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15. Die Untersuchung, Teil I

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Die bemerkenswerten Entwicklungen in Rasputins Leben blieben auch den Behörden in Sibirien nicht verborgen. Man wollte wissen, was es mit den ungewöhnlichen Vorkommnissen bei den Rasputins in Pokrowskoje auf sich hatte.

Am 23. Juli 1906, zwei Tage bevor Rasputin sich zum zweiten Mal mit Nikolaus und Alexandra treffen sollte, sandte ein Polizeikommissar aus dem Bezirk Tjumen mit Namen Wischnewski einen Bericht an den Polizeichef des Bezirks. In dem Bericht ging es um den ortsansässigen Bauern Grigori Jefimowitsch Rasputin und diverse Gäste aus der Hauptstadt, die jener in letzter Zeit bei sich beherbergt habe, wie Vater Medwed, der in dem Bericht als Präzeptor der Kinder von Großfürst Nikolai Nikolajewitsch beschrieben wird, und eine gewisse Olga Lochtina. Beide hätten, wie der Kommissar gehört habe, kundgetan, der Bauer Rasputin „vollbringe Wunder“ in St. Petersburg. Außerdem erhalte Rasputin aus der Stadt immer wieder per Post Geld, wusste Wischnewski zu berichten, manchmal hundert Rubel oder mehr, sowie Geschenke, die ihm, wie Rasputin selbst behauptete, hochgestellte Persönlichkeiten schickten, nicht zuletzt Ihre Majestäten, der Zar und die Zarin. Wenn er Gäste habe, scheine es, als verbrachten sie die meiste Zeit im Hause Rasputins damit, die Evangelien zu lesen und Kirchenlieder zu singen.

Dieser Bericht ist das erste uns bekannte Dokument, in dem sich staatliche Behörden mit der Person Rasputins befassen und mit dem, was er so trieb. Wir wissen nicht, wer Wischnewski den Befehl gab, sich mit einem obskuren Pokrowskojer Bauern zu beschäftigen; wir wissen nicht einmal, ob der Befehl von Beamten in Tjumen oder Tobolsk kam oder aus der Hauptstadt (Ersteres ist wohl wahrscheinlicher). Wie dem auch sei: Der Polizeichef leitete Wischnewskis Bericht an Nikolai Gondatti, den Gouverneur der Provinz Tobolsk, weiter. Gondatti fand es entweder unter seiner Würde, sich mit einer solchen Angelegenheit zu befassen, oder er fühlte sich nicht zuständig – jedenfalls leitete er die Akte am 4. August 1906 seinerseits weiter, an Antoni (bürgerlich Alexander Karschawin), den Bischof von Tobolsk, „zur Kenntnisnahme“. Dass Gondatti sich nicht die Mühe machte, die Sache weiter zu verfolgen, ist wiederum ein Hinweis darauf, dass die Untersuchung auf lokaler Ebene initiiert worden war und nicht von den Petersburger Behörden. In letzterem Fall hätte Gondatti das Ganze sicherlich nicht einfach so ad acta gelegt. Bischof Antoni maß dem Bericht ebenfalls nicht viel Bedeutung bei, und so verlief der „Fall Rasputin“ zunächst einmal im Sande.

Erst ein Jahr später, am 1. September 1907, schrieb Antoni einen Brief an das Tobolsker Kirchenkonsistorium, in dem er ausführlich das verdächtige Verhalten Rasputins darlegte. Er habe seit einiger Zeit Informationen über diesen Mann gesammelt, so Antoni, und habe erfahren, dass Rasputin „in den Manufakturen der Provinz Perm“ die Lehren der Chlysten erlernt habe. Dort, in Perm, habe er „die Anführer dieser Ketzerei“ kennengelernt. Später, in St. Petersburg, habe Rasputin dann eine Schar weiblicher Anhänger für sich gewonnen, die mehrmals längere Zeit bei ihm in Pokrowskoje gelebt hätten. Antoni war im Besitz von Briefen dieser Frauen, in denen sie beschrieben, was Rasputin sie gelehrt habe, welche wundersamen Heilungen er vollbracht habe und dass er „aus lauter Liebe“ bestehe.

In den vergangenen fünf Jahren hatten in Rasputins Haus zeitweise bis zu acht junge Frauen zugleich gewohnt. Sie trugen schwarze Kleider und weiße Kopftücher und begleiteten Rasputin, den sie „Vater Grigori“ nannten, überallhin. Er streichelte die Frauen und küsste sie sogar. Zusammen hielten sie in der oberen Etage seines Hauses religiöse Versammlungen ab und sangen unbekannte religiöse Lieder, während Rasputin eine schwarze Soutane und ein großes goldenes Pektorale trug. Die Bauern im Dorf nannten seine Lehre „Chlystowismus“ und erzählten, dass eine vollkommen gesunde junge Frau krank geworden und unter mysteriösen Umständen gestorben sei. Sie berichteten Antoni von Fotografien aus Jekaterinburg, die Rasputin „in bodenlanger schwarzer Soutane zeigten, links und rechts von ihm eine Nonne. Die beiden Nonnen hielten über seinen Kopf ein papiernes Banner, auf dem stand: ‚Suchet das himmlische Jerusalem‘.“ Obendrein sei Vater Jakow Barbarin des Öfteren bei Rasputin zu Gast gewesen und habe an dessen nächtlichen Ritualen teilgenommen – eben jener Jakow Barbarin, den der Heilige Synod ins Kloster Walaam in Karelien verbannt hatte und der keine Gottesdienste mehr halten durfte, da man ihn verdächtigte, die Lehren der Chlysten zu verbreiten.

Auf Grundlage dieser Informationen wies Antoni das Konsistorium 1907 an, Vater Nikodim Gluchowzew mit einer vorläufigen Untersuchung gegen Rasputin zu beauftragen und, sollten sich die Anschuldigungen bewahrheiten, eine formelle Untersuchung einzuleiten, die diesen nächtlichen Versammlungen auf den Grund gehen würde. Seinem Schreiben fügte Antoni ein paar persönliche Beobachtungen hinzu: Rasputin sei mehrfach in Tobolsk gewesen und habe darauf bestanden, persönlich mit dem Bischof zu sprechen, um ihm von seinen Plänen zu erzählen, die Dorfkirche zu vergrößern und eine Art „Frauenkommune“ einzurichten; beides wolle er aus eigener Tasche bezahlen. „Mir fielen sein extrem abgemagertes Gesicht auf“, so Antoni, „mit tiefliegenden und seltsam brennenden (entzündeten) Augen. Wie viele Sektierer sprach er auf eine so betont liebliche Weise, mit lauter Diminutiven und Kosenamen, dass es geradezu heuchlerisch wirkte.“1 Außerdem wies er darauf hin, wie schlecht Rasputin Russisch lesen könne, ganz zu schweigen von seiner Unfähigkeit zu schreiben und seinen mangelhaften Kenntnissen des Altkirchenslawischen. Rasputin hätte auf Antoni kaum einen schlechteren Eindruck machen können.

