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10. Sekten und Geißeln
ОглавлениеIn seinem Brief an Wassili Rosanow ließ Vater Drosdow die Vermutung anklingen, Rasputin gehöre einer gefährlichen Sekte an, die berüchtigt sei für ihre ketzerischen Lehren und sexuellen Perversionen. Diese Tatsache sei eine schlüssigere Erklärung für das merkwürdige und gefährliche Verhalten des Mannes aus Sibirien als seine individuelle Persönlichkeit.
Mitte des 17. Jahrhunderts erlebte die Russisch-Orthodoxe Kirche eine schwere Krise, die zu ihrer Spaltung führte. Eine beträchtliche Minderheit innerhalb der Kirche weigerte sich, eine Reihe von Änderungen an der traditionellen Liturgie sowie ein paar andere Reformen zu akzeptieren, die der Patriarch Nikon durchsetzen wollte, und spaltete sich von der offiziellen Kirche ab. Diese Minderheit nannte man seither die „Altgläubigen“. Zwar hatte es in Russland schon vor diesem Schisma Sektierer gegeben, doch die Abspaltung der Altgläubigen markierte letztlich das Ende der Russisch-Orthodoxen Kirche als einheitliche Glaubensgemeinschaft und führte zum Entstehen einer ganzen Reihe orthodoxer Sekten.
Von Anfang an beobachteten der Staat und die offizielle Kirche die Altgläubigen mit großem Argwohn. Sie galten als lasterhafte Volksverhetzer. Nachdem er sich geweigert hatte, Nikons Reformen zu akzeptieren, wurde Erzpriester Awwakum 1682 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Im selben Jahrzehnt erließ der Staat ein Edikt, das jegliche von der offiziellen Lehre abweichende religiöse Aktivität untersagte. Auf die Köpfe der Sektierer wurden Prämien ausgesetzt. Wer festgenommen wurde, kam auf die Streckbank, wer unter der Folter gestand, den schickte man ins Exil oder Gefängnis, und wer dies nicht tat, der wurde verbrannt. Als Gegenreaktion begannen die Abtrünnigen, aktiven Widerstand und Selbstmord zu predigen. Bis Ende des 17. Jahrhunderts hatten sich bis zu 20.000 Abweichler das Leben genommen, vielfach indem sie sich selbst verbrannten. Auch noch im 19. Jahrhundert wurde die Selbstverbrennung praktiziert, Fälle kollektiven Suizids sind bis ins 20. Jahrhundert aufgezeichnet. Den russischen Sekten gelang es nie, aus dem Zwielicht herauszutreten, in den Augen des Staates und der europäisierten Elite blieben sie ein ganz gefährliches Element.1
Die Sektierer begründeten zahlreiche unterschiedliche, oft recht bizarre Glaubensgemeinschaften. So gab es beispielsweise die Begunen („Läufer“), deren Mitglieder alle Bindungen an Staat und Familie aufgaben und die auf Geld, Druckerzeugnisse und sogar ihren eigenen Namen verzichteten. Es gab die Molokanen („Milchtrinker“), die Duchoborzen („Geisteskämpfer“) und die Prygunen („Springer“). Die Skopzen („Kastraten“) suchten Gott, indem sie sich freiwillig verstümmelten – die Männer kastrierten sich, die Frauen schnitten sich die Brüste ab. Wie viele andere Sekten waren die Skopzen Nachkommen einer größeren Sekte: der überall gefürchteten Chlysten (im Deutschen „Geißler“ genannt).2
Einer Legende zufolge warf im Jahr 1631 ein Deserteur namens Danilo Filippowitsch seine liturgischen Bücher in die Wolga, gründete eine eigene Sekte und verkündete: „Ich bin der Gott, dessen Ankunft die Propheten prophezeiten und der auf die Erde kommt, um die Menschheit zu retten. Suchet keinen anderen Gott!“ Filippowitsch wies seine Anhänger an, alle Riten und Gebote, die er ihnen auferlegte, geheim zu halten, sogar vor ihren eigenen Familien. Er predigte eine Lebensweise, die auf keine der herrschenden religiösen und sozialen Normen Rücksicht nahm und die weder Heirat noch Taufe noch Beichte anerkannte. Filippowitsch und seine Anhänger glaubten nicht nur, dass Christus lebte, sie waren überzeugt, dass er immer wieder neu geboren wurde, in den Menschen mitten unter ihnen. Mit ihren Ritualen wollten sie bewirken, selbst auserwählt zu werden. Später nannte man die Anführer der Sekte oft „Christusse“.
