Читать книгу Und die Erde wird zittern - Douglas Smith - Страница 23
12. Anna Wyrubowa
ОглавлениеIm Frühjahr 1907 lernte Rasputin eine Frau kennen, die eine seiner treuesten Anhängerinnen werden sollte und einer jener Menschen, die bis zum Schluss für ihn eintraten. Anna Wyrubowa wurde 1884 als Tochter einer vornehmen Familie geboren. Ihre Mutter war die Großfürstin Nadeschda Tolstaja, ihr Vater, Alexander Tanejew, war ein bekannter Komponist und – wie schon seine Vorfahren seit der Regierungszeit Alexanders I. – Leiter der persönlichen Kanzlei Seiner Majestät.
Neben Rasputin ist Wyrubowa die vielleicht umstrittenste und am meisten polarisierende Figur am Hofe der letzten Vertreter der Romanow-Dynastie. Über niemanden sonst waren so viele widersprüchliche Meinungen zu hören. Nehmen wir nur die Einschätzung der Außerordentlichen Untersuchungskommission von 1917: Im Anschluss an ihre Verhaftung infolge des Sturzes der Dynastie war Wyrubowa in der Trubezkoi-Bastion der Peter-und-Paul-Festung inhaftiert. Einer der Beamten, die sie dort verhörten, war Wladimir Rudnew. Als er ihr zum ersten Mal gegenübersaß, fiel Rudnew sofort ihr Blick auf – er war „voll überirdischer Milde“. Nachdem er ihre Aussagen mit anderen Quellen und Zeugenaussagen abgeglichen hatte, kam Rudnew zu dem Schluss, dass alles, was sie gesagt hatte, der Wahrheit entsprach. Ihre Worte, sagte er später, „waren von Wahrheit und Aufrichtigkeit beseelt“. Sie beschwerte sich mit keiner Silbe über die Behandlung im Gefängnis, obwohl die Wachleute sie auf vielerlei Weise quälten und demütigten. Sie war nicht besonders intelligent, aber direkt, ehrlich und vollkommen arglos. Die Vorstellung, dass Wyrubowa einen wie auch immer gearteten Einfluss auf Nikolaus, Alexandra oder Rasputin hatte, war, so Rudnews Einschätzung, einfach lachhaft.1
Alexander Blok, Rudnews Kollege bei der Außerordentlichen Untersuchungskommission, sah das ganz anders. „An Wyrubowas Aussagen stimmte kein einziges Wort“, stellte er fest. Blok fand die bloße Existenz einer Frau wie Wyrubowa „grässlich“, für ihn war sie einfach nur „abscheulich“.2 Kommissar Boris Smitten war ähnlicher Meinung: „Sie war mehr als nur beschränkt in ihren Möglichkeiten; sie war halsstarrig und arrogant […], oberflächlich und wenig gebildet.“3 Sinaida Hippius hatte Wyrubowa nur oberflächlich kennengelernt, glaubte aber, sie gut genug zu kennen, um sie „dümmlich, starrköpfig und mit allen Wassern gewaschen“ zu nennen: „Eine typische russische Psychopathin bei einem ‚Greis‘ [Starez].“4 Großfürstin Olga, die Schwester des Zaren, beschrieb sie als „vollkommen verantwortungslos, kindisch und albern, und sie neigt zu hysterischen Ausbrüchen“.5
Genauso sehr gingen die Ansichten auseinander, was ihre Rolle am Hof betraf. Auch wenn Rudnew es für unmöglich hielt, dass Wyrubowa auf die Zarenfamilie irgendeinen Einfluss ausübte – er schloss sich der Meinung Alexander Protopopows an, des letzten kaiserlichen Innenministers, dass Wyrubowa lediglich als eine Art „Phonograph“ für Rasputins Ideen fungierte –, versuchten einige, sie als „finsteres Genie“ hinter dem Thron darzustellen.6 Der Dramatiker und Historiker Edward Radsinski nannte Wyrubowa die „unsichtbare Herrscherin“ am Zarenhof und behauptete, allerdings ohne es beweisen zu können, dass sie nicht nur eigenmächtig Minister einstellte und entließ, sondern die Zarin persönlich unter ihrer Kontrolle hatte, während sie die ganze Zeit so tat, als wäre sie gutmütig und naiv. Was die Beziehung zwischen Wyrubowa und der Zarin betraf, hatte Radsinski – wie er behauptete – ein schmutziges kleines Geheimnis entdeckt: Anna war unglücklich in Alexandra verliebt.7 Die Hypothese einer lesbischen Beziehung zwischen Wyrubowa und Alexandra war indes nichts Neues. In den ersten Jahren, als Rasputin bei Hof ein- und ausging, sprach man in den aristokratischen Salons der Hauptstadt immer wieder davon, und mit der Zeit trieb das Gerücht erstaunliche Blüten. So machte unter anderem eine Geschichte in St. Petersburg die Runde, wonach die beiden Frauen mit Rasputin Orgien feierten und dank dieser Ménage-à-trois eine so starke Bindung entwickelt hatten.8 Wyrubowa war tatsächlich in die Zarin verliebt, aber es gibt keinerlei Hinweise auf eine sexuelle Beziehung, und sie übte auch niemals irgendeinen Einfluss auf Alexandra aus. Von den beiden war die Zarin ganz zweifellos die stärkere Persönlichkeit. Wyrubowa wollte ihr lediglich gefallen und ihr mitnichten vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hatte.
