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5. Alexei

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Bevor er Russland endgültig den Rücken kehrte, fiel Monsieur Philippe angeblich in eine Trance und hatte eine Vision. „Erbittet die Fürsprache des heiligen Serafim von Sarow“, sagte er, „und er wird Alexandra einen Sohn schenken!“ Leider gab es dabei ein Problem: In der Russisch-Orthodoxen Kirche existierte überhaupt kein Heiliger dieses Namens. Immerhin hatte es um 1800 herum einen großen Starez namens Serafim gegeben, der fast sein ganzes Leben in extremer Armut und Isolation zugebracht hatte, zunächst in einer Hütte im Wald und dann in einer Zelle im Kloster von Sarow. Er war ein wahrhaft gottesfürchtiger Mann, bescheiden und doch von einer großen Spiritualität. Dennoch war er nie heiliggesprochen worden: Da sein Leichnam nicht unversehrt geblieben, sondern verrottet war, weigerte sich die Kirche, ihn als Heiligen anzuerkennen. Sehr zum Ärger des Heiligen Synods, dem Kontrollorgan der Russisch-Orthodoxen Kirche, setzte sich Nikolaus über diese Entscheidung hinweg und ordnete Serafims Heiligsprechung an. („Der Zar kann tun, was er will!“, beharrte die wütende Alexandra.) Manchem in der höheren Gesellschaft galt Philippe dabei als der eigentliche Wundertäter. „Man weiß gar nicht so recht, wo Philippe endet und Serafim beginnt“, so der sarkastische Kommentar von der Hofdame Jelisaweta Naryschkina.

Nikolaus und Alexandra nahmen im Juli 1903 höchstpersönlich an der Zeremonie teil, gemeinsam mit zahlreichen Familienangehörigen und fast 300.000 Pilgern. Es war eine zutiefst bewegende Veranstaltung, und sie gab Alexandra die Gewissheit, dass zwischen dem Zaren und seinem Volk eine untrennbare Verbindung bestand. Serafims Heiligsprechung hatte auch politische Untertöne, denn Nikolaus bediente sich einer Strategie seines verstorbenen Vaters: Er wollte die Dynastie an die russischen Volksmassen binden, indem er sich auf Russlands Vergangenheit vor der Zeit Peters des Großen berief. Serafim, der stets den verderblichen Einfluss der westeuropäischen Aufklärung auf die russische Spiritualität beklagt hatte, diente diesem Zweck genauso wie die Beschwörung der mittelalterlichen Vorstellung von der mystischen Verbindung zwischen Zar und Volk. Am Abend des 19. Juli watete das Zarenpaar im heiligen Wasser der Sarowa, genau wie Philippe es ihnen geheißen hatte, in der Hoffnung, sie – und ganz Russland – kämen dadurch endlich zu dem langersehnten Thronerben.1 Drei Monate später war Alexandra schwanger, und am 30. Juli 1904 um 13.15 Uhr brachte sie einen Sohn zur Welt. Sie tauften ihn Alexei, und ihre Freude und Erleichterung waren überwältigend. Nicht nur die Familie feierte, sondern das ganze Land – im gesamten Reich donnerten die Kanonen und läuteten die Kirchenglocken. Die Zarin hielt die Daten des Säuglings in ihrem Notizbuch fest: „Gewicht 4660, Länge 58. Kopfumfang 38; Brustumfang 39“.2 Nur eines sah man dem Jungen nicht an: Er war ein Bluter.

Diese Krankheit hatte ihm seine Mutter vererbt. Alexandras Großmutter, Königin Victoria, hatte unter Hämophilie gelitten, genau wie einer ihrer Söhne und zwei ihrer Töchter, darunter eben auch Alexandras Mutter, die das Bluter-Gen an Alexandra und ihre Geschwister Friedrich und Irene weitergegeben hatte. Friedrich, genannt Frittie, hatte zum ersten Mal im Jahr 1872 Anzeichen der Krankheit gezeigt, ein Jahr vor Alexandras Geburt. Im Mai 1873 fiel der dreijährige Frittie, den seine Mutter so liebte, aus dem Fenster auf eine steinerne Terrasse. Er hatte sich nichts gebrochen, und alles schien in Ordnung, doch wenige Stunden später starb er an inneren Blutungen. Alexandras zwei Neffen waren ebenfalls Bluter. Einer von ihnen, Prinz Heinrich von Preußen, starb im Alter von vier Jahren wahrscheinlich ebenfalls an einer Blutung. Das war 1904, kurz vor Alexeis Geburt.

Falls es ein Schock für die Eltern war, dass Alexei als Bluter auf die Welt kam, so dürfte es sie doch nicht völlig überrascht haben. Immerhin ließ sich die Krankheit in der Familie bis Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Tatsächlich hatte sich bereits 1876 ein französischer Mediziner öffentlich dafür ausgesprochen, man solle „allen Angehörigen von Bluter-Familien von einer Ehe abraten“. Offenbar hat keines der europäischen Königshäuser auf diese Warnung gehört. Stattdessen ignorierte man die Naturgesetze und die Erkenntnisse der Wissenschaft. Wie der britische Genetiker J. B. S. Haldane es ausdrückte: „Die Hämophilie des Zarewitsch war ein Symptom der Kluft zwischen Herrschertum und Realität.“3 Doch die Realität holte die Romanows nur allzu schnell ein. Schon in den ersten zwei Monaten fiel Nikolaus und Alexandra auf, dass der Säugling aus unerklärlichen Gründen aus dem Nabel blutete. Als Nächstes breiteten sich unter seiner zarten Haut blaue Flecken und dunkle Schwellungen aus. Spätestens jetzt war klar, dass Alexei ein Bluter war. So verwandelte sich die Freude auf einmal in Trauer.