Die Sekte erhielt immer mehr Zulauf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war sie nach der offiziellen orthodoxen Kirche und den Altgläubigen die drittgrößte christliche Glaubensgemeinschaft in Russland. Wie bei den Shakern und den Quäkern waren es ihre Kritiker, die der Sekte den Namen verpassten, der sich schließlich durchsetzte: Chlysten („Geißler“), eine Anspielung auf den im Russischen ähnlich klingenden Plural von Christus: chrysti („Christusse“). Die Bewegung war auch als „Neues Israel“ bekannt, und man sagte ihr seltsame Riten wie Orgien und Selbstverstümmelung nach. Es hieß, die Chlysten sängen und drehten sich wild im Kreis, um dann einer nackten Jungfrau eine Brust abzuschneiden und diese gemeinsam aufzuessen, bevor sie zu Boden fielen und alle zusammen Sex hätten. Die verstümmelte Jungfrau werde dadurch zur „Mutter Gottes“, ihr Partner zum „Christus“. Es gab auch Geschichten über unterirdische Tempel und Geheimzeichen.
Die Chlysten sahen sich selbst als Christen, und trotz der vielen Geschichten über ihre skandalösen Praktiken galten sie auch bei Außenstehenden in der Regel als Christen. Sie nahmen alle grundlegenden Elemente des Christentums, arrangierten sie um und fügten ein paar neue hinzu. Ihre Kirche nannten sie ihr „Schiff“, das sie durch die gefährlichen Wogen des orthodoxen Russland zum fernen Ufer der Erlösung tragen sollte; die Priester hießen bei ihnen „Propheten“. Im Mittelpunkt ihrer mystischen Rituale, die sie im Geheimen in verschlossenen Räumen oder Kellern praktizierten, stand ein Tanz, bei dem man sich schnell um die eigene Achse drehte. Wladimir Bontsch-Brujewitsch durfte einmal einer Chlysten-Zeremonie beiwohnen und wurde Zeuge dieses „heiligen Tanzes“. Er empfand ihn als „recht elegant, beseelt, schön anzuschauen und voll inneren Feuers und Strebens“. Die Drehungen riefen bei denen, die den Ritus zelebrierten, Halluzinationen hervor. Die Geschwindigkeit war ein Zeichen dafür, wie viel Gnade sie vom Herrn empfingen, je schneller, desto näher kamen sie der Perfektion. Während die einen sich drehten, sangen die anderen. Die Tanzenden legten die Köpfe in den Nacken, starrten zur Decke und begannen auf eine ganz besondere, intensive Weise zu atmen – so erreichten sie eine Art religiöser Ekstase. Dann begannen einige umherzuspringen, zu zittern und zu schwanken, andere rannten sogar, und wieder andere wurden von Anfällen oder Krämpfen geschüttelt. Das gemeinsame Herumwirbeln sorgte für ein positives Gemeinschaftsgefühl. Um sich auf den „Tanz“ vorzubereiten, fasteten die Chlysten. Das intensivierte die Erfahrung, zumal sie weder Alkohol tranken noch Tabak rauchten. Ein wichtiges Element des Chlysten-Ritus war ein Trog. Er fungierte als Symbol des kollektiven Körpers, dessen Entstehen das letztendliche Ziel der Zusammenkunft war. Die Sektenmitglieder bildeten zwei Kreise rund um den Trog, und dann setzten sie sich in entgegengesetzter Richtung in Bewegung – die Männer, im Innenkreis, in Richtung der Sonne, die Frauen, dahinter, andersherum.