Dennoch sah er sich zunächst nicht veranlasst, gegen Rasputin wegen angeblicher Beziehungen zu den Chlysten zu ermitteln. Beunruhigender als ihr Treffen fand Antoni indes drei Briefe, die er in jenem Sommer erhielt und die in zahlreichen seltsamen Details von Rasputins jüngsten Aktivitäten berichteten. Einer dieser drei Briefe erreichte ihn im August und kam von einer Tobolskerin mit Namen Maria Korowina. Ein örtlicher Priester namens Vater Alexander Jurjewski hatte Rasputin in jenem Monat zweimal zu ihr nach Hause mitgebracht. Was sie erzählte, klang recht seltsam. Von Anfang an fand sie, dass er „merkwürdig aussah, sowohl was seine Kleidung betraf als auch seinen Gesichtsausdruck, vor allem die Augen.“ Während ihres Gesprächs konnte er keinen Moment stillsitzen. Er machte ständig eigenartige Gesten mit den Händen oder berührte Vater Jurjewski. Am folgenden Tag tauchte Rasputin schon wieder bei ihr auf, diesmal allein. Er erzählte ihr, er werde Tobolsk bald wieder verlassen und wie enttäuscht er von der Stadt sei, da ihn so viele Leute einen Sektierer genannt hätten. „Was für ein Sektierer soll ich denn sein?“, fragte er Korowina. „Ich habe lediglich eine Menge Liebe in mir. Ich liebe jeden, ich liebe auch dich und alle anderen, also sag mir: Macht mich das zu einem Sektierer?“ Sie antwortete, sie kenne ihn zwar kaum, aber sie finde es seltsam, dass er die Leute immerzu berühre und streichle, auch Vater Jurjewski, und dass er auch sie zu berühren versucht habe. Rasputin antwortete: „Wenn ich meine Hände ausstrecke und deine berühre, dann tue ich auch dies nur, weil ich so viel Liebe habe […]. Ich kann nichts dagegen tun. Ohne jemandes Hände zu berühren, finde ich keine Inspiration.“

Dann zitierte Rasputin Simeon den Neuen Theologen (949–1022), einen byzantinischen Mönch und orthodoxen Heiligen: „Ein teilnahmsloser Mann kann sich inmitten einer Schar nackter Menschen befinden und sie mit seinem nackten Körper berühren, ohne dass er Schaden nimmt.“ Maria antwortete: „Ja, ich weiß, aber damit meint er jemanden, der aus Versehen in eine solche Situation gerät. Er sagt nicht, dass man eigens danach suchen soll, denn was für ein Mensch begibt sich denn freiwillig in eine solche Versuchung?“ (Simeon hatte auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich einem geistigen Vater zu unterwerfen, wenn man Gott finden wolle – etwas, was Rasputin nie getan hatte, wofür er später oft kritisiert wurde und worin einige Geistliche den Grund für seine spirituellen Defizite sahen.) Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten küssten sie sich zum Abschied. „Meiner Meinung nach“, schloss Korowina ihren Brief, „ist G. J. keine vollkommen normale Person.“

Vater Jurjewski ließ Antoni noch im selben Monat seine Darstellung des Treffens mit Rasputin und ihres gemeinsamen Besuchs bei Maria Korowina zukommen. Rasputin hatte ihn in seiner Tobolsker Kirche aufgesucht und hatte von Anfang an versucht, Jurjewski damit zu beeindrucken, wie viele einflussreiche Geistliche er persönlich kannte, zum Beispiel Bischof Chrisanf und Archimandrit Andrei (Uchtomski) von Kasan. Er erwähnte auch, wie er zusammen mit Bischof Antoni (Chrapowizki) Großfürstin Miliza besucht habe. Jurjewski hielt Rasputins Worte für Prahlerei, doch er hatte zugleich das Gefühl, dass mehr dahintersteckte: Rasputin, so sein Eindruck, wisse ganz genau, dass bestimmte Personen Informationen über seine angeblichen sektiererischen Tätigkeiten sammelten. Durch die Nennung solch prominenter Kirchenvertreter wollte Rasputin Jurjewski offensichtlich davon überzeugen, dass er an höchster Stelle als gläubiger orthodoxer Christ galt.

Rasputin teilte Jurjewski mit, er sei nach Tobolsk gekommen, um mit einem Architekten über seine Pläne zu sprechen, in Pokrowskoje eine neue Kirche zu bauen; er brauche nur noch etwa 20.000 Rubel, um den Bau zu finanzieren. Als Jurjewski wissen wollte, wie Rasputin so viel Geld auftreiben wolle, gab jener vage zurück:

„Sie wird es mir geben!“

„Wer?“

„Die Zarin.“

Jurjewski war schockiert und verwirrt, er wusste nicht, wie er Rasputins Worte einordnen sollte.

Bei Korowina prahlte Rasputin damit, dass er im Palast gewesen sei: „Sogar der Zar kennt mich. Er ist ein äußerst netter Mann und muss doch so sehr leiden! Er gab mir einen neuen Nachnamen. Ich hatte gar nicht darum gebeten. Ich weiß nicht, warum er das tat. Er sagte zu mir: Du sollst ‚Neu‘ heißen.‘ Hier, schaut nur!“ Mit diesen Worten zog Rasputin seinen Ausweis aus der Tasche, und sie stellten fest, dass er recht hatte. Sie konnten nicht wissen, dass Rasputin sie in einem anderen Punkt anlog – er selbst hatte den Zaren ja um diesen neuen Namen gebeten.

Jurjewski fragte Rasputin, warum er sich mit so mächtigen Leuten umgebe; schließlich würden solche Bekanntschaften, wie er es ausdrückte, „die Menschen nur stolz und selbstherrlich machen“. Er wollte wissen, warum Rasputin nicht lieber daheim bliebe und sich um das Seelenheil der Menschen um ihn herum kümmere.

