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9. Rasputin-Nowy

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Kurz nachdem er dem Zar geschrieben hatte, brach Rasputin nach Pokrowskoje auf. Mehrere seiner neuen Freunde aus der Hauptstadt reisten mit ihm, darunter Vater Roman Medwed und dessen Frau Anna.

Roman war Priester der apostolischen St. Petersburger Maria-Magdalenen-Kirche und hatte sich während des Studiums im Seminar mit Feofan angefreundet. Außerdem war er gut mit dem Vater Johannes von Kronstadt bekannt. Vor Rasputins Aufstieg war Johannes von Kronstadt die berühmteste religiöse Figur in Russland; er war der „erste moderne russische Prominente aus dem religiösen Bereich“, wie es in seiner neuesten Biografie heißt. 1989 wurde er heiliggesprochen. Vater Johannes kam 1829 als Ioann Ilitsch Sergijew zur Welt und entwickelte sich zu einem charismatischen Priester, dessen Predigten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts regelrecht Menschenmassen anzogen. Seine Hände, erzählte man sich, besaßen alle möglichen heilenden Kräfte. Seine „Dienste“ waren derart begehrt, dass die Kirche ihm das einzigartige Privileg gewährte, einer ganzen Menschenansammlung zugleich die Beichte abzunehmen. Er war bei den Armen genauso beliebt wie beim Adel, und seine Anhänger küssten buchstäblich den Boden, auf dem er wandelte. Sein Bildnis wurde auf Postkarten und Plakate gedruckt, ja es gab sogar Johannes-Souvenirschals – um den Priester entstand ein Personenkult, den er selbst erheblich beförderte. Er wurde ans Sterbebett Alexanders III. gerufen, aber seine Gebete konnten den Tod des Zaren leider nicht verhindern. Als Vater Johannes starb, stürmten weibliche Bewunderer seine Wohnung und stahlen zahlreiche Kleidungsstücke, die sie fortan als heilige Reliquien verehrten.

Solange Rasputin lebte, suchte man immer wieder nach Verbindungen seiner Person zu Johannes von Kronstadt. Einige sagten, Vater Johannes habe in Rasputin seinen Nachfolger gesehen und ihn Nikolaus und Alexandra empfohlen; andere behaupteten, im Gegenteil, er habe Rasputin verabscheut und ihm ins Gesicht gesagt, man könne bereits an seinem Namen ablesen, was für ein liederlicher Mensch er sei. Nichts davon ist wahr. Nach allem, was wir wissen, sind die beiden Männer einander nie begegnet. Da jedoch die Medweds Johannes von Kronstadt nahestanden und sich regelmäßig mit ihm trafen, ist es recht wahrscheinlich, dass sie, wenn sie die beiden einander schon nicht vorstellten, Johannes wenigstens von dem wundersamen Mann Gottes aus Sibirien erzählten. Geschichten über Rasputin wird Vater Johannes sicherlich gehört haben, was er persönlich von ihm hielt, wissen wir nicht.1

Feofan führte Roman Medwed bei den Schwarzen Prinzessinnen ein und stellte ihn auch Rasputin vor. Roman und Anna waren sofort begeistert von Bruder Grigori; schon bald war er in ihrer Wohnung in der Wtoraja-Roschdestwenskaja-Straße ein häufiger Gast, und Ende 1905 oder Anfang 1906 zog er dort sogar mit ein. Seine Gastgeber glaubten, er verfüge über seltene Heilkräfte, die selbst über weite Entfernung funktionierten. Jahrelang schrieb Anna jedes Mal, wenn sie oder ihr Mann erkrankten, an Rasputin, er möge für ihre Gesundung beten.2

Auf der Reise nach Pokrowskoje wurden die Medweds von Olga Lochtina begleitet. Sie kam 1867 als Tochter eines Adligen aus Kasan zur Welt und wurde Rasputins fanatischste Anhängerin. In vielerlei Hinsicht war ihr späteres Leben ein erbärmliches Schauspiel, und ihr bizarres Verhalten galt vielen als stichhaltigster Beweis für Rasputins gefährlichen Einfluss. Sie verfiel ihm vollkommen. Sah sie in Rasputin zunächst einen Mann Gottes, wurde er im Laufe der Zeit erst zu einem Heiligen, dann zur Verkörperung Christi und schließlich zu Gott selbst. Olga Lochtina empfand sich als Teil einer Heiligen Dreifaltigkeit, mit Iliodor als Sohn Gottes und ihr selbst als Jungfrau Maria.