Nach dem „heiligen Tanz“ sprachen die Propheten, und zwar männliche und weibliche. Die Gemeindemitglieder sammelten sich, setzten oder knieten sich auf den Boden, und der Prophet oder die Prophetin gab ihnen entweder konkrete Ratschläge (zu Ackerbau und Viehhaltung oder dergleichen) oder ließ sich zu ausgedehnten, vagen Reden oder Prophezeiungen hinreißen. Angeblich waren manche Propheten in der Lage, bestimmten ihrer Anhänger auf den Kopf zuzusagen, dass sie gesündigt hatten. Die Propheten sprachen auf eigentümliche metrische oder rhythmische Weise, manchmal sogar in Reimen, was als Zeichen ihrer geistigen Reinheit galt. Sie ließen ihren Gedanken freien Lauf und gaben alles von sich, was ihnen gerade durch den Kopf ging. Mitunter war das, was sie sagten, so schwer zu verstehen, dass es „Dolmetscher“ gab, die es den Anwesenden übersetzten. Mitunter gaben die Propheten aber auch völlig unverständliche Laute von sich oder ahmten Tierlaute und Vogelstimmen nach.
Wie man sich erzählte, mündeten die Rituale stets in Orgien, bei der sich die Chlysten auspeitschten (daher der Beiname „die Geißler“) und Menschenfleisch aßen. Weder das eine noch das andere wurde jemals glaubwürdig bezeugt, und die Geschichten rund um wahllose Kopulationen und Gruppensex gehören höchstwahrscheinlich ins Reich der Mythen. Berichte über perverse und sadistische Praktiken bei den Chlysten gab es jedoch: 1825 wurde Zar Alexander I. gemeldet, die Propheten einer Chlysten-Gemeinde hätten während der Predigt im Zustand der Trance einige Anwesende geschlagen, sie an den Haaren über den Boden geschleift und seien sogar auf ihnen herumgetrampelt. Doch seltsamerweise trugen die Opfer ihren Peinigern dies überhaupt nicht nach – sie sagten, heute strafe der Heilige Geist nun einmal die einen, morgen dann jemand anderen. 1911 tötete ein Chlyst in der Nähe von Saratow eine Frau, angeblich während sich die beiden „gegenseitig folterten“.
Über einige Sektierer gibt es ganz erstaunliche Geschichten. Im Jahr 1853 wurde der Chlysten-Prophet Wassili Radajew verhaftet und wegen „Chlystowismus und moralischer Verdorbenheit“ verurteilt. Er hatte in mehreren Dörfern des Bezirks Arsamaski recht befremdliche Vorstellungen von Tod und Wiedergeburt gepredigt und mit einigen seiner Anhängerinnen „Unzucht getrieben“. Nach seiner Festnahme behauptete er, es sei gar nicht er gewesen, der diese sexuellen Handlungen vorgenommen habe, sondern Gott, und zwar durch ihn: „Es war nicht mein Wille, sondern der des Heiligen Geistes, der in mir tätig wurde.“ Ein 17-jähriges Mädchen hatte er mit dem Versprechen verführt, sie werde „flammende Flügel“ erhalten, wenn sie sich ihm hingebe. Bei einer anderen Zeremonie befahl er einem Mädchen, sich ausziehen und ihre Genitalien mit einer Rute zu schlagen. Trotz allem war Radajew in seinem Dorf hoch angesehen und galt als „rechtschaffener Mann“. Während er mit seinen Anhängerinnen Sex hatte, sprach Radajew: „Christus nahm das Fleisch Adams […], und ich habe das Fleisch ebenfalls genommen und gebe mich der Fleischeslust hin, um euch die Sünden auszutreiben.“ Im Rahmen seines Prozesses ließ das Gericht Radajews Geisteszustand untersuchen. Die Ärzte stellten fest, dass er geistig gesund war. Er wurde ausgepeitscht und ins Exil nach Sibirien geschickt. Seine treu sorgende Ehefrau folgte ihm.