„Sie laden mich doch ein“, erwiderte Rasputin, „und sie sind schließlich auch Menschen, und ihre Seelen brauchen Nahrung, und ich liebe alle. Es steckt so viel Liebe in mir. Und sie lieben mich auch.“

Maria Korowina fragte ihn, ob die Seelen der Bewohner von Pokrowskoje etwa alle „satt“ seien: „Warum kümmern Sie sich dann nicht um die Seelen Ihrer Nachbarn?“, wollte sie von Rasputin wissen. „Warum reisen Sie in die Hauptstadt und in andere große Städte? Schließlich sind im ganzen Land Menschen auf der Suche, und es gibt überall falsche Propheten.“

Rasputin versuchte, die Frage zu umgehen, sie war ihm sichtlich unangenehm. Er murmelte, in seinem Dorf sei niemand auf der Suche.

Kurz darauf reiste Rasputin wieder ab, doch vorher bat er Jurjewski noch um dessen Segen.

„Was für ein Mensch ist Rasputin?“, fragte sich Jurjewski. „Ein Sektierer? Oder sieht er sich als etwas ganz anderes?“ Das Treffen hatte ihm nicht gereicht, um ein abschließendes Urteil zu fällen.

Wie dem auch sei: Rasputin machte auf mich einen merkwürdigen Eindruck. Sein Kostüm war recht originell, seine Worte zusammenhanglos. Er ist nicht immer in der Lage, seine Gedanken mit den richtigen Worten auszudrücken, daher unterstreicht er seine Rede ununterbrochen mit ganz seltsamen Bewegungen der Finger beider Hände. Alle seine Bewegungen, auch wenn er sich verbeugt, sind schnell, kantig, ungelenk; seine eingesunkenen Augen starren einen unverwandt an, manchmal liegt ein unverschämter Ausdruck darin. Das allein ist Grund genug, ihn für einen nicht ganz normalen Menschen zu halten. Seine Anziehungskraft auf verschiedene „Persönlichkeiten“, seine ständige Prahlerei, dass er mit diesen Persönlichkeiten bekannt sei, sein Wunsch, sich von seinen Dorfgenossen abzuheben, und sei es auch nur durch einen neuen Namen – all das muss einen zur Überzeugung bringen, dass Rasputin, wenn er kein Sektierer ist, dann doch zumindest der „dämonischen Prelest“ anheimgefallen ist.2

Im Kirchenslawischen bedeutet prelest so viel wie „spiritueller Irrtum“ oder auch „Selbstverblendung“. So bezeichnete die offizielle orthodoxe Kirche Personen mit einer übertriebenen Auffassung der eigenen spirituellen Gaben. Mitunter sah man diesen Zustand als eine Art Psychose – wer darunter litt, galt als gestört und aus dem Gleichgewicht.3 Zeit seines Lebens konnte Rasputin diesem Vorwurf nicht mehr entkommen.

Ende Juli hatte Antoni einen Brief von Jelisaweta Kasakowa erhalten. Jurjewski, der Kasakowa kannte, fragte Rasputin, ob er ebenfalls mit dieser Frau bekannt sei. Allein ihren Namen zu hören, ärgerte Rasputin sichtlich, und er fragte Jurjewski, warum er das wissen wolle. Als Jurjewski antwortete: „Sie nennt dich einen Spinner“, wurde Rasputin zornig. „Seine Augen glommen boshaft, und er verlor vollkommen die Haltung. Mit besorgter Stimme, ein zorniges Grinsen auf den Lippen, fragte er: ‚Sie hält mich für einen Spinner? Und warum?‘“4

Kasakowa hatte Rasputin im Herbst 1903 auf der Beerdigung ihrer Schwester kennengelernt. Als er sie ansprach, wusste sie zunächst nicht so recht, was sie von ihm halten sollte oder was er von ihr wollte. Er sagte ihr, er suche junge Mädchen und Frauen, die mit ihm in die Badehäuser gingen, wo sie dann, wie er es ausdrückte, „vollkommene Buße“ erführen und lernten, wie sie „ihre Leidenschaften im Zaum halten“. Daran sei überhaupt nichts Unmoralisches oder Verwerfliches, versicherte er Kasakowa; schließlich seien sie für ihn alle Teil seiner Familie.

Als Rasputin wieder fort war, holte Kasakowa Erkundigungen über den merkwürdigen Fremden ein. Sie erfuhr, dass er über die Dörfer zog und den Mädchen predigte, dass es viele falsche Pilger im Land gebe, die so täten, als seien sie Mönche, nur um sie zu verführen. Rasputin machte den jungen Frauen weis, ihre einzige Möglichkeit, sich gegen solche Betrüger – und ganz allgemein gegen die Versuchung – zu wappnen, sei, sich seinen Küssen hinzugeben, und zwar so lange, bis sie die Küsse nicht mehr abstoßend fänden. Dann, und nur dann, hätten sie ihre Leidenschaft gemeistert. Als Kasakowa Rasputin das nächste Mal sah, konfrontierte sie ihn damit, was sie gehört hatte. Zunächst leugnete er die Geschichte und sagte, all das seien „Lehren des Teufels“, aber dann überlegte er es sich offenbar anders und gab zu, dass es stimmte. Es sei aber überhaupt kein Anlass sich zu schämen, schließlich befreie er diese Frauen ja von allen Sünden und nehme diese auf sich.

Kasakowa glaubte ihm. Sie war von seinen Worten so beeindruckt, dass sie im Mai 1904 mit ihren Töchtern Maria und Jekaterina nach Pokrowskoje reiste, um zu erfahren, wie Rasputin lebte. Dort fand sie ihn umgeben von Damen der feinen Gesellschaft, die ihm jeden Wunsch von den Lippen ablasen und ihn wie einen Heiligen verehrten. Sie schnitten ihm sogar die Fingernägel und nähten sie in ihre eigenen Kleider ein, als wären es heilige Reliquien. Wenn sie gemeinsam durchs Dorf schlenderten, umarmte und küsste Rasputin die Damen ganz ungezwungen. Erneut betonte er, dies sei keine Schande, denn „wir sind alle eine Familie.“5

