ach! Was für ein mächtiges Wort und eine Gestalt von unschätzbarem Wert, meine Gott liebende kleine Schwester in Christo, ist das nicht ein tiefsinniger Gruß für jemanden, der so jung ist? Meine Süße, erziehe ihn, das wird Dein Ideal sein – meine Goldene, zeige ihm kleine Beispiele für Gottes Erbauung, suche diese Erbauung in all seinen Kinderspielen. Du solltest ihn ruhig ein wenig mehr herumtoben lassen; lass ihn toben, wie er will. Denn er sieht Dich als junge Frau, geschmückt durch Gottes Herrlichkeit, und dein Beispiel geht so tief, es wird fest in seiner Seele bleiben […]. Und deswegen sollst Du die Mutter des Landes sein. Hör mir zu, Gott liebende Schwester in Christo. Liebe Mama, was bedeutet das? Welch hohes Zeichen hält Dein Ruf zum Herrn hier bereit? Was für ein Geschenk der Herr Dir gegeben hat, dass du die Wertschätzung solch erhabener Eltern genießen darfst! […] Wenn wir alle lieben und nicht in den Stolz abgleiten, dann leben wir auf Erden in Herrlichkeit und sind im Himmel voll des Glücks. Natürlich kriecht der Feind um uns herum, er weiß, wie erhaben wir sind und dass wir uns hier unter den Mächtigen befinden; so ist eben seine verschlagene Natur. Aber ich habe keinen Stolz in Dir entdeckt, in der Seele fand ich einen ganz warmherzigen Gruß an mich. Als du mich zum ersten Mal sahst, verstandest Du mich. Ich wünsche mir so sehr, Dich wiederzusehen. Bitte Papa und Mama um Erlaubnis, zu mir zu kommen, denn ich sah Dich nur kurz und danach nicht mehr, und es war mir peinlich, noch länger zu bleiben.9
Dieser Brief ist aus mehreren Gründen interessant. Warum zum Beispiel sollte Rasputin ihr sagen, sie solle Alexei ruhig „herumtoben“ lassen? Alle wussten von seiner Krankheit, er war ja gerade erst dem Tod entronnen. Kann es wirklich sein, dass Rasputin nicht begriff, wie gefährlich das war? Ganz eindeutig versucht Rasputin hier, Wischnjakowa zu seiner Verbündeten am Hof zu machen, indem er einerseits auf die heilige Mission anspielt, die man ihr übertragen hat, andererseits auf ihren gemeinsamen Status als Vertraute der Zarenfamilie. Auch mit dem Hinweis auf den „Feind“ will er sie an sich binden; er will damit sagen, dass es am Hof Menschen gibt, die neidisch darauf sind, welchen intimen Umgang sie mit der Familie pflegen, und die möglicherweise bereits Pläne gegen sie schmieden. Und was ist von Rasputins Kommentar zu halten, Wischnjakowa habe ihn verstanden, als sie ihn zum ersten Mal sah? Klar ist, dass Rasputin Wischnjakowa gerne wiedersehen wollte. Doch wenn er sich mit ihr nur hätte treffen wollen, um über das Wohlbefinden des Zarewitsch zu sprechen, so hätte das Rasputin nicht peinlich sein müssen. Rasputin impliziert hier offenbar etwas ganz anderes, etwas, was nur sie und ihn angeht, etwas viel Persönlicheres. Wir wissen nicht, ob Wischnjakowa Zar und Zarin jemals um Erlaubnis bat, Rasputin aufzusuchen, wir wissen nicht einmal, ob sie seinen Brief jemals gelesen hat. Was wir aber sehr wohl wissen: Drei Jahre später kam Wischnjakowa zu Alexandra und erhob massive Anschuldigungen gegen Rasputin, die schließlich in einem riesigen Skandal endeten.
