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Einleitung Der heilige Teufel?

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An einem sonnigen Frühlingstag des Jahres 1912 trug Sergei Prokudin-Gorski im abgelegenen sibirischen Dorf Pokrowskoje seine große Kamera mitsamt Stativ hinunter ans Ufer der Tura. Er war einer der innovativsten Fotografen seiner Zeit, ein Pionier der Farbfotografie. Den russischen Zaren Nikolaus II. hatten Prokudin-Gorskis Bilder so beeindruckt, dass er ihn beauftragt hatte, die Vielfalt seines Reichs in all seiner Farbenpracht festzuhalten.

An diesem Tag sollte seine Kamera eine ganz typische ländliche Szene einfangen. Die weiße Dorfkirche erstrahlte in der Sonne und erhob sich über schmucklos zusammengezimmerten braun-grauen Holzhäusern und Scheunen. An einem Fenster hing ein Blumenkasten, darin steckte eine Pflanze mit roten Blüten, vielleicht eine Geranie, ein reizvoller Kontrast zur dunklen Fensterscheibe. In aller Ruhe grasten zwei Kühe auf den grünen Trieben der Weide, die sich gerade erst vom langen sibirischen Winter erholte. Zwei Hausfrauen verrichteten am Ufer des Flusses ihre tägliche Arbeit. Ein einsames Boot lag im Schlamm, bereit für den nächsten Fischzug auf der Tura. Im Grunde sah das Dorf aus wie so viele namenlose Dörfer, die Prokudin-Gorski in den letzten Jahren fotografiert hatte.

Doch dies war kein Dorf wie jedes andere, und Prokudin-Gorski wusste genau, dass Zar und Zarin von ihm erwarteten, Pokrowskoje in den großen fotografischen Überblick mit aufzunehmen. Schließlich war es der Heimatort des berüchtigtsten Russen jener Tage. Jenes Mannes, der im Frühjahr 1912 im Mittelpunkt eines Skandals stand, der Nikolaus’ Herrschaft mehr erschütterte, als es irgendein anderes Ereignis je vermocht hatte. Schon seit Jahren waren Gerüchte über ihn in Umlauf, doch erst jetzt hatten es die Minister des Zaren und die Politiker der Duma, der gesetzgebenden Versammlung Russlands, gewagt, ihn offen anzuprangern. Sie hatten den Palast aufgefordert, ihnen und dem ganzen Land zu erklären, wer dieser Mann nun eigentlich war und in welcher Beziehung genau er zum Thron stand. Es hieß, er gehöre einer bizarren religiösen Sekte an, die den schlimmsten Formen sexueller Perversion fröne. Es hieß, er sei ein Betrüger, der sich als frommer Mann ausgebe und Zar und Zarin derart um den Finger gewickelt habe, dass sie ihn als ihren geistig-spirituellen Führer ansahen. Es hieß, er habe die ganze russisch-orthodoxe Kirche unter seine Kontrolle gebracht und gestalte sie nun nach seinen eigenen unmoralischen Vorstellungen um. Es hieß, er sei lediglich ein schmutziger Bauer, der es nicht nur geschafft habe, sich in den Palast einzuschleichen, sondern durch Intrigen und Täuschung zur wahren Macht hinter dem Thron aufzusteigen. Es hieß, er sei eine echte Gefahr für die Kirche, für die Monarchie, ja, für ganz Russland. Der Name des Mannes war Grigori Jefimowitsch Rasputin.

All das muss Prokudin-Gorski an jenem Tag durch den Kopf gegangen sein. Es war nicht irgendein Dorf, das er hier für den Zaren fotografierte – es war der Geburtsort Rasputins. Der Fotograf machte diverse Aufnahmen von Pokrowskoje, aber seltsamerweise achtete er darauf, dass das Haus nicht ins Bild kam, in dem der berüchtigte Sohn des Dorfes seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Vielleicht war dieser Umstand ein ganz persönlicher Kommentar des großen Fotografen zu jenem Mann, über den mittlerweile ganz Russland sprach.