Das alles war im Moment aber noch Zukunftsmusik. 1905 war sie eine hübsche, konventionelle Petersburger Ehefrau und Mutter, ihr Mann war ein Ingenieur namens Wladimir Lochtin. Rasputin lernte Olga bei den Medweds kennen. Sie litt zu jener Zeit, wie sie später erklärte, unter einem nervösen Darmleiden, und Vater Roman habe die beiden bekannt gemacht, weil er sicher war, dass Rasputin sie heilen würde. Olga war nicht weniger beeindruckt von Rasputin als die Medweds, und so reisten sie alle gemeinsam – Olgas Tochter kam ebenfalls mit – in jenem November nach Pokrowskoje, um sich das Dorf anzusehen, aus dem dieser wundersame Mann Gottes stammte.3 „Mit Rasputin zu reisen war die reinste Freude“, erzählte Lochtina, „denn er hauchte dem Geist Leben ein.“ Auch von Pokrowskoje war sie begeistert: „Ich mochte sehr, wie er lebte“, teilte sie später der Außerordentlichen Untersuchungskommission mit.

Als die Frau ihren Mann begrüßte, fiel sie demütig vor ihm nieder […] Die Demut seiner Frau setzte mich in Erstaunen. Wenn ich Recht habe, mache ich niemandem Zugeständnisse. Rasputins Frau aber gab ihm in einem Streit nach, obwohl klar war, dass sie Recht hatte, nicht er. Als ich mein Erstaunen äußerte, sagte Rasputin: ‚Mann und Frau müssen im Herzen eins sein, wo du nachgibst und wo man dir nachgibt.‘ Wir schliefen, wo es gerade ging, sehr oft in einem Zimmer, aber wir schliefen sehr wenig und hörten Vater Grigori in geistlichen Gesprächen zu, der uns gewissermaßen an das nächtliche Wachbleiben gewöhnte. Wenn ich morgens früh aufstand, betete ich mit Vater Grigori […] Das Gebet mit ihm löste mich von der Erde […] Im Hause verbrachten wir die Zeit mit Singen von Kirchenpsalmen und Hymnen. […]

Ja, er hatte die Angewohnheit, einen zur Begrüßung zu küssen und zu umarmen, aber nur schlechte Menschen kommen dabei auf schlechte und schmutzige Gedanken […] Es stimmt auch, dass ich bei einem meiner Besuche in Pokrowskoje mit Rasputin und seiner Familie im Schwitzbad war, mit seiner Frau und den beiden Töchtern, und da wir keine schlechten Gedanken hatten, erschien dies keinem von uns unanständig oder seltsam. Dass Rasputin wirklich ein Starez war, davon überzeugen mich meine Heilung und die Weissagungen, die ich gehört habe und die eingetroffen sind.4

Im einem Brief an Bischof Antoni (Karschawin) von Tobolsk vom 1. Juni 1907 schrieb Olga, Rasputin hätte sie „gelehrt, wie man im Namen Christi liebt“ und wie man fastet, und er habe sie angewiesen, regelmäßig in die Kirche zu gehen und öfter vor den heiligen Reliquien zu beten. Sie behauptete, Rasputin habe wie durch ein Wunder den Verlobten ihrer Schwester geheilt, der unter einer schweren Nervenkrankheit gelitten habe. Die Ärzte hätten dem Verlobten nicht mehr helfen können, und er hätte bereits alle Hoffnung aufgegeben. Er war nicht einmal gläubig, doch Rasputin legte ihm ein einfaches goldenes Kreuz auf die nackte Brust, befahl ihm, es zu küssen, und im Handumdrehen war er – vor Olgas Augen – geheilt und nahm Christus als seinen Erlöser an.5 Als Rasputin 1907 bei den Medweds auszog, wechselte er zu den Lochtins in den Gretscheski-Prospekt 13, wo er bis November 1908 wohnen blieb.