Kasakowa besuchte Rasputin mindestens noch ein Mal in Pokrowskoje, sie kam im Juni 1907 zusammen mit ihrer Tochter Maria. Nach einer Woche jedoch änderte sie ihre Meinung. Auf einmal sah sie ihn in einem neuen, wenig schmeichelhaften Licht. Noch im selben Monat schrieb sie einem örtlichen Pokrowskojer Priester, Vater Fjodor Tschemagin, drei Briefe, in denen sie behauptete, Rasputin sei nicht derjenige, der er zu sein vorgebe. Als einen Monat später noch immer keine Reaktion erfolgt war, schrieb sie an Bischof Antoni. Sie teilte ihm mit, was sie anfangs für Rasputin empfunden habe, sei „mitfühlende Liebe für eine verlorene Seele“ gewesen. Aber Rasputin sei, wie sie bemerkt habe, alles andere als heilig. Er habe sie gründlich hinters Licht geführt. Ihre Briefe waren als Warnung gemeint, vor allem für Chionija Berladskaja, die, wie sie fürchtete, die Wahrheit über Rasputin noch nicht sehen wollte. Kasakowa wollte mit ihrer Erfahrung, die ihr solche „Schmerzen“ bereitet hatte, unbedingt dazu beitragen, allen Frauen, für die Rasputin noch immer ein Heiliger war, die Augen zu öffnen. Ihrer Meinung nach war Rasputin von „armen, leidenden Schwestern der Oberschicht vereinnahmt worden, die in den Ausschweifung der Hauptstadt zu ertrinken drohten und sich nun wie Fliegen in den Honigtopf geworfen hatten“. Offenbar verneige sich die Elite auf einmal vor den Bauern, und diese feinen Damen hätten Rasputin zu ihrem Goldenen Kalb erkoren. Wie Rasputin ihr gegenüber eingestanden hatte, war er „heilig, aber nicht geprüft“. Kasakowa sah in ihm eine echte Gefahr.6

Doch nicht jeder bewertete diese Vorgänge komplett negativ. Ein politischer Gefangener in Tobolsk mit Namen Saizew kannte Kasakowa, und in etwa zur selben Zeit erzählte er einem Reporter, er und Rasputin gehörten derselben Sekte an, deren Ziel schlicht eine Verbesserung der Moral sei. Die Beziehungen zwischen den Brüdern und Schwestern der Sekte seien „ganz und gar geschwisterlich“.7

Wie es scheint, stand Saizew mit seiner Meinung allerdings recht alleine da. Das Gerede und die Gerüchte um Rasputin wurden in jenem Sommer in und um Pokrowskoje immer schlimmer. Am 16. Juni erhielt Rasputins Ehefrau einen anonymen Brief aus Tjumen, in dem jemand Mitgefühl für ihre Situation zum Ausdruck brachte und ihr mitteilte, sie müsse sich keine Sorgen machen, denn „das ganze Dorf“ werde „sie“ (vermutlich Rasputins Familie) trösten. Mindestens eine von Rasputins Anhängerinnen eilte ihm zu Hilfe: Olga Lochtina schrieb am 1. Juni einen Brief an Bischof Antoni. Sie berichtete, sie habe von den kursierenden Gerüchten gehört, müsse Rasputin aber verteidigen, der ein wahrer Mann Gottes und ein Wunderheiler sei. Sie schrieb, sie kenne Rasputin seit zwei Jahren und hätte ihn viermal zu Hause besucht, „um das Leben dort zu leben, um seine Lehren zu hören“. Sie hätte nichts gesehen, was ihre Meinung über ihn geändert hätte: „Gr. Jef. lehrt uns, zu lieben, schlicht zu leben, ein reines Gewissen zu haben und vollständig in der Liebe aufzugehen. Denn dann lebt eine Person nicht mehr für sich selbst und ist in der Lage, für ihre Freunde die eigene Seele aufzugeben“.8

Diese Details sind von entscheidender Bedeutung, wenn wir die Ursprünge der Untersuchung rekonstruieren wollen, die Rasputin Verbindungen zu den Chlysten nachweisen sollte. Die Untersuchung lief von September 1907 bis Mai 1908, dann ruhte sie viereinhalb Jahre, bevor sie 1912 wiederaufgenommen wurde. Das Resultat waren 108 Seiten im Folio-Format, die mit dem Wort „geheim“ markiert sind. Gesammelt sind sie in der „Akte des Tobolsker Konsistoriums zu den Beschuldigungen gegen Grigori Jefimowitsch ‚Rasputin-Nowy‘, einen Bauern aus dem Dorf Pokrowskoje im Bezirk Tjumen, wegen der Verbreitung falscher Lehren nach Art der Chlysten und der Bildung einer Gemeinschaft von Anhängern seiner falschen Lehren“. Diese Akte hat eine abenteuerliche Reise hinter sich: Nach der Revolution fand sie sich zunächst außerhalb Russlands wieder, 1994 wurde sie im Londoner Auktionshaus Sotheby’s versteigert. Am Ende kehrte sie nach Russland zurück, und Anfang 2002 wurde sie dem Staatsarchiv der Russischen Föderation in Moskau übergeben, wo sie seither als Sammlung 1467, Inventar 1, Akte 479a aufbewahrt wird. Kaum ein Biograf Rasputins hatte bislang Gelegenheit, dieses ungemein wichtige Dokument einzusehen.9

Die Akte beweist unter anderem, dass die Gründe für die Untersuchung zweifellos vor Ort in Sibirien zu suchen sind und nicht, wie man immer wieder behauptet hat, in St. Petersburg. Ein weit verbreiteter Irrtum ist, dass Großfürstin Miliza die Untersuchung veranlasst habe, aus Rache dafür, dass er sich so schnell von ihr abgenabelt hatte. Der Legende nach empfand sie das als solch eine Frechheit, dass sie sein Leben zerstören wollte.10 Die Akte indes zeigt definitiv, dass mit dieser ersten Untersuchung weder Miliza noch sonst jemand in der Hauptstadt irgendetwas zu tun hatte. Tatsächlich scheint Rasputins Beziehung zu den Schwarzen Prinzessinnen auch noch lange nach 1907 überaus herzlich gewesen zu sein. Laut Informationen, die 1909 in Pokrowskoje über Rasputin gesammelt wurden, hatte Miliza ihn dort im Jahr 1907 sogar noch besucht – „inkognito“, wie es hieß –, und sie gehörte zu jenen, die ihm immer noch „große Summen Geld“ sendeten.11 Es scheint unwiderlegbar, dass der Anlass für die Untersuchung in den Verdächtigungen und Neidgefühlen der Menschen in Rasputins Heimat in Westsibirien zu suchen ist.12

Darauf wies sogar Rasputin selbst hin, in seinem Leben eines erfahrenen Pilgers, das er im selben Jahr verfasste. Als er mit dem Geld von Nikolaus im Gepäck nach Hause zurückgekehrt sei, um eine Kirche zu bauen, so schrieb er, hätten neidische Priester begonnen, Lügen über ihn zu verbreiten, und behauptet, dass er ein Ketzer sei, ein Mitglied der „niedersten und schmutzigsten Sekten“. Rasputin beharrte darauf, dass zur priesterlichen Allianz gegen ihn auch Bischof Antoni von Tobolsk gehörte.13