Großfürstin Maria Pawlowna die Jüngere, die Cousine von Nikolaus II. und Schwester des Großfürsten Dmitri Pawlowitsch, der einer von Rasputins Mördern war, schrieb in ihren Memoiren:

Selbst in unserem Haus herrschte eine gewisse Schwermut. Mein Onkel und meine Tante wußten zweifellos bereits, daß das Kind krank geboren war und daß er von Geburt an die Saat einer unheilbaren Krankheit in sich trug […]. Niemand erfuhr jemals, welche Gefühle in ihnen durch diese entsetzliche Gewißheit erweckt wurden, aber von dem Augenblick an veränderte sich der Charakter der Zarin, die beunruhigt und ängstlich war, und ihre Gesundheit, sowohl körperlich als auch geistig, wandelte sich.4

Mag sein, dass Nikolaus und Alexandra die Geburt ihres Sohnes zuallererst mit ihrem Freund Philippe in Verbindung brachten, doch für fast alle anderen Zeitgenossen hing sie eher mit dessen Nachfolger zusammen. Man erzählte sich, Rasputin habe Alexeis Geburt prophezeit, und weil Alexandra an seine Gebete geglaubt habe, sei die Prophezeiung eingetreten. Das sei der Grund für den großen Einfluss gewesen, so behaupteten viele, den Rasputin auf die Zarin ausgeübt habe. Anderen reichte das nicht, sie beharrten darauf, dass Rasputin mit der Zarin nicht nur gebetet habe, sondern in Wirklichkeit der Vater des Jungen sei.5 Natürlich war das alles an den Haaren herbeigezogen. Schließlich lernten Nikolaus und Alexandra jenen Mann, der für ihr Schicksal und das des ganzen Landes später eine so große Rolle spielen sollte, erst ein Jahr später kennen.

Wie der britische Historiker Sir Bernard Pares vor vielen Jahren schrieb, war „die Kinderstube der Ursprung aller Probleme Russlands“, soll heißen: Es war die Krankheit des Zarewitsch Alexei, die Rasputin den Weg in den Palast ebnete, und es war seine mysteriöse Begabung, den Jungen zu trösten, welche die Grundlage seines Einflusses und seiner Macht darstellte.6 Diese Auffassung von der Funktionsweise der Beziehung zwischen Rasputin und dem Zarenpaar, vor allem Alexandra, ist seit Langem die vorherrschende Meinung in der historischen Forschung. Aber sie greift zu kurz. So wichtig Alexandras Sorge um die Gesundheit ihres Sohnes und ihre Überzeugung, Rasputin allein könne ihn schützen, auch waren, so erklärt dies keinesfalls Alexandras viel komplexeres und tiefergehendes Bedürfnis nach Rasputins Person.

Wie die Geschichte von Monsieur Philippe zeigt, suchte Alexandra, ebenso wie Nikolaus, noch vor der Geburt ihres Sohnes nach einem Mann Gottes, der ihr Rat, Erleuchtung und Trost bot. Teilweise hatte das mit ihrer Rolle als Mutter zu tun – sie wollte um jeden Preis jemanden finden, der wusste, wie sie einen männlichen Nachkommen zur Welt bringen konnte, ganz egal, woher dieser Jemand kam. Doch von Anfang an hatte Alexandra keinerlei Absicht gezeigt, Philippes Einfluss auf ihre reproduktiven Fähigkeiten oder auf ihr Seelenleben zu beschränken – das ist eine wichtige Tatsache, die man bislang übersehen hat. Wie ihre Briefe an Nikolaus zeigen, suchte Alexandra bei Philippe auch Rat und Kraft in politischen Dingen, und zwar nicht für sich selbst, sondern für Nikolaus. Schließlich kannte sie seine Schwächen und seinen Fatalismus nur allzu gut. Alexandra liebte Nikolaus; sie konnte nicht mit ansehen, wie seine persönlichen Defizite seine Macht, sein Prestige und seine Handlungsfähigkeit als Herrscher beeinträchtigten, und sie war wild entschlossen, ihm zu helfen, was auch immer dazu notwendig war. Selbst wenn dies bedeutete, eine andere Person zu finden, die jenen Willen besaß, der dem Zaren fehlte.

An der Episode mit Monsieur Philippe können wir bereits in rudimentärer Form all das ablesen, was sich ereignen sollte, als Rasputin auf den Plan trat: Alexandras Bedürfnis nach einem spirituellen Berater, einem Mann Gottes, dem sie blind vertrauen konnte und der ihr gegenüber höhere Wahrheiten und Prophezeiungen aussprach; ihren Hang zur Mystik und zu einer besonders intensiven Form der Religiosität; ihre Bereitschaft, sich in die Politik einzumischen und die Äußerungen religiöser Gestalten dazu zu verwenden, auf Nikolaus’ Regierungsstil einzuwirken; die vollkommene Unfähigkeit des Paares, zu erkennen, welche öffentlichen Auswirkungen ihr Privatleben hatte; das Misstrauen der Angehörigen des Hauses Romanow, das für Verstimmung sorgte und damit zu Gerede und Klatsch führte, der die Familienbande weiter schwächte und bald ganz zerstörte; der Klatsch, der sich schnell in der gebildeten Gesellschaft ausbreitete und dem Ansehen der Monarchie irreparablen Schaden zufügte und der schließlich – wie alle Versuche, Ermittlungen gegen Rasputin einzuleiten und dem Zaren die Augen zu öffnen – die Kluft zwischen dem Thron und dem übrigen Russland nur noch weiter vertiefte und am Ende dazu beitrug, dass es zur Revolution kam.

Und die Erde wird zittern

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