Am 1. April 1906 schickte Rasputin dem Zaren aus Pokrowskoje einen Ostergruß: „Christus ist auferstanden! Darin liegt unsere Freude: dass Er auferstanden ist und mit uns jubelt.“6 In jenem Sommer kaufte er für sich und seine Familie ein teures, nagelneues Haus an der Hauptstraße von Pokrowskoje.7 1700 Rubel gab er dafür aus – Geld, das ihm einige seiner Petersburger Anhänger zugesteckt hatten, möglicherweise gehörte auch Olga Lochtina dazu. Am 12. Juli verließ Rasputin seinen Heimatort wieder und reiste zurück nach St. Petersburg. Sechs Tage später sah er Nikolaus und Alexandra zum zweiten Mal. „Wir verbrachten den Abend in Sergiewka und trafen Grigori!“, schrieb Nikolaus deutlich erregt in sein Tagebuch.8

Zu den regelmäßigen Besuchern im Haus der Medweds zählten zu jener Zeit der Schriftsteller und Philosoph Wassili Rosanow und seine Familie. Rosanow fand Roman eher uninteressant (er erinnerte ihn an einen Frosch), aber Rosanows zweite Frau, Warwara Butjagina, und seine älteren Kinder, vor allem seine Stieftochter Alexandra Butjagina, waren ganz angetan von der betont religiösen Atmosphäre, die bei den Medweds herrschte. Bald kamen sie mehrmals die Woche zu Besuch. Am Ende verließ Alexandra – damals 23 Jahre alt und unverheiratet – den elterlichen Haushalt und zog bei einer recht ungewöhnlichen Schwesternschaft von Frauen ein, die alle auf die eine oder andere Weise mit den Medweds in Verbindung standen. Ihre Familienangehörigen sah Alexandra jetzt nur noch, wenn diese die Medweds besuchten. Bald bemerkten die Eltern, dass mit ihrer Tochter eine seltsame Veränderung vor sich ging. Sie schien gar nicht mehr sie selbst zu sein, ganz so, als sei sie innerlich tot oder in eine „Somnambula“ verwandelt worden. Das ging einen ganzen Winter lang so, und sie konnten sich nicht erklären, was mit ihrer geliebten Alexandra geschehen war.

Rosanow erfuhr, dass zum Kreis um die Medweds auch der Archimandrit Feofan gehörte und ein sibirischer Pilger, dessen Name ihm nichts sagte. Die Anwesenheit des Ersteren beruhigte ihn ein wenig, immerhin genoss Feofan einen untadeligen Ruf. Bei einem seiner Besuche im Haus der Medweds sah er eine bemerkenswerte Frau, die gerade das Haus verließ, eine elegante Dame in einem teuren Mantel. Rosanow beschloss, herauszufinden, wer sie war, um den Vorgängen bei den Medweds auf den Grund zu gehen. Warum gaben sie sich so geheimnisvoll und veranstalteten mysteriöse Versammlungen hinter verschlossenen Türen? Die Dame, wie sich herausstellte, war Olga Lochtina. Rosanow suchte sie auf, und sie erzählte ihm von ihrer schrecklichen Krankheit: Wie sie gelitten habe, jahrelang ans Bett gefesselt war und kein Arzt ihr helfen konnte. Und dann sei sie bei den Medweds geheilt geworden – durch die Religion. Sie habe so schrecklich gelitten, dass sie fast den Verstand verlor, aber Gebete und der Glaube hätten ihr Leben gerettet. Rosanow wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Falls ihre Geschichte wahr war, dann hatten die religiösen Zusammenkünfte bei den Medweds ganze Arbeit geleistet: Vor ihm saß eine bildhübsche Frau. „Bei ihr war jede Bewegung schön und elegant. Sie verzauberte einen mit ihrer Persönlichkeit, und ihr Charme rührte von ihrer Aufrichtigkeit her, ihrer Wärme und der Klarheit ihres Geistes.“

Als sich Rosanow erneut von den Medweds zum Tee einladen ließ, saß jemand mit am Tisch, den er noch nicht kannte, mit einem „Antlitz, das weder das eines Kleinbürgers, noch das eines Bauern“ war, wie er betonte. Während Rosanow mit den Medweds plauderte, trank der Fremde seinen Tee aus, ohne ein Wort zu sagen, stellte die Tasse auf der Untertasse ab, bedankte sich und ging. Für Rosanow war er „der farbloseste Kerl, den ich je gesehen habe“. Erst als er fort war, erfuhr Rosanow, dass dies der sibirische Pilger war, von dem im Haus der Medweds alle so begeistert waren.