Bei einer Dorfversammlung am 9. Mai 1907 bot Rasputin an, 5000 Rubel, die der Zar ihm gegeben habe, in den Kirchenneubau zu investieren. Er bat die anderen Dorfbewohner lediglich darum, sich finanziell ebenfalls ein wenig zu beteiligen. Sein Angebot wurde abgelehnt. Die Kirchenältesten sagten, mit ihrer Kirche, wie sie dastünde, sei doch alles in Ordnung, da müsse man nicht sinnlos Geld sammeln gehen. Die Dorfbewohner wollten von Rasputins Angebot ebenfalls nichts wissen; ihrer Meinung nach brauchte Pokrowskoje viel dringender ein neues Schulhaus. Am Ende gab es gar kein neues Gebäude, und Rasputin kaufte von dem Geld zwei große Kreuze (eines aus Gold, eines aus Silber) und silberne Lampen für die Ikonostase der alten Kirche. Die Geschichte über den Konflikt im Dorf anlässlich Rasputins Vorschlag erschien im Mai in einer Lokalzeitung. Es war das erste Mal, dass sein Name in der Presse auftauchte.14 Rasputin gab die Hoffnung anscheinend nicht auf. In einem Brief an Nikolaus und Alexandra vom Dezember 1908 sprach er immer noch davon, dass er mit dem von ihnen zur Verfügung gestellten Geld, eine Kirche bauen werde. Es sei noch nicht geschehen, teilte Rasputin ihnen mit, aber „bald“ werde es so weit sein, und das werde dann für alle ein großer Trost sein.15 Am Ende blieb Rasputins Kirche allerdings ein Traum.

Den Dorfbewohnern, oder zumindest einem Großteil der Dorfbewohner, war Rasputin inzwischen suspekt. Was sollte man auch von einem Bauern halten, der keine Feldarbeit verrichtete und kein Handwerk ausübte, wie sie es taten, und sich dennoch ein so luxuriöses Haus leisten konnte? Woher hatte er das Geld? Wer hatte es ihm gegeben und vor allem: warum? Und was war bloß aus dem bescheidenen Pilger Rasputin geworden, der damals zu Fuß und mit knurrendem Magen durch die Lande gewandert war? Wieso reiste er auf einmal nur noch per Dampfer und Eisenbahn und prahlte mit seinen einflussreichen Freunden in St. Petersburg? Das war zu viel. Das war einfach nicht richtig. Und so wandten sich einige gegen Rasputin.

Antonis Schreiben vom 1. September blieb nicht ohne Reaktion: Bereits fünf Tage später traf Vater Nikodim Gluchowzew in Pokrowskoje ein, um sich bei den Einheimischen über Rasputin zu erkundigen.

Zuerst sprach er mit Vater Pjotr Ostroumow. Der Priester lobte Rasputin sowie dessen Familie und Lebensweise in höchsten Tönen. Er kenne ihn, seit er im Jahr 1897 in das Dorf kam, und habe stets den Eindruck gehabt, dass Rasputin das Leben eines aufrechten Christenmenschen führte: Er hielt alle Riten, Rituale und Feiertage ein. Gleiches galt für seine ganze Familie – seine Frau, die drei kleinen Kinder, seinen Vater und die Frauen, die bei ihnen lebten. Ostroumow meinte, man könne sie geradezu „vorbildlich“ nennen, denn sie hielten sich an die Fastenzeit und gingen regelmäßig in die Kirche. Gluchowzew erfuhr außerdem, dass Rasputin als Landwirt arbeitete und über einen durchschnittlichen Besitz verfügte. Früher habe er die ganze Arbeit allein verrichtet, doch seit er in den vergangenen zwei Jahren immer öfter unterwegs war, nahm ihm die Familie immer mehr Arbeit ab. Was seine Reisen in die Hauptstadt betraf, sagte Ostroumow, so habe ihm Rasputin Fotos gezeigt, auf denen er mit Feofan und Sergei vom Petersburger Theologischen Seminar und mit anderen hochrangigen Kirchenbeamten zu sehen war.

Trotzdem gebe es unter den Dorfbewohnern Gerede, Rasputin sei „ein unehrenhafter Mann“ und habe „seinen orthodoxen Glauben verändert“. Ostroumow erwähnte, dass den Leuten seine Reisen verdächtig vorkämen, genau wie sein plötzlicher Reichtum – von den Frauen, die in seinem Haus lebten, und der Art und Weise, wie er mit ihnen umging, ganz zu schweigen. Einige erwähnten auch das tragische Schicksal eines Bauernmädchens aus dem Dorf Dubrowskaja. Es hieß, Rasputin habe sie auf eine seiner Pilgerfahrten mitgenommen und gezwungen, viele Kilometer barfuß durch den Schnee zu laufen; dadurch sei sie so erschöpft gewesen, dass sie krank wurde und starb.16 Bei alldem muss man bedenken, dass Ostroumow schon sehr früh ein Gegner Rasputins war, seit jener sich nämlich seinen Ruf als heiliger Pilger erworben hatte.

Auch der Küster Pjotr Bykow wusste Gluchowzew Positives zu berichten. Er wohnte seit sechs Jahren in Pokrowskoje und stellte fest, dass Rasputin ein regelmäßiger, frommer Kirchgänger mit einer sehr schönen Singstimme sei. Nach jedem Gottesdienst küsse er die Ikonen. Er habe lediglich eine etwas merkwürdige Art zu beten: „Er rudert dabei wie wild mit den Armem und schneidet Grimassen.“

Als Nächstes sprach Gluchowzew mit der 28-jährigen Jewdokia Karnejewa, die in der Pokrowskojer Kirche aushalf. Sie hatte ebenfalls eine Geschichte auf Lager: Sechs Jahre zuvor hatte sie auf Pilgerfahrt im Ort Station gemacht und eine Nacht im Haus der Rasputins verbracht. Rasputin versuchte damals, sie zu küssen. Doch sie wehrte ihn ab mit der Bemerkung, dass es falsch sei. Er bestritt das, vielmehr sei das „spirituelle Küssen“ bei ihnen gängige Praxis. Als er Jewdokia später die Kapelle unter dem Stall zeigte, packte er sie und küsste sie auf die Wange. Ein andermal erzählte ihr, wie ihm, als er mit seiner Frau schlief, „im Licht“ die Heilige Dreifaltigkeit erschienen sei.17