1905, im selben Jahr als Alexandra Rasputin kennenlernte, kamen die beiden Frauen einander näher. In jenem Sommer segelte Wyrubowa mit der Zarenfamilie auf deren Jacht „Polarstern“ durch das Schärenmeer vor der finnischen Küste. Wyrubowa war von Alexandra sehr angetan. Beide waren sie schüchtern, liebten die Musik – stundenlang sangen sie Duette –, und beide einte eine tiefempfundene Frömmigkeit. Wyrubowas Glaube hatte mit einem persönlichen Erlebnis zu tun. Im Alter von 16 Jahren erkrankte sie so schwer an Typhus, dass die Ärzte sie schon aufgegeben hatten, als ihr eines Nachts Johannes von Kronstadt im Traum erschien und ihr sagte, dass sie überleben würde. Am nächsten Morgen bat sie ihre Eltern, den Priester zu rufen. Er kam, beträufelte sie mit Weihwasser, und nach einer weiteren Nacht ging es ihr wie durch ein Wunder auf einmal besser. Dieser Vorfall bewies Wyrubowa, dass dem Glauben immense Kraft innewohnte und es Menschen gab, die ganz außergewöhnliche spirituelle Gaben besaßen.9
Anna Wyrubowa war Ehrendame am Hof und dann eine Zeit lang eine von Alexandras Hofdamen, aber wie wichtig sie für die Zarin war, spiegelte sich in keinem offiziellen Posten oder Titel wider. Sie war Alexandras engste Freundin, die Frau, der die Zarin mehr vertraute als jeder anderen, auch wenn ihr Wyrubowas bedingungslose Hingabe manchmal zu anstrengend wurde. „Die Kuh“, nannte Alexandra sie hin und wieder – keine besonders nette Bezeichnung für jemandem, der nur dafür lebte, der Zarin und ihrer Familie zu gefallen.10 Allgemein kann man sagen, dass diejenigen, die Wyrubowas Charakter schätzten, sie außerdem attraktiv fanden. Hippius war der Ansicht, dass sich hinter ihrem weichen Äußeren ein eiserner Kern verbarg; im Inneren sei sie starrköpfig und arglistig. Ihre Augen nannte sie „groß, offen, hell […] und blind“.11 Fürst Felix Jussupow, der in Wyrubowas Jugend ihr Tanzpartner gewesen war, fand sie „äußerst listig“ und ihr Äußeres „stämmig mit einem aufgedunsenen, glänzenden Gesicht und ohne auch nur einen Funken Charme“.12 Maria Rasputina hingegen bewunderte Wyrubowas „üppiges braunes Haar“ und ihre „sanften, intelligenten Augen“; zwar sei sie keine konventionelle Schönheit gewesen, doch „sie hatte Charme, war freundlich, hatte eine klare Stimme und reizende Manieren, mit denen sie die Herzen aller gewann“.13
Anny Wyrubowa war 22 Jahre alt und trug noch den Namen Tanejewa, als sie Rasputin im Frühjahr 1907 zum ersten Mal begegnete. Großfürstin Miliza stellte die beiden einander vor. Sie teilte Anna mit, sie habe über Bischof Feofan „einen Apostel“ kennengelernt und bot ihr an, ein Treffen in ihrer Petersburger Villa am Englischen Ufer zu arrangieren. Dort unterhielten sich die Frauen beim Tee ein, zwei Stunden lang über religiöse Dinge. Dann erschien Rasputin.