Und dann bekam Rosanow Geschichten über diesen Mann zu hören, über seine unglaubliche spirituelle Kraft und über seine Wirkung auf Menschen. Schon bald kam es ihm vor, als redeten alle nur noch über die „Wunder“, die der Sibirier in St. Petersburg vollbrächte. Aber Rosanow vernahm auch andere Stimmen: dass dieser Mann die Angewohnheit habe, Frauen und Mädchen zu küssen und zu umarmen. Als er Vater Medwed darauf ansprach, reagierte der äußerst unwirsch: „Seine Küsse“, so Roman, „waren ganz keusch und rein.“ Er verteidigte Rasputin so beharrlich, dass es Rosanow beinahe vorkam, als sei Roman nicht ganz richtig im Kopf: „Der Priester ließ nichts und niemanden am Ruf des heiligen Pilgers rütteln. Auch nur der geringste Zweifel an dessen ‚absoluter Ehre‘ erzürnte ihn dermaßen, dass er komplett die Kontrolle über sich verlor und wild zu fluchen begann.“9

Falls Rosanows erste Begegnungen mit Rasputin und seinen Anhängern widersprüchlich und verwirrend waren – auch wenn er später behaupten sollte, er sei von Anfang an von Rasputin eingenommen gewesen –, so war er wohl nicht besorgt genug, um seine Stieftochter nach Hause zurückzuholen – und das, obwohl man sich erzählte, Rasputin stelle ihr nach (oder Schlimmeres). Auch wenn Rosanow glaubte, es hätte sich so etwas wie eine Sekte um den sibirischen Pilger gebildet, machte er keine Anstalten, irgendwelche Maßnahmen gegen diese zu ergreifen. Das Gerede über Alexandra jedoch ließ nicht nach, sondern zog in St. Petersburg immer größere Kreise und erreichte schließlich auch andere religiöse Gemeinschaften.10 Im November 1907 – also mehr als ein Jahr später – erhielt Rosanow einen Brief von Nikolai Drosdow, dem Erzpriester der Petersburger Kirche St. Panteleimon der Heiler, in dem es hieß:

Ich möchte möglichst große Teile der Öffentlichkeit über den falschen Propheten aus Sibirien in Kenntnis setzen und dazu die traurigen Ereignisse rund um Ihre Tochter als Aufhänger nutzen. Anbei schicke ich Ihnen einen Entwurf meines Textes mit der Bitte, alle Details hinzufügen, die mir entgangen sein mögen, und alles zu streichen, das diesem Anliegen schaden könnte. Vielleicht sollte ich den Pilger nicht mit Namen nennen (was ich leider bereits getan habe), damit er keinen Lärm macht, wenn jemand Steine nach ihm wirft. Denn wir wissen über ihn nur wenig. Von Medwed und Ternawzew11 haben wir lediglich gehört, dass er ein „Heiliger“ ist. Über seine Worte und Taten wissen wir so gut wie nichts. Was Ihre Tochter angeht, so kann er sich hinter Medweds Rücken verstecken. Wir müssen vorsichtig sein. Senden Sie mir den Entwurf bitte zurück, nachdem Sie ihn korrigiert haben. Ich werde ihn in der Glocke oder in der nichtkirchlichen Presse veröffentlichen lassen.