Die Informationen, die Gluchowzew an jenem Tag sammelte, waren widersprüchlich und alles andere als schlüssig. Daher kam er zwei Monate später noch einmal nach Pokrowskoje und sprach mit jemandem, der Rasputin besser kannte. Vater Fjodor Tschemagin hatte Rasputin 1905 kennengelernt und mehrere Versammlungen in seinem Haus besucht, bei denen gebetet, gesungen und erbauliche Texte gelesen wurden. Bei ihrem ersten Treffen erzählte Rasputin ihm von seinen Reisen und den wichtigen Kirchenmännern, die er dabei kennengelernt hatte, wie Feofan (oder „Feofanuschka“, wie Rasputin ihn nannte). Zum Beweis zeigte er ihm ein Foto von sich mit Gawriil, dem Vorsteher des Sieben-Seen-Klosters. Er teilte Tschemagin mit, 1905 sei er nach St. Petersburg gegangen, um den Zarenhof kennenzulernen, und sei von dort mit Olga Lochtina und der Ehefrau von Vater Medwed zurückgekehrt. Um jene Zeit herum kam Tschemagin eines Abends zufällig bei Rasputin vorbei, als der Hausherr gerade – noch ganz nass – vom Baden zurückkam. Minuten später betraten die Frauen, die bei den Rasputins lebten, das Haus; auch sie trockneten sich gerade erst ab. Rasputin gestand Tschemagin, er „habe eine Schwäche dafür, junge ‚Damen‘ zu streicheln und zu küssen, und er gab zu, mit ihnen zusammen gebadet zu haben“. Tschemagin wusste auch ein paar Namen von Frauen zu nennen, die Rasputin besuchten, nämlich Chionija Berladskaja und Sinaida Manschtedt. Immer wieder streichelte Rasputin sie, hielt ihre Hände, rief sie mit ihren Kosenamen „Chonja“ und „Sinotschka“. Trotz allem musste Vater Tschemagin zugeben, dass Rasputin und alle, die bei ihm wohnten, wirklich vorbildliche Christen waren – sie verpassten keinen Gottesdienst, beteten andächtig und spendeten immer wieder für die Kirche.18 Den letzten Teil der Aussage bestätigte später ein Pokrowskojer Bauer, auf den Sergei Markow traf, als er Anfang 1918 auf der Durchreise in das Dorf kam. „Ein Mann Gottes“ sei der inzwischen verstorbene Rasputin gewesen, so der Mann, „ein Mensch mit einem guten Herzen“. Stets sei er bereit gewesen, den anderen Dorfbewohnern zu helfen, und fast jedem von ihnen habe Rasputin irgendwann einmal Geld geschenkt.19

Am 1. Januar 1908 schrieb Gluchowzew einen vorläufigen Abschlussbericht, in dem er starke Zweifel an Rasputin äußerte, vor allem im Hinblick auf dessen Verhalten gegenüber Frauen. Es gebe Grund zur Annahme, dass er seinen Ruf als frommer Mann Gottes und Wundertäter dazu missbrauche, Frauen auszunutzen. Die Versammlungen in seinem Haus erinnerten an solche bei Sektierern, und auch seine seltsame äußere Erscheinung weise darauf hin, dass er den Chlysten nahestehe. Und zu guter Letzt deuteten der große Reichtum, den er binnen kürzester Zeit angehäuft hatte, sowie die schnell wachsende Zahl seiner Anhänger, die teilweise von so weit her wie St. Petersburg kamen, darauf hin, dass hier ein selbsternannter Heiliger mit beachtlichem Erfolg die Menschen manipuliere. Vor diesem Hintergrund beschloss Gluchowzew, noch mehr in die Tiefe zu gehen: Er wollte Rasputins Haus inspizieren und persönlich mit ihm und den Angehörigen seines Haushalts sprechen, auch mit den Besuchern von außerhalb. Alle mussten in Pokrowskoje bleiben, bis diese Phase der Untersuchung abgeschlossen war.20

Am folgenden Tag tauchte Gluchowzew zusammen mit Pjotr Ostroumow sowie dem Dorfpolizisten, dem Dorfältesten und drei Bauern, die als Zeugen fungierten, bei Rasputin auf. Gluchowzew legte Rasputin den Bericht vor und bat ihn, diesen durchzulesen. Er tat es und unterzeichnete mit „GRIGORI“. Er informierte ihn darüber, dass sie sein Haus inspizieren und alle befragen würden, die dort wohnten. Als er das hörte, war Rasputin ehrlich schockiert. „Grigori erschrak fürchterlich, sein Gesicht verzerrte sich“, erinnerte sich Berladskaja. „Er hatte Angst, sie würden ihn ins Gefängnis schicken.“21 Als Erstes untersuchten die Männer die Wände, die bedeckt waren mit Ikonen, religiösen Bildern und Fotos, die Rasputin mit bekannten kirchlichen und weltlichen Persönlichkeiten zeigten. Danach durchsuchten sie alle Regale und Schränke. Sie fanden nichts, was auch nur im Geringsten verdächtig schien.

Während der folgenden zwei Tage befragten sie alle Hausbewohner. Sie begannen mit Rasputin. Er sagte, er sei 42 Jahre alt (in Wirklichkeit wurde er in der folgenden Woche erst 39), verheiratet und ein praktizierender orthodoxer Christ. Er habe 15 Jahre zuvor zu pilgern begonnen, zunächst durch Sibirien, in den letzten Jahren dann zu Klöstern in St. Petersburg und Kiew. Er nehme auch andere Pilger auf, die durch Pokrowskoje kämen. Zwei junge Frauen aus der bäuerlichen Gemeinde Kumarskaja lebten bei ihnen, Jekaterina und Jewdokia Petscherkina; sie halfen im Haushalt und erhielten dafür Nahrung und Kleidung. Jewdokia war die Schwester von Rasputins Freund Dmitri Petscherkin, Jekaterina deren Nichte. Rasputin sagte, er verzichte auf männliche Helfer, schließlich sei er oft fort, und dann wolle er keine anderen Männer im Haus wissen. Aber er erhalte oft Besuch von Ilja Arapow, Nikolai Rasputin und Nikolai Raspopow, seinen „Brüdern in Christo“; sie sängen gemeinsam religiöse Lieder, läsen in der Bibel und interpretierten sie, so gut sie könnten. Mittlerweile sei er die meiste Zeit unterwegs, erzählte Rasputin, um in verschiedenen Klöstern Bekannte zu besuchen, mit denen er alle möglichen geistlichen Themen bespreche. Fast immer reise er dorthin, weil man ihn zu kommen bat, solche Einladungen erhalte er ständig. Er gab zu, oft Besuch von Frauen – wie den Damen, die derzeit bei ihm wohnten – zu haben, die ihn und seine Familie aufsuchten, um „von mir etwas über die Liebe Gottes zu lernen“. Frauen, die er besonders gut kenne, küsse er zur Begrüßung und zum Abschied auf die Wange, „aus wahrer Liebe“; wen er nicht so gut kenne, küsse er nicht, niemals. Er sagte, er erinnere sich nicht daran, dass er behauptete, den Heiligen Geist gesehen zu haben, aber er gestand: „Ich bin ein Sünder, ich mache Fehler, aber wenn sich mir ein rechtschaffener Mensch entgegenstellt, kann ich mich ändern.“ Zum Schluss teilte Rasputin Gluchowzew mit, er esse seit 15 Jahren kein Fleisch mehr, und vor 10 Jahren habe er mit dem Rauchen und Trinken aufgehört, denn, wie er zugab: „Ich war ein widerlicher Mensch, wenn ich betrunken war.“22