Der Moskauer Kaufmann Ilja Kowylin, Jahrgang 1731, war einer der Gründer der Fedossejewzy, einer Altgläubigen-Sekte. Er lehrte seine Anhänger, dass es „ohne Sünde keine Reue gibt und ohne Reue keine Rettung. Deshalb gibt es im Himmel auch so viele Sünder“. Kowylin war es, der den berühmten (oder besser: berüchtigten) Satz prägte: „Wer nicht sündigt, kann nicht bereuen, und wer nicht bereut, kann nicht errettet werden.“ Ilja Kowylin ist deshalb so wichtig, weil man seinen Ausspruch fälschlicherweise Rasputin zugeschrieben hat beziehungsweise behauptet hat, Rasputin habe sich dieses Diktum ausgedacht. Dabei stehen die Worte in einer viel älteren Tradition und spiegeln einen Gedanken wider, den damals diverse sektiererische Gruppen vertraten.
Um 1900 herum gab es vielleicht an die 100.000 Chlysten, ganz zu schweigen von anderen Sekten, die sich ähnlicher Praktiken bedienten. Natürlich sind solche Zahlen weitgehend Spekulation, da die Chlysten, wie viele andere Sekten auch, vor allem im Verborgenen agierten und kaum jemand offen zugab, einer solchen Gruppierung anzugehören. Doch genau wie im Falle der Freimaurer und ähnlicher Geheimbünde sorgte allein die Tatsache, dass sie so ein Geheimnis um ihre Riten machten, für jede Menge Argwohn und Gerüchte. Sie wurden bespitzelt und überwacht, da die Obrigkeit stets Angst hatte, dass die Sekten hinter verschlossenen Türen das Volk aufwiegelten. Die größten Probleme hatte der Staat damit, herauszufinden, wer überhaupt ein Chlyst war und wer nicht. Unter den richtigen Voraussetzungen konnte fast jeder in den Verdacht geraten, den Chlysten anzugehören. Zur besseren Orientierung verabschiedete der III. Allrussische Kongress der Missionare im Jahr 1897 eine Liste mit zehn Erkennungsmerkmalen:
1. Gerüchte über Mitgliedschaft; zu bestätigen, falls die Voraussetzungen dafür gegeben sind. […] 3. Lockere sexuelle Beziehungen, oft begleitet von zerbrochenen Familienbanden und offenem Ehebruch. 4. Vermeiden von Fleisch, vor allem Schweinefleisch. 5. Vollständige Enthaltsamkeit vom Genuss alkoholischer Getränke. 6. Äußere Erscheinung: erschöpft, gelbliche Haut, begleitet von einem trüben und fast unbeweglichen Ausdruck in den Augen. Das Haar der Männer ist glatt und stark mit Öl gefettet; die Frauen bedecken sich das Haupt mit einem Kopftuch. Sie sprechen in einschmeichelnder Manier, ihre Sprache ist gespickt mit Worten, die gekünstelte Bescheidenheit ausdrücken. Sie seufzen ständig, bewegen sich ruckartig, leiden unter einem nervösen Zucken und haben einen seltsamen Gang, der an den der Soldaten erinnert. […] 9. Die Chlysten nennen einander fast immer mit Kosenamen. 10. Alle essen sie gerne Süßes.3
Der vorherrschenden Meinung zum Trotz hegten die Chlysten keinerlei umstürzlerische Absichten. Doch das änderte nichts daran, dass das Wort „Chlyst“ in Russland um 1900 zu einem Synonym für den politischen Gegner wurde, ähnlich wie der Begriff „Faschist“ unter den Kommunisten oder „Kommunist“ in den USA der 1950er-Jahre. Man nannte so jeden, den man für einen Ketzer hielt, für wahnsinnig, subversiv oder moralisch verdorben.4