Der Entwurf für Drosdows Artikel trug den Titel „Der sibirische Prophet“:

In der Hauptstadt hält sich ein Mann aus Sibirien auf, der sich von seinen Anhängern den hochtrabenden Titel „heiliger Mann“ hat verleihen lassen. Was er getan hat, um sich solchen Ruhm und solche Ehre zu „verdienen“, ist uns schleierhaft, um es ganz offen zu sagen. Wir wollen hoffen, dass diejenigen, die für die „Heiligsprechung“ dieses Mannes – der von der offiziellen Kirche nicht heiliggesprochen wurde – verantwortlich sind, ihrer geheiligten Pflicht nachkommen und die „heiligen“ Aspekte des Lebens und der Lehre dieses Neulings aus Sibirien aufzeigen werden. Unser Aufgabe ist eine andere: Wir möchten die Öffentlichkeit auf die Zweifel hinweisen, die dieser Mann aufgeworfen hat, und auf die unangenehmen Überraschungen, für die er mit einigen seiner Handlungen gesorgt hat […]. Der sibirische „Heilige“ hat die seltsame Gewohnheit, alle Frauen, mit denen er spricht, zu umarmen und zu küssen, selbst wenn er sie überhaupt nicht kennt. Er untermalt seine Worte mit Gesten und Bewegungen, die eine Dame, die sich weigerte, sich von ihm küssen zu lassen, zu Recht als „Grimassen“ und „affenartig“ bezeichnet hat. Manchmal verfällt dieser „Heilige“ in einen so ekstatischen Zustand, dass er wie besessen oder schlichtweg verrückt wirkt. So erklären Skeptiker einige Fotos dieses Mannes.

Was für ein Verhalten soll das überhaupt sein – dieses Umarmen und Küssen? Was soll es bezwecken? Die Bewunderer jenes „Heiligen“ erklären diese „Manier“ natürlich wohlwollend als überschwänglichen Ausdruck der Liebe zu seinen weiblichen Begleitern und nennen diese Küsse „heilige Küsse“, wie man sie von großen „Starzen“ wie Serafim von Sarow oder Ambrosius von Optina kennt. […]

Natürlich wollen wir nicht behaupten, der sibirische „Prophet“ müsse eine Art mystischer Sektierer sein, aber es herrscht kein Zweifel daran, dass in seinen „Posen und Bewegungen“, im Küssen und Händeschütteln etwas ganz anderes liegt, als es bei unseren heiligen Starzen – Serafim und Ambrosius – zum Ausdruck kommt. Erstens: Dieser „Prophet“ ist noch nicht so alt wie jene. Und Zweitens: Er ist ein Laie und ein verheirateter Mann; es steht ihm nicht zu, die Küsse von Eremiten nachzuahmen, die der Welt mit all ihren Leidenschaften und ihrer Lust entsagt haben. Die Starzen verteilten ihre Küsse, wie ich glaube, nur nach reiflicher Überlegung, und vor allem weckten sie nicht jene Gefühle, wie sie ein Mädchen zum Ausdruck brachte, das dem sibirischen Pilger begegnete: „Diese Küsse und das Drücken sind widerlich.“ Die Küsse der Starzen füllten Seele und Körper mit Gesundheit, Frieden und heiliger Freude. Die Küsse des sibirischen Pilgers hingegen, der vermutlich mithilfe seiner ergebenen Komplizen die „Starzen nachahmt“, führten dazu, dass eine junge Frau mit einem angeborenen Hang zur Hysterie ihr Elternhaus verlassen hat, und das nicht nur ganz ohne Bedauern oder Trauer, sondern voll der Freude ob der Vorzüge ihres neuen Lebens. Zugleich verfluchte sie ihr Elternhaus, wo sie doch alles hatte, was sie brauchte: Sie wurde ernährt und konnte leben und glauben, wie sie es wollte (innerhalb eines gewissen Rahmens, versteht sich). Als sie sich mit dem sibirischen Propheten und seinen Bewunderern traf und mit ihnen sprach, nistete sich ein böser Dämon in ihrer Seele ein: Die Wärme ihres Elternhauses empfand die junge Frau auf einmal als unangenehm, nachdem in ihr – um mit den bizarren Worten des Propheten und seiner Anhänger zu sprechen – „eine neue Seele zu wachsen begann“. Sie lief buchstäblich von zu Hause weg, als habe sich das Haus für sie in Sodom verwandelt. In Wirklichkeit, und das möchte ich betonen, gab es in ihrer Familie nichts, das auch nur im Entferntesten an Sodom erinnert hätte. Sie suchte dieselben Freiheiten wie der berühmte Sohn aus der biblischen Geschichte. Gott möge verhindern, dass diese Freiheit zum „Tod ihrer Seele“ führt oder alle Hoffnung zerstört.