Rasputins Vater wusste nicht, warum sein Sohn meistens fort war, außer dass es etwas damit zu tun hatte, dass er „zu Gott betet“, und seine Ehefrau Praskowja fügte hinzu, ihr Mann reise nur, wenn „hochstehende Persönlichkeiten“ ihn riefen, nicht weil er selbst wolle. Auch sie sei mehrmals durch Russland gereist – im Jahr 1906, um sich ärztlich behandeln zu lassen, und im November des folgenden Jahres, um ihren Mann in St. Petersburg zu besuchen. Dort seien sie bei Olga Lochtina zu Gast gewesen. Was die Petscherkin-Mädchen betreffe, so behandelten sie sie, als seien sie ihre eigenen Töchter, mit viel Liebe und Zuneigung. Die einzigen Versammlungen, die sie abhielten, seien Zusammenkünfte mit drei männlichen „Verwandten“, die vorbeikämen, um mit ihnen zu singen, in der Bibel zu lesen und „geistig erhebende Gespräche“ zu führen.

Die Frauen, die bei Rasputin zu Besuch waren, wurden ebenfalls befragt: Olga Lochtina, Chionija Berladskaja, Jekaterina und Jelena Sokolowa sowie Akilina Laptinskaja. Lochtina bekräftigte noch einmal, was sie in ihrem Brief vom 1. Juni 1907 geschrieben hatte. Die Sokolowa-Schwestern, beide in ihren Zwanzigern, gaben an, sie hätten Rasputin im Jahr zuvor kennengelernt, auf Empfehlung von Feofan. Sie waren sofort angetan von „seinen Antworten, seiner Einfachheit und seiner vollkommenen Liebe für alle Menschen“. Inzwischen hatten sie gelernt, so zu leben wie Rasputin. Berladskaja kommentierte, ja, Rasputin küsse sie und die anderen, fügte aber hinzu: „Ich finde das überhaupt nicht merkwürdig, denn mit ihm ist das etwas ganz Natürliches, und er hat diese Sitte von unseren heiligen Vätern übernommen.“ Tatsächlich würden sie Rasputin hin und wieder „unseren Vater“ nennen, ganz ohne Hintergedanken. Laptinskaja bestätigte die Angaben der anderen Frauen und fügte hinzu, was seine Gewohnheit betraf, seine weiblichen Bekannten zu küssen, so finde sie überhaupt nichts seltsam daran. Schließlich geschehe das einzig und allein aus einem Geist reiner, brüderlich-christlicher Liebe heraus. Täten die Leute in den großen Städten nicht dasselbe, fragte sie, einander zu küssen und zu umarmen, wenn sie sich mit Freunden und Familie trafen?

So überzeugend das alles schien, war da doch immer noch die frühere Aussage von Jewdokia Karnejewa. Also traf sich Gluchowzew mit ihr am 4. Januar erneut und ließ sie ihre Geschichte noch einmal erzählen. Sie sagte, vor sechs Jahren habe sie während einer Pilgerfahrt nach Kiew einen Tag lang bei den Rasputins gewohnt. Es gab viel zu tun, und Rasputin war die meiste Zeit über draußen auf den Feldern, aber er schaute immer wieder im Haus vorbei, um nach dem Rechten zu sehen, und jedes Mal versuchte er, sie zu küssen. Sie wollte das nicht und beharrte darauf, dass es nicht in Ordnung sei, aber er sagte ihr, dass es „unter uns religiösen Pilgern, die nach Erlösung suchen, eine Art spiritueller Küsse gibt, so wie der Apostel Paulus die heilige Thekla geküsst hat“. Karnejewa berichtete noch einmal, wie er sie, als sie aus der Kapelle unter dem Stall emporkletterten, gepackt und auf die Wange geküsst habe. Bei der Gelegenheit habe Rasputin ihr davon erzählt, wie ihm der Heilige Geist erschienen sei. Später am selben Tag bestellte Gluchowzew Karnejewa und Rasputin zu sich ein, zu einer, wie die Russen sagen, otschnaja stawka, einer Konfrontation von Angesicht zu Angesicht. Er wollte ganz genau herausfinden, was es mit ihren Anschuldigungen auf sich hatte. Karnejewa saß Rasputin direkt gegenüber und wiederholte alles, was sie Gluchowzew erzählt hatte.

Jede ihrer Aussagen kommentierte Rasputin mit den Worten: „Das ist alles so lange her, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.“ Oder: „Für Dinge, die so weit zurückliegen, reicht mein Gedächtnis nicht.“ Oder einfach: „Das weiß ich nicht mehr.“

Als Nächstes sprach Gluchowzew noch einmal mit Vater Ostroumow und Vater Tschemagin. Ostroumow blieb bei seiner früheren Aussage, er hatte nichts mehr hinzuzufügen. Anders indes Tschemagin: Er gab an, in privaten Gesprächen habe Rasputin ihm gegenüber durchaus zugegeben, „verschiedene Fehler“ begangen zu haben – er habe diverse Frauen geküsst, und manchmal habe er „gedankenlos“, wie er sagte, in der Kirche herumgestanden. All diese Aussagen legte man schließlich Rasputin vor, der die Behauptung, er sei ein Chlyst, vehement zurückwies und bestritt, gemeinsam mit mehreren Frauen das Badehaus besucht zu haben. Das alles sei bloße „Verleumdung“.23