Ich erinnere mich, wie nervös ich war, als man Rasputins Ankunft meldete. „Seien Sie nicht überrascht“, sagte sie, „manchmal geben wir einander zur Begrüßung drei Küsse.“ Grigori Jefimowitsch betrat den Salon – er war schlank, hatte ein blasses, erschöpft wirkendes Gesicht, trug einen kurzen schwarzen Kaftan; sein stechender Blick erinnerte mich an den Blick von Vater Johannes von Kronstadt. „Bitten Sie ihn, für etwas Bestimmtes zu beten“, sagte Miliza auf Französisch. Ich bat ihn, dafür zu beten, dass ich mein Leben voll und ganz in den Dienst Ihrer Majestäten stellen dürfe. „So soll es sein“, sagte er und ging.14
Anscheinend war Alexandra die treibende Kraft hinter diesem Treffen, und nicht Miliza. Um diese Zeit nämlich kamen der Zarin Bedenken, dass die Schwarzen Prinzessinnen und ihre Gatten darauf aus waren, über Rasputin auf die Geschehnisse am Hof Einfluss zu nehmen. Wenn sie die Beziehung zwischen Anna und Rasputin förderte, konnte Alexandra, wie sie hoffte, die Schwarzen Prinzessinnen auf Abstand halten. Und diesen neuen Kanal zu Rasputin würde sie selbst besser kontrollieren können.15
Das Treffen fand einen Monat vor Annas Hochzeit statt. Am 30. April 1907 heiratete sie Alexander Wyrubow, einen hoch dekorierten Marineoffizier, Veteran des Russisch-Japanischen Krieges und Cousin von General Wladimir Wojeikow. Die Ehe war kurz und unglücklich, und sie sorgte für einigen Klatsch. Wyrubowa schrieb später, Rasputin habe ihr genau das prophezeit, aber seine Briefe aus dieser Zeit zeigen, dass das Gegenteil der Fall war: „Ein wahres Ostern“, schrieb er anlässlich ihrer Hochzeit, und ihren neuen Mann nannte er „ein Kreuz aus purem Gold“.16 Als die Schwierigkeiten in ihrer Ehe zu groß wurden, um sie zu ignorieren, schrieb Rasputin Wyrubowa tröstende Worte, bat sie um Geduld und beharrte darauf, dass am Ende alles gut würde: „Du hast wahrlich schwierige Momente, genau wie unser liebes Väterchen und Mütterchen sie haben. […] Dennoch ist es ein süßes Paradies, und Gott sorgt für euch. Ich will bezeugen, dass alles gut enden wird. Ja, Gott hat euch in rechtmäßiger Ehe miteinander verbunden, und ihr werdet eine Zeder aus dem Libanon finden, die Frucht bringt, wenn es an der Zeit ist; und wie eine beispielhafte Zeder wirst Du Freude bringen, wenn die Zeit kommt.“17
Wie aus einem weiteren Brief von Rasputin hervorgeht, litt Wyrubow möglicherweise an Impotenz, wenngleich offenbar nur vorübergehend, denn später zeugte er mit einer anderen Frau zwei Töchter. „Gott hat Dich in der Ehe mit Deinem wundervollen und intelligenten Bräutigam zusammengeführt. […] Setze ihn nicht unter Druck, irgendwann wird er sich von selbst dem süßen Tisch nähern. Im Moment ist er beschäftigt, doch wenn er alles erledigt hat, dann wird er kommen und sich bei dem bedienen, was Du ihm bietest.“18