Im Folgenden verstieg sich Drosdow in seinem Text zu der Behauptung, Rasputin gehöre einer bizarren religiösen Sekte an, die sich wilden, orgiastischen Riten hingebe, welche der wahren Religion in jeder Hinsicht widersprächen. Und er warf die Frage auf, ob in Alexandra wirklich eine neue Seele wachse oder nicht vielmehr ihre alte Seele absichtlich zerstört werde.12

Rosanows Reaktion auf Drosdows Brief ist nicht bekannt. Es gibt weder einen Hinweis darauf, dass er Drosdow antwortete, noch darauf, dass der Text jemals veröffentlicht wurde. Alexandra indes hatte bald genug von den Medweds und Rasputin und ging ihrer Wege. Rosanow hatte recht behalten – allzu große Sorgen hatte er sich tatsächlich nicht um sie machen müssen.

Rasputin kehrte im Herbst 1906 in die Hauptstadt zurück und bat Roman Medwed, dem Zaren einen Brief zu überreichen:

Vater Zar!

Ich bin aus Sibirien wieder in diese Stadt gekommen und würde Dir gerne eine Ikone von St. Simeon von Werchoturje, dem Wundertäter, schenken, den man in unserer Region verehrt, in der Hoffnung, dass dieser Heilige Dir alle Tage Deines Lebens Sicherheit schenkt, Dich bei Deinem Dienst für das Gute unterstützt und Deinen treuen Söhnen zur Freude gereicht.13

Am 12. Oktober rief Nikolaus Fürst Michail Putjatin zu sich, den Hauptmann des Preobraschensker Leibgarderegiments und späteren Leiter der Zarskoje Seloer Palastverwaltung, und zeigte ihm den Brief. Er wies Putjatin an, Rasputin am folgenden Tag vom Bahnhof abzuholen und zum Schloss Peterhof zu bringen. Rasputin kam am frühen Abend an und wurde umgehend zum Zarenpaar gebracht. Er überreichte die erwähnte Ikone und außerdem für jedes der Kinder eine eigene kleine Ikone. Rasputin streichelte behutsam den kleinen Alexei. Der Besuch bei der Familie dauerte etwas länger als eine Stunde. Bevor Rasputin ging, tranken sie noch gemeinsam Tee. Das Hofprotokoll, das jeden Besucher registrierte, die meisten von Rasputins Besuchen allerdings verschwieg, nannte ihn „Rasbudin, Bauer aus der Provinz Tobolsk“.14

Ein Palastlakai namens Alexander Damer erinnerte sich später daran, dass Rasputin jedes Mal beim Betreten des Palasts den schweren Bauernmantel ablegte und vor einem Spiegel im Eingangsbereich kurz haltmachte, um Haar und Bart zu glätten. Dann eilte er die Treppe empor, die zum Korridor führte, von dem die Wohnbereiche abgingen. Meist traf Rasputin Nikolaus und Alexandra in einem kleinen, gemütlichen Salon neben dem persönlichen Büro des Zaren, und genauso hastig und geschäftsmäßig, wie er gekommen war, brach er am Ende wieder auf.15

Als Rasputin am Abend des 13. Oktober Schloss Peterhof verlassen hatte, fragte Nikolaus Putjatin, was er von dem Fremden halte. Putjatin sagte dem Zaren, er glaube, dass Rasputin kein echter Starez sei und wahrscheinlich unter „einem entzündeten Gehirn“ leide. Das war ganz offensichtlich nicht das, was der Zar hatte hören wollen, denn er schwieg und strich sich mit dem Handrücken über den Bart, wie er es in solchen Situationen oft zu tun pflegte. Dann blickte er zur Seite und sagte, er sei froh, dass Rasputin ihm die Ikone gebracht habe. Sie sprachen nie wieder über Rasputin. Falls das, was Putjatin Nikolaus gegenüber geäußert hatte, seine aufrichtige Meinung war, so ließ er sich durch seine persönlichen Gefühle nicht davon abhalten, mit Rasputin Umgang zu pflegen. Etwa zu jener Zeit posierten die beiden gemeinsam in einem Fotostudio. Mag sein, dass Putjatin seine Meinung über Rasputin geändert hatte; möglicherweise hielt er es aber auch einfach nur für klug, sich in Rasputins Gesellschaft zu zeigen, schließlich kannte er die Haltung des Zaren nur allzu gut.16

Am 16. Oktober, drei Tage nach seinem Treffen mit Rasputin, schrieb Nikolaus an Pjotr Stolypin, den russischen Innenminister und Präsidenten des Ministerrates (praktisch so etwas wie Russlands Premierminister):

Pjotr Arkadewitsch!