Gegen Ende des Jahres fuhr Rasputin von St. Petersburg nach Kasan. Dort lernte er im Haus ihrer Eltern die 14 Jahre alte Olga Iljin kennen. Das Mädchen war schockiert, als ein Bauer durch die Haustür trat – so etwas hatte sie noch nie im Leben gesehen. Angehörige der Unterschicht benutzten sonst stets die Hintertür. Rasputin hatte einen Brief von Olgas Tante aus St. Petersburg dabei, die ganz angetan von ihm war. Die Tante wollte unbedingt, dass Olgas Vater Rasputin kennenlernte, um ihr später zu berichten, was er von Rasputin hielt.
Rasputin blieb zum Abendessen, was Olga gar nicht behagte. Er sah sie immer ganz seltsam an, und seine Manieren waren scheußlich. Direkt nachdem die Suppe aufgetragen worden war, zog er einen Kamm aus der Tasche und begann, sich Haar und Bart zu kämmen, was alle bei Tisch ungehörig fanden. Während des Essens fragten sie Rasputin über sein Leben und seine Reisen aus. Auf die Frage, was ein Mann Gottes wie er, der sich der Einsamkeit und dem Gebet verschrieben habe, von St. Petersburg halte, antwortete er: „Dasselbe fragte ich Gott, als ich nach St. Petersburg kam: ‚Warum hast du mich hierhergeschickt?‘ Und er sagte zu mir: ‚Wohin ich dich auch senden werde, dort wird dein Platz sein. Auch wenn die Leute dich dort hassen, weil sie dich beneiden: Du musst es ertragen, denn du wirst gebraucht!‘“
Die Iljins und ihre Gäste waren hin- und hergerissen, sie fanden den Fremden faszinierend und abstoßend zugleich. Ob er der war, für den er sich ausgab und auf Empfehlung von Olgas Tante hier war, oder ein Betrüger und Scharlatan – irgendwie schien beides plausibel. Er erzählte, Gott habe ihm die Gabe verliehen, Gedanken zu lesen. Zum Beweis wandte er sich an Olgas Kunstlehrer und nannte ihn einen Sünder, da er immer wieder etwas Neues beginne, aber nie etwas zu Ende bringe; das gefalle Gott überhaupt nicht. Die Anwesenden waren fassungslos: Jedes Wort stimmte! Sofort wollten alle, dass Rasputin ihre Gedanken las. Er tat es, und zwar so gut, dass am Ende die ganze Abendgesellschaft davon überzeugt war, dass er tatsächlich diese Gabe besaß.
Olga bekam Rasputin zwischen 1907 und 1910 noch mehrmals zu Gesicht, bei ihrer Tante in St. Petersburg. Ihre Tante hielt Rasputin für einen wahren Mann Gottes und lud ihn regelmäßig zu sich ein. Olga blieb misstrauisch, behielt es aber für sich. Sie war sicher, dass er ihre Tante betrügen wollte und ihr stets nur eine Seite von sich zeigte. Bei einem seiner Besuche zum Tee stand Rasputin auf, als die Tante das Zimmer verließ, und setzte sich neben Olga. Sie wurde stocksteif und sah ihn entrüstet an, als er sie bat, sich ihm zu öffnen und etwas von sich zu erzählen. Sie weigerte sich und er fragte sie, warum sie solche Angst vor ihm habe.
„Ich habe keine Angst vor Ihnen.“
„Doch, doch, du fürchtest dich vor mir“, gab er zurück, „dabei solltest du mich eigentlich lieben. Denn Gott, der Herr, hat mich zu euch allen gesandt. Deshalb solltet ihr mich mehr lieben als sonst jemanden auf der Welt. Der Zar und Zarin lieben mich, und auch du solltest mich mehr lieben als irgendeinen anderen.“
Er ließ seine Hand über das Sofa auf sie zugleiten, schaute sie eindringlich an, und dann sprang Olga auf und flüchtete in ihr Zimmer. Sie sah Rasputin nie wieder.10