Rasputins Biografie ist eine der bemerkenswertesten der neueren Geschichte und liest sich beinahe wie ein düsteres Märchen: Ein undurchsichtiger, ungebildeter Bauer aus dem rauen Westsibirischen Tiefland vernimmt den Ruf Gottes und macht sich auf die Suche nach dem wahren Glauben. Er begibt sich auf eine Reise, die ihn über viele Jahre durch die endlosen Weiten des Landes führt, bevor er schließlich sein Ziel erreicht: den Palast des russischen Zaren. Die kaiserliche Familie nimmt ihn auf und lässt sich von seiner Frömmigkeit, seinen unfehlbaren Einsichten in die menschliche Seele und seinen einfachen bäuerlichen Manieren bezirzen. Wie durch ein Wunder rettet er dem Thronfolger das Leben, aber die bloße Anwesenheit dieses Außenseiters und der große Einfluss, den er auf Zar und Zarin ausübt, erzürnen die einflussreichen Männer des Reiches. Sie locken ihn in eine Falle und töten ihn. Viele glaubten, der heilige Bauer habe seinen eigenen Tod vorausgesehen und prophezeit, der Herrscher werde vom Thron stürzen, sollte ihm etwas zustoßen. Genau das passierte, und das Reich, das der Zar einst regierte, versank auf Jahre hin in unaussprechlichem Leid und Elend.

Noch vor seiner grausamen Ermordung in einem Petrograder Keller in den letzten Tagen des Jahres 1916 war Rasputin in den Augen vieler Menschen weltweit zu einer regelrechten Personifizierung des Bösen geworden. Seine Schlechtigkeit, so erzählte man sich, kenne keine Grenzen, und sein Geschlechtstrieb lasse sich nicht stillen, ganz egal, wie viele Frauen er mit in sein Bett nehme. Rasputin galt als brutaler, trunksüchtiger Satyr mit den Manieren eines Stallburschen. Dank der den russischen Bauern angeborenen Gerissenheit wusste er ganz genau, wie er Zar und Zarin den einfachen Mann Gottes vorspielen konnte. Er brachte sie mit seinen Tricks dazu, zu glauben, er könne ihren Sohn Alexei retten und mit jenem letztlich die Dynastie. Sie gaben sich und das Zarenreich in seine Hände, doch er verriet das Vertrauen, das sie in ihn setzten, mit seiner Gier und Verderbtheit, zerstörte die Monarchie und trieb ganz Russland in den Ruin. So sagte man.

Heute ist Rasputin der wohl bekannteste Name der russischen Geschichte. Es gibt Dutzende Biografien und Romane, Filme und Dokumentationen, Theaterstücke, Opern und Musicals über ihn. Seine Heldentaten wurden immer wieder besungen, vom Jazz-Song Rasputin (The Highfalutin Lovin’ Man), den The Three Keys 1933 einspielten, bis hin zu Boney M., die 1978 in ihrem Disco-Hit sangen: „Ra-Ra-Rasputin, lover of the Russian queen … Ra-Ra-Rasputin, Russia’s greatest love machine.“ Es gibt unzählige Rasputin-Bars, ‑Restaurants und ‑Diskotheken, eine Computer-Software namens Rasputin, eine Comic-Serie und eine Actionfigur. Er ist der Star von mindestens zwei Videospielen (Hot Rasputin und Shadow Hearts 2) und taucht in japanischen Mangas und Animes auf. Es gibt ein Bier mit seinem Namen, das „Old Rasputin Russian Imperial Stout“, und – was wohl weniger überrascht – einen Rasputin-Wodka. Rasputins Leben war 1991 sogar Grundlage eines Auftritts der russischen Eiskunstläuferin Natalja Bestemjanowa und ihres Partners Andrei Bukin. Rasputin findet sich in der Popkultur überall.

Auch heute, 100 Jahre nach seinem Tod, ist und bleibt Rasputin in der Fantasie der Menschen der „verrückte Mönch“ oder „der heilige Teufel“ – ein einprägsames Oxymoron, das auf den russischen Priester Iliodor zurückgeht, einen seiner engsten Freunde, der später zu einem seiner größten Feinde wurde. So viel ist im Laufe des letzten Jahrhunderts über Rasputin gesagt und geschrieben worden, man möchte meinen, dass es kaum noch etwas hinzuzufügen gibt. Oder doch?