Vor ein paar Tagen empfing ich einen Bauern aus dem Bezirk Tobolsk: Grigori Rasputin, der mir eine Ikone des heiligen Simeon von Werchoturje mitbrachte. Er hat uns beide, ihre Majestät und mich, so sehr beeindruckt, dass unser Gespräch statt fünf Minuten mehr als eine Stunde dauerte! Er wird bald nach Hause zurückkehren, doch möchte er Sie zuvor unbedingt noch kennenlernen und Ihre verletzte Tochter mit einer Ikone segnen. Ich hoffe sehr, dass Sie eine Minute finden, um ihn diese Woche noch zu empfangen.17

Zwei Monate zuvor hatten Terroristen Stolypins Sommerhaus auf der St. Petersburger Aptekarski-Insel in die Luft gejagt. Eigentlich wollten sie den Premierminister ermorden, aber er überlebte unversehrt. Dennoch wurden bei dem Anschlag 54 Menschen getötet oder verletzt. Seine Tochter Natalja brach sich beide Beine. Nikolaus hatte Natalja zur Genesung ins Winterpalais bringen lassen, und dort besuchte Rasputin sie im Oktober 1906. Weder sie noch ihr Vater, ein ernsthafter Mann, der nicht an Wunderheiler glaubte, waren von ihm besonders beeindruckt. Nachdem Rasputin ihre Bettstatt wieder verlassen hatte, so erzählte man sich, habe Natalja um ein paar Spritzer Eau de Cologne gebeten.

Nach seiner Rückkehr nach Pokrowskoje unternahm Rasputin einen Abstecher nach Schytomyr im Nordwesten der Ukraine. Dort traf er sich auf Empfehlung von Feofan mit Anna Obuchowa. In jenem Sommer hatte Feofan ihr gegenüber in den höchsten Tönen von Rasputin geschwärmt. Sie holte Rasputin am Bahnhof ab, und er küsste sie dreimal, was sie äußerst merkwürdig fand. Rasputin hatte großes Interesse an ihrem Zuhause und stellte ihr alle möglichen Fragen, etwa warum sie auf einem solch harten Bett schlafe. Dann wollte er wissen, ob Feofan ihr alles über ihn erzählt habe, was sie bejahte. Als sie durch ihre Zimmer schritten, sagte er: „Ich weiß zu lieben! Ich weiß ganz wunderbar zu lieben!“ Anna gab vor, ihn nicht zu verstehen. Er versuchte, sie dazu zu überreden, seine „spirituelle Tochter“ zu werden, aber sie lehnte ab. Das erzürnte Rasputin zunächst, doch seltsamerweise verflog sein Zorn genauso schnell, wie er gekommen war. Er erzählte von Großfürsten und Großfürstinnen, die er bei ihren informellen Namen nannte, was Anna unangenehm war. Er blieb noch ein paar Tage und fuhr fort, Anna Obuchowa zu umwerben. Als er endlich fort war, atmeten ihre Dienstmädchen auf und teilten ihrer Herrin mit, sie hätten regelrecht Angst vor ihm gehabt.18

Von Pokrowskoje aus schrieb Rasputin am 6. Dezember an Nikolaus, um ihm zum Namenstag zu gratulieren: „Engel preisen Dich, und Cherubime singen Loblieder auf Dich an Gottes Thron, und wir erfreuen uns an den Tönen, die Dir gebühren […], und der Zar wird ewig regieren, zum Entsetzen seiner Feinde und zu unserem Ruhm, und unser Ruhm liegt in Deinen Taten begründet.“19 Neun Tage später schrieb Rasputin dem Zaren erneut einen Brief, diesmal mit einem ganz speziellen Wunsch:

15. Dezember 1906

Wenn ich mich in Pokrowskoje aufhalte, trage ich den Nachnamen Rasputin, doch viele andere Bewohner des Dorfes haben den gleichen Nachnamen, was zu einiger Verwirrung führen kann. Ich werfe mich Deiner kaiserlichen Majestät zu Füßen und bitte Dich, mir und meinen Nachkommen das Recht zu gewähren, den Nachnamen „Rasputin-Nowy“ zu tragen.