Am 10. Januar 1908 schloss Gluchowzew seinen Bericht ab und schickte ihn an das Kirchenkonsistorium in Tobolsk. Von dort aus wurden der Bericht und die verschiedenen Zeugenaussagen zur Überprüfung an Dmitri Berjoskin weitergeleitet, einen Inspektor der Tobolsker Theologischen Akademie, bevor er schließlich auf dem Schreibtisch von Bischof Antoni landete. In seiner Stellungnahme vom 28. März schrieb Berjoskin, es gebe nach wie vor zu viele unbeantwortete Fragen, um in Sachen Rasputin ein förmliches Ermittlungsverfahren in die Wege zu leiten. Zwar bestehe kein Zweifel daran, dass Rasputin und seine Anhänger eine ganz spezielle „Gemeinschaft“ mit einer eigenen religiös-moralischen Struktur bildeten, die sich „von derjenigen der orthodoxen Kirche unterscheidet“, aber ob sie Chlysten seien, könne man nicht mit abschließender Sicherheit sagen. Rasputins Aussehen und Manierismen ähnelten zwar denen eines typischen Chlysten, aber Berjoskins Meinung nach war die Untersuchung nicht ausreichend in die Tiefe gegangen, um die notwendigen Hinweise für eindeutige Feststellungen zu liefern. Was für Lieder sangen sie? Welcher Art waren die religiösen Texte, aus denen sie lasen? Wie interpretierte Rasputin diese Texte? Und gab es nicht doch einen geheimen Raum für Chlysten-Rituale? Vielleicht in einem der Nebengebäude auf Rasputins Grundstück? Seiner Meinung nach waren diese offenen Fragen Grund genug für eine weitere vorläufige Untersuchung, dieses Mal jedoch durch einen echten Spezialisten für Sekten. Gluchowzew war das, so Berjoskin, ganz offensichtlich nicht.

Das Konsistorium prüfte den Fall und schloss sich Berjoskins Meinung an. Noch im Mai erließ das Konsistorium einen Urteilsspruch, in dem es einer neuen Untersuchung zustimmte und Berjoskin bat, sie zu leiten. Der Hauptverfasser des Urteilsspruchs, ein gewisser Smirnow, stellte fest, die Aufmerksamkeit so vieler Frauen habe Rasputin zum Schlechten hin verändert: „Das schiere Maß an Ehrerbietung, Respekt, sogar Verehrung rief in ihm einen satanischen Stolz hervor und festigte diesen dann immer mehr, sodass er einer ‚dämonischen Selbsttäuschung‘ erlag. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Grigori Nowy – insbesondere ab 1905 – die Rolle eines außergewöhnlichen Mentors, geistigen Führers, Ratgebers und Trostspenders übernahm.“ Anderseits müsse man Rasputin zugestehen, dass er das Leben eines aufrechten orthodoxen Christen führte, dass er an den Gottesdiensten teilnahm, betete, fastete und der Kirche Geld spendete. Das passte alles nicht so recht zusammen. Nichts, was Rasputin betraf, schien Sinn zu ergeben. Niemandem war so recht klar, wer er wirklich war.24 Fazit des Urteilsspruchs war, dass man bei der Untersuchung zu formell vorgegangen sei und sich allzu sehr auf äußerliche, materielle Beweise konzentriert habe. Eine weitere Untersuchung sei nötig, eine, die wirklich in die Tiefe gehe.25

Aber aus irgendeinem Grund, den wir nicht kennen, wurde der Urteilsspruch vom Mai 1908 ignoriert, und der Fall Rasputin wurde nicht weiter verfolgt. Die Untersuchung zu Rasputin und dessen mutmaßlichen Verbindungen zu den Chlysten ruhte bis Herbst 1912 – warum, darüber schweigt sich die geheime Ermittlungsakte aus, und noch hat niemand eine andere Quelle entdeckt, die eine Antwort auf diese Frage liefern könnte.26 Manche glauben, Lochtina sei in jenem Frühjahr in aller Eile nach St. Petersburg zurückgereist und habe den Zaren überredet, den Ermittlungen ein Ende zu setzen. Das ist natürlich möglich, aber es ist lediglich eine von mehreren Theorien. Laut einer anderen Theorie sprach Feofan oder ein anderer einflussreicher Geistlicher aus der Hauptstadt zu Rasputins Gunsten beim Zaren vor. Der spätere Duma-Präsident und Erzfeind Rasputins, Michail Rodsjanko, behauptete, der Herrscher habe Bischof Antoni vor die Wahl gestellt, entweder die Untersuchung zu stoppen – in dem Fall würde er befördert und an den Amtssitz des Bischofs von Twer versetzt werden – oder sich in ein Kloster zurückzuziehen. Zwar wurde Antoni Ende Januar 1910 tatsächlich nach Twer versetzt, nachdem der dortige Erzbischof Alexei (Alexei Opozki) in den Ruhestand gegangen war, doch es existieren keinerlei dokumentarische Hinweise, die Rodsjankos Behauptung untermauern. Zudem muss man bedenken, dass er diese Behauptung erst nach vollendeter Tatsache aufstellte; wahrscheinlich hat er diesen Zusammenhang erst im Nachhinein hergestellt.27 Nur eines können wir ohne jeden Zweifel festhalten: Die Untersuchung wurde in Sibirien initiiert und von St. Petersburg aus gestoppt. Die vorhandenen Dokumente beweisen, dass sich die Behörden in Sibirien bereits darauf vorbereiteten, die Ermittlungen gegen Rasputin fortzusetzen. Die Order, die Sache auf sich beruhen zu lassen, konnte nur von höchster Stelle kommen – aus der Hauptstadt beziehungsweise aus dem Palast.

Doch auch wenn sie auf Eis gelegt worden war, sprach sich bald herum, dass es diese Untersuchung gegeben hatte. Die Zeitung Sibirisches Neuland beispielsweise veröffentlichte im Januar 1910 einen kurzen Artikel darüber, dass Rasputins Zuhause durchsucht worden war, weil man ihn verdächtige, den Chlysten anzugehören; immerhin wurde nicht verschwiegen, dass man bei ihm nichts Kompromittierendes gefunden hatte. Vater Pjotr Ostroumow sprach über die Untersuchung mit Alexander Senin, der sich in Sibirien im politischen Exil befand, und der schrieb im Juni 1910 für die Südliche Morgenröte darüber.28 Geschichten wie diese machten die Leute natürlich neugierig.

„Rasputin war früher ein armer Bauer“, kommentierte das Sibirische Neuland, „und heute ist er eine ganz mysteriöse Gestalt, selbst für die Dorfbewohner von Pokrowskoje, mit denen er aufgewachsen ist. […] Das Geheimnis, wie sich der ‚Einfaltspinsel‘ Grischka in ‚Vater‘ Grigori verwandelt hat, ist und bleibt ein Geheimnis und gibt Anlass zu den wildesten Gerüchten rund um das Leben des ‚heiligen Mannes‘.“

Und die Erde wird zittern

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