Der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 führte zu einer intensiven und gelegentlich durchaus schmerzhaften Aufarbeitung von Russlands Vergangenheit. Die Helden des alten Regimes waren auf einmal Schurken, und die Schurken waren Helden – das Pendel schwang wild hin und her, wie es in der russischen Geschichte schon öfter der Fall war. Nirgends zeigte sich das deutlicher als im Umgang mit Zar Nikolaus II. und seiner Frau Alexandra: Unter den Sowjets waren sie als Klassenfeinde verachtet. Im Jahr 2000 wurden sie – zusammen mit ihren fünf Kindern – von der Russisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen, nachdem man ihre sterblichen Überreste im Rahmen einer aufwendigen Zeremonie in der St. Petersburger Peter-und-Paul-Kathedrale beigesetzt hatte, in der sich auch die Grabstätten früherer Zaren befinden.1

Bei dieser kompletten Neubewertung der russischen Geschichte hat man auch Rasputin nicht vergessen. Eine neue Generation von Historikern ist angetreten und behauptet, zum wahren, historischen Rasputin vorzudringen.2 Alles, was man in den letzten hundert Jahren über ihn erzählt habe, so sagen sie, seien Lügen und Halbwahrheiten – ein Zerrbild, fabriziert von seinen Feinden. Sie sehen Rasputin im Mittelpunkt der größten Verleumdungskampagne der Geschichte. In Wirklichkeit sei er ein treuer Ehemann und fürsorglicher Vater gewesen, ein ehrlicher Mann Gottes und frommer orthodoxer Christ, ein bescheidener russischer Bauer, der göttliche Visionen empfing und seine besonderen Gaben ganz in den Dienst der Zarenfamilie und seines geliebten Heimatlandes stellte. Die vielen Horrorgeschichten über seine Ausschweifungen und Saufgelage, wie korrupt er gewesen sei und wie sehr er sich in die Angelegenheiten des Staates eingemischt habe – all das tun sie als Hörensagen ab.

Die Hetzkampagne gegen Rasputin war – so die Verfechter dieser Theorie – Teil eines Krieges gegen die Monarchie, geführt von Feinden des Zarentums, die nicht nur die Romanow-Dynastie stürzen wollten, sondern das ganze Heilige Russland. Das grundfalsche Bild von Rasputin als „Teufel“ sei geschaffen worden, um die Legitimität und die heilige Aura des Throns zu untergraben und eine Revolution auf den Weg zu bringen, mit der eine fanatische Bande atheistischer Kommunisten die Macht an sich reißen wolle, die dazu zunächst die russische Orthodoxie und die heiligen Traditionen des Landes ausrotten müsse. Nach dieser Interpretation der Geschehnisse war Rasputin die Personifikation des wahren Volksglaubens, ein einfacher frommer Bauer, der für seine Überzeugungen mit dem Leben bezahlte. Wie es der einflussreiche orthodoxe Priester Dmitri Dudko formulierte, der unter den Sowjets schikaniert wurde und im Gefängnis saß: „In der Person von Rasputin sehe ich das ganze russische Volk. Auch wenn man es schlägt und hinrichtet, bewahrt es seinen Glauben, selbst wenn dies den sicheren Tod bedeutet. Und dank dieses Glaubens wird es siegen.“ Die berühmte Sängerin Schanna Bitschewskaja geht noch weiter und nennt Rasputin einen großen russischen Märtyrer. In den vergangenen Jahren ist Rasputins Abbild sogar auf Ikonen aufgetaucht, oft neben Mitgliedern der Zarenfamilie, und bestimmte Gruppen innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche fordern seit Langem, dass er heiliggesprochen wird. Die Stimmen wurden so laut, dass man eine spezielle synodische Kommission einberief, die die Angelegenheit mehrere Jahre lang untersuchte und sich intensiv beriet, bevor sich die Kirche 2004 schließlich gegen eine Heiligsprechung Rasputins entschied. Der Metropolit Juvenali verkündete, die Kommission habe noch immer zu viele Zweifel an Rasputin, was seine möglichen Verbindungen zu mystischen Sekten betreffe und seinen Ruf als unmoralischer Trunkenbold. Dabei hat die sogenannte Wahrhaft Orthodoxe Kirche Russlands (eine Nachfolgeorganisation der in den 1920er-Jahren von der offiziellen Russisch-Orthodoxen Kirche abgespaltenen Katakombenkirche) Rasputin bereits 1991 als Heiligen anerkannt. Offenbar sind sich die Russen nach wie vor uneins, ob Rasputin nun ein Heiliger war oder nicht.3

Dass diese neue nationalistische Darstellung Rasputins von Antisemitismus durchdrungen ist und von paranoider Fremdenfeindlichkeit, ist nur eines der Probleme, die sich hier auftun. Letzten Endes wird dabei lediglich ein Mythos durch einen anderen ersetzt: An die Stelle von Rasputin, dem Teufel, tritt Rasputin, der Heilige. Einmal mehr schlägt das Pendel aus. Doch keines dieser beiden Bilder ist überzeugend, und so bleibt die Frage: Wer war Rasputin wirklich?