Aber Rasputin lag falsch. Ein Jahr darauf war die Ehe am Ende. Wyrubowa sagte später, ihr Mann habe unter „sexueller Impotenz und einer Neigung zum Sadismus“ gelitten. Einmal versuchte er, mit ihr zu schlafen, und als es nicht klappte, warf er Anna zu Boden und schlug auf sie ein.19 Die Gerüchteküche brodelte – die einen sagten, Wyrubowas sexuelle Leidenschaft für die Zarin habe ihre Ehe zerstört, andere glaubten, sie schliefe mit Rasputin.20 Iliodor behauptete, er habe beobachtet, wie Rasputin ihr im Beisein anderer an die Brüste griff und sie ohne jede Scham streichelte.21 Nichts davon erscheint auch nur ansatzweise plausibel. Rasputin tröstete Anna lediglich. Am 1. Juli 1908 schrieb er ihr, so wie der Herr den Aposteln den Heiligen Geist gesandt habe, so würde sie, die „Leidende“, deren Mann sie „verleumdet“ habe, Frieden finden, wenn sie ihre „Trauer vor dem Thron des Allmächtigen“ ausgieße.22 Der Schmerz, den die gescheiterte Ehe ihr bereitete, ließ sie nur noch mehr in ihre Leidenschaft für die Religion abgleiten und verstärkte ihre Bindung zu Alexandra und Rasputin. Anna machte Rasputin mit ihrer Schwester Alexandra, genannt Sana, bekannt. Zusammen mit ihrem Ehemann Alexander Pistohlkors schloss sich auch Sana der wachsenden Zahl der Rasputin-Jünger an. In den Archiven in Russland werden ihre eindringlichen Telegramme an Rasputin aufbewahrt:
24. Juli 1910. Von St. Petersburg an Rasputin in Pokrowskoje. Bin krank. Bitte um Eure Hilfe. Möchte weiterleben. Sana.
1. November 1910. Von St. Petersburg an Rasputin in Pokrowskoje. Habe Schmerzen. Bin bettlägerig. Habe schreckliche Angst. Bitte betet für mich. Sana.23
Um diese Zeit herum wurden auch Alexander Pistohlkors’ Tante Ljubow Golowina (geb. Karnowitsch) und deren Tochter Maria, genannt Munja, zu ergebenen Jüngerinnen Rasputins. Alexanders Mutter jedoch, Fürstin Olga Paley, und sein Stiefvater, Großfürst Paul Alexandrowitsch, konnten Rasputin nicht ausstehen, genau wie Paul Alexandrowitschs Sohn, Großfürst Dmitri Pawlowitsch, einer von Rasputins Mördern. Um die Sache noch komplizierter zu machen, war da noch Alexanders Schwester Marianna Derfelden, die Dmitri Pawlowitsch sehr nahestand und genauso wenig von Rasputin hielt wie ihr Stiefbruder.24 Einige behaupteten später sogar, dass sie bei seiner Ermordung anwesend war. So spaltete Rasputin nicht nur das Land, sondern auch einzelne Familien.
Im Laufe der Zeit sah Wyrubowa Rasputin immer mehr als Heiligen, ihr Glaube an ihn wurde genauso stark wie ihr Glaube an Gott. In den Memoiren der Sängerin Alexandra Belling kann man nachlesen, wie Wyrubowa ihr Essen und das ihrer Gäste immer zuerst von Rasputin segnen ließ, bevor sie auch nur einen Bissen an die Lippen führte. Jedes Mal, wenn jemand zu irgendetwas seine Meinung kundtat, sagte keiner ein Wort, bevor Rasputin verkündet hatte, was er selbst davon hielt. Und wenn jemand es wagte, ihr gegenüber eine der negativen Geschichten zu erwähnen, die man sich über Rasputin erzählte, oder ihr ein paar kritische Zeitungsartikel zu lesen gab, hatte Wyrubowa stets dieselbe Antwort parat: „Wie alle rechtschaffenen Menschen erst nach ihrem Tod Würdigung erfahren, so wird man auch erst nach dem Tod des Starez erkennen, welche heiligen Taten er vollbracht hat. Erst dann werden die Leute verstehen, wen sie verloren haben und wem sie die Treue versagten, als unser lieber Vater noch am Leben war. Zweifellos werden seine sterblichen Überreste als Reliquien manches Wunder vollbringen, von dem wir noch gar nichts wissen.“25
Was Rasputin betrifft, so gab er sich Wyrubowa gegenüber mitunter durchaus forsch, hin und wieder ließ er auch seinen Zorn an ihr aus. Doch seine Zuneigung für sie war echt und unerschütterlich. „Ich küsse Dich“, schrieb er ihr, „und liebe Dich mit all meiner Seele.“26