Es gab aber auch Zeiten, da sah man in der vermeintlichen Macht der russischen Sekten durchaus auch etwas Positives. Der Skopez („Kastrat“) Kondrati Seliwanow, der verkündete, er sei Jesus Christus und Zar Peter III. in Personalunion, war in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts eine beliebte Persönlichkeit, und die Petersburger Elite gab sich in seiner Wohnung die Klinke in die Hand, um seinen Prophezeiungen und Weissagungen zu lauschen. Angeblich suchte ihn im Jahr 1805 Alexander I. auf, vor der Schlacht bei Austerlitz. Seliwanow riet dem Zaren, Napoleon nicht anzugreifen, doch Alexander hörte nicht auf ihn, und am Ende erlitten das russische und das österreichische Heer eine vernichtende Niederlage. Fast 20 Jahre lang war Seliwanow in der höheren Gesellschaft und in Regierungskreisen eine ganz wichtige Stimme. Seine Anhänger verehrten ihn so sehr, dass sie seine Tischabfälle aufbewahrten und wie heilige Reliquien anbeteten, ähnlich wie Rasputins Jünger hundert Jahre später.5 Doch als der Generalgouverneur von St. Petersburg im Jahr 1819 erfuhr, dass zwei seiner Neffen Versammlungen der Skopzen besuchten und dass einige junge Offiziere der kaiserlichen Wache sich sogar selbst kastriert hatten, schritt die Regierung ein. Seliwanow wurde in ein Kloster gesteckt, wo er den Rest seines Lebens verbringen musste.
Manche Angehörige der Oberschicht empfanden die Intensität und die Leidenschaftlichkeit der Sekten als eine Entschädigung dafür, dass ihnen das moderne Leben so wenig Spirituelles zu bieten hatte. Wie alle Gruppen am Rande der Gesellschaft waren die Sektierer Außenseiter und daher erst einmal verdächtig. Sie galten als gefährlich, doch auch als faszinierend und lebensbejahend – es hieß, sie stünden in direktem Kontakt mit der Lebenskraft. Im Mai 1905 versammelten sich in der Wohnung von Nikolai Minski, des symbolistischen Dichters und Herausgebers der radikalen Zeitung Neue Zeit, die Schriftsteller und Intellektuellen Wjatscheslaw Iwanow, Wassili Rosanow, Fjodor Sologub, Nikolai Berdjajew, Alexei Remisow samt ihren Gattinnen zu einem „experimentellen“ Abend. Sie stellten sich im Kreis auf, löschten das Licht und begannen, sich wie die Chlysten zu drehen. Als Nächstes führte Iwanow einen jungen Musiker herein, einen blonden Juden, den sie symbolisch kreuzigten, bevor sie ihm die Handgelenke aufschnitten und sein Blut in ein Weinglas tropfen ließen, aus dem sie anschließend tranken. Danach küssten sie einander. Alle gingen zufrieden nach Hause – außer dem Musiker möglicherweise – und versprachen, einander bald wieder zu treffen, zu einer weiteren Chlysten-Zeremonie. Das nächste Mal würden sie die Mysterien des Dionysos erkunden.6
Die russischen Symbolisten interpretierten die orgiastischen Riten der Sekten als Reste der alten dionysischen Kulte, die im Mahlstrom der Moderne unterzugehen drohten.7 Gerade als die Praktiken einiger Sekten auszusterben drohten, verließen ihre Anführer das Land, gingen in die Großstädte und nahmen Kontakt zum europäisierten Russland auf. Es war eine Zeit spannender kultureller Entdeckungen. „Sie kamen zu uns wie Boten aus einer anderen Welt“, erinnerte sich der Schriftsteller Michail Prischwin an seine Begegnung mit den Sektierern. „Einer Welt, die uns unbekannt und vertraut zugleich erschien, reizvoll, doch unzugänglich, wie unsere Träume oder unsere Kindheit. Sie kamen aus einer Welt, zu der Menschen der Schriftkultur – Autoren und Leser – immer wieder einen Zugang suchen, was ihnen aber nur selten gelingt.“8 Die Intellektuellen projizierten ihre eigenen Wünsche und Anliegen auf die Sekten. Sie sahen in ihnen tugendhafte, gewaltfreie, gemeinschaftliche Formen des Miteinander, kurz: eine gerechtere Form der sozialen Ordnung.