Ich begann, mich mit Rasputin zu beschäftigen, als ich an einem Buch über das Schicksal des russischen Adels nach der Revolution von 1917 schrieb. Bei eingehenden Recherchen zu den letzten Jahren des alten Regimes begegnete mir Rasputin ständig und überall. Egal welche Quellen ich gerade las, ob persönliche Korrespondenz, Tagebücher, Zeitungen, Memoiren oder politische Traktate – dauernd tauchte Rasputin auf. Ich kam gar nicht an ihm vorbei. Wie es sein Zeitgenosse, der symbolistische Dichter Alexander Blok, so treffend ausdrückte: „Immer wieder Rasputin, überall Rasputin.“4 Ich hatte schon viele Jahre über die russische Geschichte geforscht, doch darauf war ich absolut nicht vorbereitet. Und das lag vor allem am Snobismus und den Vorurteilen der akademischen Welt: Für Russlandforscher war Rasputin kein angemessenes Studienobjekt. Er war für die ernsthafte Wissenschaft eine viel zu populäre Figur. Ihn umgab fast so etwas wie eine karnevaleske Aura – jemand, mit dem sich allenfalls Romanschriftsteller oder Pophistoriker befassten. Auch ich war unbewusst diesem Vorurteil aufgesessen. Dennoch wurde ich immer neugieriger, was es mit diesem Mann wirklich auf sich hatte, und je mehr ich las, desto mehr wurde mir klar, welche wichtige Rolle er im Leben der letzten Romanows und beim Zusammenbruch des Zarenreichs gespielt hatte. Rasputin war in meinem Kopf, und er ließ mich nicht mehr los.

Nach dem Sturz der Romanows richtete die Provisorische Regierung am 11. März 1917 eine „Außerordentliche Untersuchungskommission zu rechtswidrigem Verhalten im Amt bei ehemaligen Ministern, Hauptverwaltern und anderen Personen in hohen Ämtern im zivilen Bereich sowie bei Militär und Marine“5 ein. Diese Kommission hatte unter anderem die Aufgabe, Rasputins angeblich schädlichen Einfluss auf die Staatsgeschäfte aufzudecken. Dutzende Minister, Beamte, Höflinge und Freunde von Rasputin – von denen die neue Regierung viele hatte inhaftieren lassen – wurden der Kommission vorgeführt und verhört. In der damals herrschenden Atmosphäre, die von Hass und Verachtung für das alte Regime geprägt war, versuchten viele Zeugen ihre Haut zu retten, indem sie Rasputin möglichst düster darstellten und behaupteten, sie hätten sich stets seinem Einfluss widersetzt; er allein sei die faule Frucht gewesen, die die Herrschaft des Zaren vergiftet und die Monarchie zu Fall gebracht habe. Mit ihren verzweifelten Versuchen, sich selbst von jeder Schuld freizusprechen und alles auf Rasputin zu schieben, machten sie ihn zum alleinigen Sündenbock für Russlands Elend. Diese Strategie stand Pate für den Großteil der Literatur über Rasputin. Das wohl beste Beispiel sind die Memoiren von Fürst Felix Jussupow, Rasputins Mörder, in denen sich das Mordopfer in Satan höchstpersönlich verwandelt.

Einhundert Jahre nach seinem Tod umgibt Rasputin ein Mythos, hinter dem seine eigentliche Person komplett zurücktritt. Hinter dem ganzen Gerede und Klatsch, den Verleumdungen und anzüglichen Anspielungen wird er selbst quasi unsichtbar. Als ich die diversen Biografien las, die über ihn veröffentlicht worden waren, wurde ich das Gefühl nicht los, ihn selbst überhaupt nicht zu sehen, sondern lediglich das, was andere in ihn projizierten. Zweidimensionale, blutleere Karikaturen ohne jede Tiefe und Komplexität. Das lag sicherlich auch daran, dass jene sowjetischen Archive, die Akten über Rasputin enthielten, bis Ende des 20. Jahrhunderts für Forscher gar nicht zugänglich waren. Dieser Umstand führte dazu, dass die Anekdoten und erfundenen Geschichten aus den wenigen verfügbaren Quellen ständig wiederholt und immer wieder veröffentlicht wurden. Erst in den letzten Jahren hat sich die Situation geändert: Endlich haben die russischen Archive damit begonnen, ihre Geheimnisse preiszugeben.