Deiner Majestät treuer Untertan Grigori.20

Warum er sich diese Namensänderung so sehr wünschte, ist nicht ganz klar. Eine der am weitesten verbreiteten Anekdoten besagt, der kleine Alexei habe, als Rasputin zum ersten Mal ins Schloss kam, gerufen: „Nowy, nowy, nowy!“ – „der Neue, der Neue, der Neue!“ Hier und da hieß es sogar, dies seien die ersten Worte des Jungen gewesen, und Nikolaus und Alexandra seien so dankbar und überwältigt gewesen, dass sie beschlossen, Rasputin den Namen „Nowy“ zu geben. Wie der Brief deutlich macht, wählte Rasputin selbst diesen Namen, es war mitnichten der Einfall der Zarenfamilie. Zudem ist es wenig wahrscheinlich, dass Alexei mit zweieinhalb Jahren noch kein Wort gesprochen hat.21 Vielleicht ging der Name auf das Versprechen von Monsieur Philippe zurück, wonach Nikolaus und Alexandra einen „neuen Freund“ finden würden. Vielleicht sollte „Nowy“ also weniger ausdrücken, dass Rasputin oder seine Persönlichkeit etwas Neues darstellte, sondern vielmehr seinen einige Jahre zuvor prophezeiten Status als neuer Freund widerspiegeln. Wie dem auch sei: Sicher scheint zumindest, dass er seinen Familiennamen nicht durch „Nowy“ ersetzen wollte, weil er womöglich negative Assoziationen weckte. Er ließ sich auch weiterhin mit „Rasputin“ anreden und fügte seinem Familiennamen später lediglich hin und wieder „Nowy“ hinzu.

Am 21. Dezember leitete Nikolaus Rasputins Brief an seinen Stallmeister und Staatssekretär Baron Budberg weiter. Budberg fragte noch einmal nach, ob der Zar die Namensänderung auch wirklich gestatte, immerhin war das Tragen eines Doppelnamens traditionell dem Adel vorbehalten. Doch Nikolaus erklärte sein Einverständnis, und so leitete Budberg die Anfrage auf dem Dienstweg weiter. Am 11. Januar 1907 wurde Rasputin offiziell gestattet, sich „Nowy“ zu nennen.22 Der bedankte sich sogleich schriftlich bei Nikolaus: „Ich sende Dir Engel, die Dich und die Deinen beschützen werden.“23 Ende März wurden die Bewohner von Pokrowskoje aus ihren Häusern gerufen, um einem offiziellen Erlass zu lauschen, der besagte, dass der Pokrowskojer Bürger Grigori Rasputin im Auftrag des Zaren einen neuen Namen erhalten habe und fortan „Rasputin-Nowy“ heiße.24 Man kann sich nur schwer vorstellen, was den Dorfbewohnern durch den Kopf gegangen sein mag, als sie diese merkwürdige Nachricht vernahmen.

Nikolaus und Alexandra nannten Rasputin „Grigori“ oder „unser Freund“. Seinen Nachnamen verwendeten sie nie, weder in der ursprünglichen noch in der neuen Form. Dennoch schien die Namensänderung in gewisser Weise Sinn zu ergeben, denn in dieser Zeit wurde aus Rasputin tatsächlich so etwas wie ein „neuer Mensch“ – zumindest begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt. Nachdem er Zar und Zarin kennengelernt hatte, änderte sich alles. Und das war auch der Presse nicht entgangen. Die beliebte Moskauer Tageszeitung Russisches Wort brachte eine Meldung über die Namensänderung und fragte: „Wird für Rasputin mit seinem neuen Nachnamen auch ein neues Leben beginnen?“25

Und die Erde wird zittern

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