Diejenigen, die besser über diese Sekten Bescheid wussten, waren weniger anfällig für solch romantische (und naive) Vorstellungen. In den Augen Alexander Prugawins, Experte für die Altgläubigen und das russische Sektierertum, stellte die Begeisterung der Gesellschaft für die Sekten und insbesondere für die Chlysten eine ernste Bedrohung dar. „Die trüben Wellen eines ungesunden, abergläubischen Mystizismus, der auf einem Fundament der Hysterie gründet, verbreiten sich immer mehr“, schrieb er, „sie steigen immer höher, und sie reißen […] die höchsten Ebenen der Intelligenzija, des Staates und sogar der Kirche mit sich.“ Im Zentrum dessen, was Prugawin als „Neo-Chlystowschtschina“ bezeichnete, stand der Gedanke, die eigene Fleischeslust dadurch zu bekämpfen, dass man sich aktiv der Versuchung aussetzte. Prugawin erzählte von Frauen in der Hauptstadt, die eine Nacht im Bett irgendeines „Propheten“ verbrachten, nur um dessen Liebkosungen möglichst ruhig und emotionslos über sich ergehen zu lassen. Prugawins Ansicht nach waren für diese Entwicklung hauptsächlich prominente Kirchenmänner wie Feofan verantwortlich, die Männer aus der Unterschicht, die sie fälschlicherweise für Volksheilige hielten, quasi auserkoren und diesen dann ein Forum boten.9 Wie Prugawin anmerkte, glaubten um die Jahrhundertwende viele, dass es in Russland mit dem religiösen Leben nicht zum Besten stand. Dass man sich überhaupt so viel mit Predigern aus der Unterschicht, mit Sehern und Gesundbetern, mit Prophezeiungen und Wundern beschäftigte, sei, so Prugawin, ein Symptom für den Bankrott des spirituellen Lebens im Lande, vor allem bei den Oberen Zehntausend.10
Der Historiker Michail Bogoslowski von der Universität Moskau sah das ganz anders: Für ihn war die Anziehungskraft, die charismatische Figuren wie Rasputin auf die gebildete Gesellschaft ausübten, überhaupt nichts Neues. Und wie der Fall von Seliwanow zeigt, hatte er da durchaus recht. So etwas kam immer wieder vor, und für Bogoslowski gehörte dieses Phänomen schlichtweg zur russischen Glaubenswelt. Der eigentliche Grund für den Aufstieg solcher religiöser Gestalten liege weniger in der abgestumpften religiösen Sensibilität der Elite, so Bogoslowski. Vielmehr habe er mit den Defiziten der offiziellen russischen Kirche zu tun, vor allem mit dem „abgestandenen und schmucklosen Formalismus“ der höheren Geistlichkeit, von der er in seinem Tagebuch schrieb, ihre Vertreter seien „im Grunde genommen nichts als Staatsfunktionäre, die nur noch damit beschäftigt sind, irgendwelche Dokumente abzuzeichnen, und die jeglichen religiösen Feuers entbehren.“11
Bogoslowski war mit seiner Einschätzung deutlich in der Minderheit. Die Russen neigten eher dazu, sich Ippolit Gofschtetters Urteil anzuschließen. In seinem Artikel „Das Geheimnis der Chlystowschtschina“ in der Neuen Zeit schrieb er, Russland sei einer ernsten Bedrohung ausgesetzt. Die Revolution von 1905 habe die Hoffnung der Russen auf einen strukturellen Wandel nicht erfüllt, und in ihrer Verzweiflung und inneren Leere wandten sie sich nun Mystikern aus dem gemeinen Volk zu. Doch diese Propheten seien allesamt Hochstapler, so Gofschtetter, und Russland vertraue sich blindlings der „fanatischen Grausamkeit der dunklen Massen“ an. Die mystischen Riten der Chlysten, warnte er, drohten Russland „komplett und vollständig zu vernichten“.12