Mir war von Anfang an klar: Wollte ich den wahren, historischen Rasputin kennenlernen, so bestand meine einzige Chance darin, in den Archiven nach Dokumenten zu suchen, die noch zu seinen Lebzeiten entstanden waren, bevor der Mythos Rasputin vollends Gestalt angenommen hatte. Und das erwies sich als außergewöhnlich mühsam. Mein Weg führte mich in sieben Länder, von Sibirien und Russland über Europa und Großbritannien bis in die USA. Die oberste Pflicht eines jeden Biografen besteht darin, die objektiven Fakten eines Lebenswegs zu ermitteln – etwas, das bei Rasputin bislang nie wirklich gelungen war. Und so suchte ich alles an Informationen zusammen, was diesen Mann in seiner Welt verortete: wo er an einem bestimmten Tag war, was er tat, wen er traf, worüber sie sprachen. Ich wollte alle Stationen in Rasputins Leben nachvollziehen, um ihn aus den Sphären des Mythos in das ganz banale, alltägliche Leben zurückzuholen. Nur so, glaubte ich, könnte ich die Person Rasputin – im Gegensatz zur Legende – kennenlernen.

Während meiner Suche nach Spuren dieses schwer fassbaren, realen Rasputin geschah allerdings etwas ganz Merkwürdiges: Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto mehr war ich überzeugt davon, dass es bei der Rekonstruktion der wichtigsten Fakten über Rasputin weniger um seine tatsächlichen Handlungen als um die kolportierten ging. Niemand wusste Genaues über Rasputins Herkunft, seine sexuellen Neigungen, seine mögliche Verbindung zu religiösen Untergrundsekten, und was am wichtigsten war: Niemand wusste, welchen Einfluss er am Hof genoss und wie genau seine Beziehung zum Zarenpaar aussah. Die entscheidende Wahrheit über Rasputin war jene, die die Russen in ihren Köpfen mit sich herumtrugen, und dieser Umstand war es, der ihn zu einer so außergewöhnlichen und einflussreichen Gestalt machte.

Lew Tichomirow, ein radikaler Revolutionär, der sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts in einen konservativen Monarchisten verwandelte, hielt eben diesen Punkt im Frühjahr 1916 in seinem Tagebuch fest:

Die Leute sagen, der Zar sei von Angesicht zu Angesicht davor gewarnt worden, dass Rasputin die Dynastie zerstöre. Er habe geantwortet: „Ach, das ist doch dummes Zeug. So wichtig ist er bei Weitem nicht.“ Eine völlig unverständliche Sicht der Dinge. Denn genau das ist das Zerstörerische: die maßlosen Übertreibungen. Wirklich wichtig ist nämlich nicht, was für einen Einfluss Grischka auf den Zaren hat, sondern was die Leute denken, was für einen Einfluss er hat. Eben das ist es, was die Autorität des Zaren und der Dynastie untergräbt.6

Rasputin von seinem eigenen Mythos zu trennen, so wurde mir klar, würde bedeuten, ihn komplett misszuverstehen. Es gibt keinen Rasputin ohne die Erzählungen über ihn. Daher habe ich all diese Geschichten sorgfältig gesammelt, von den Bemerkungen, die die Höflinge in den Palästen der Romanows einander zuflüsterten, über den anzüglichen Klatsch in den aristokratischen Salons von St. Petersburg bis hin zu den bissigen Berichten in der Boulevardpresse und den obszönen Witzen, die unter Kaufleuten und Soldaten zirkulierten. Ich habe all das Gerede über Rasputin so weit zurückverfolgt, dass ich schließlich in der Lage war zu rekonstruieren, wie und warum der Mythos um Rasputin entstand und auf wen er zurückging.

Rasputins Lebensgeschichte ist eine Tragödie, und zwar nicht nur die Tragödie eines einzelnen Menschen, sondern einer ganzen Nation. Mit all den komplexen Auseinandersetzungen, die er mit sich ausfocht – um Glaube und Moral, um Lust und Sünde, um Tradition und Wandel, um Pflicht und Macht und ihre Grenzen –, und mit seinem blutigen, gewaltsamen Ende spiegelt sich in Rasputins Leben die russische Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts wider. Rasputin war weder ein Teufel noch ein Heiliger, aber das macht ihn nicht weniger bemerkenswert, und es macht sein Leben für den Niedergang des Zarenreichs nicht weniger wichtig.

Und die Erde wird zittern

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