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19. Die Presse entdeckt Rasputin

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Trotz des Kinderzimmer-Skandals, des Geredes in den Salons und Feofans Kampagne gab es zu Beginn des Jahres 1910 immer noch Menschen in Russland, die nicht wussten, wer Rasputin war – erstaunlicherweise sogar innerhalb der Familie Romanow. Der Onkel des Zaren, Großfürst Konstantin Konstantinowitsch, notierte am 19. Januar 1910 in seinem Tagebuch, der Bischof von Kronstadt, Wladimir (Putjata), habe ihm vor zwei Tagen „von den Gerüchten über irgendeinen heiligen Narren erzählt, Grigori, einen einfachen Bauern, den Miliza der Zarin A. F. vorgestellt hat und der angeblich großen Einfluss auf die Zarin und ihren Haushalt ausübt. Ich war unangenehm berührt, dass der Bischof ein Thema anschnitt, von dem wir rein gar nichts wussten; eines, bei dem es recht schwierig ist, festzustellen, wo die Wahrheit endet und die Gerüchte beginnen.“1

Das sollte sich bald ändern. Am 2. März 1910 veröffentlichten die monarchistischen Moskauer Nachrichten einen langen Artikel mit der Überschrift: „Der geistliche Tournee-Schauspieler Grigori Rasputin“. Noch vor Ablauf des Monats war der Name Rasputin praktisch im ganzen Land bekannt.

„In letzter Zeit hat es in der Gesellschaft viel Gerede über den ‚Starez‘ Grigori mit dem Nachnamen ‚Rasputin-Nowych‘ gegeben“, begann der Bericht. „Grigori hat sich diesen Nachnamen erst vor Kurzem geben lassen, bis dahin hieß er lediglich Rasputin. Wir können diese Namensänderung nur bedauern, denn sein ursprünglicher Nachname passte viel besser zum Lebensstil dieses ‚Starez‘.“2

Michail Nowosselow, der Verfasser des Artikels, präsentierte seinen Lesern drei Schriftstücke, die sich mit Rasputin, seinen Lehren und seinem Charakter beschäftigten und aus der Feder von drei nicht namentlich genannten Personen stammten: einem Zarizyner Journalisten, einem Studenten und einem Starez, die behaupteten, den Mann aus Sibirien gut zu kennen. Die Quellen zeichneten ein vernichtendes Bild von Rasputin. Sie stellten ihn als listigen Scharlatan dar, als habgierigen Emporkömmling und lüsternen Schürzenjäger, der sich der Hypnose bediene und seine ausschließlich weiblichen Anhänger lasziv streichele, um sie in einen „himmlischen Zustand“ zu versetzen – einen Zustand, der diese Frauen dazu brachte, ihn als wahren Mann Gottes anzusehen. Dabei sei er in Wirklichkeit nur ein falscher Prophet, dessen Überzeugungen mit dem wahren christlichen Glauben gar nichts gemein hätten, aber durchaus charakteristisch seien für jemanden, der unter „geistiger Selbsttäuschung“ litt. Es hieß, Rasputin sei faul und ein schlechter Familienvater, der die Heimat verlassen habe, ohne für seine Familie zu sorgen; seine Kinder seien „ungezogene kleine Missgeburten“. Mit seinem unzüchtigen Verhalten habe er mehrere Familien zugrunde gerichtet und das Leben zahlreicher Frauen zerstört. Nowosselow schloss mit den Worten, erst vor Kurzem habe ihm ein Erzpriester (vielleicht Feofan?) erzählt, Rasputin sei ein „Chlyst und Erotomane“. Zwar lägen die Fakten offen auf dem Tisch, so Nowosselow, aber dennoch stehe zu befürchten, dass weder die Kirche noch der Staat etwas gegen Rasputin unternehmen würden, man wisse schließlich um die „Feigheit“ dieser Institutionen. Daher richte er seine Worte an „das moralische Bewusstsein und den gesunden Menschenverstand der ganz normalen Priester und ihrer Gemeinden“.

Dieses Bild von Rasputin war tatsächlich vernichtend, obgleich fast nichts daran stimmte. Für den Verfasser des Artikels schien das keine Rolle zu spielen. Von Kindesbeinen an war Nowosselow auf der Suche nach dem wahren Glauben. Seine Mutter und sein Vater gehörten beide dem russischen Klerus an. Nach seinem Abschluss an der Universität von St. Petersburg geriet er unter den Einfluss von Lew Tolstoi. Die beiden schrieben sich Briefe, und später wurde Nowosselow verhaftet und aus der Hauptstadt verbannt, weil er verbotene Werke des großen Schriftstellers verteilt hatte. Im Alter von 30 Jahren brach er mit Tolstoi und wandte sich den Ideen des Religionsphilosophen Wladimir Solowjow und der Religiös-Philosophischen Gesellschaft zu. Er kannte nicht nur Johannes von Kronstadt, sondern auch die „Gottsucher“, Männer wie Berdjajew, Rosanow und Sergei Bulgakow. Außerdem gehörte er dem Moskauer Kreis um Ella, der Schwester der Zarin, an. Berdjajew schrieb, in Nowosselows Wohnung fühle man sich wie in der Zelle eines Mönchs. Er umgab sich mit Starzen, Asketen und anderen frommen Männern. Solche bescheidenen Männer Gottes stellten für ihn die wahre religiöse Autorität dar; von den offiziellen Würdenträgern der Kirche wollte Nowosselow nichts wissen.3

Nowosselow hatte bereits ab 1907 seine Zweifel an Rasputin, und mit diesen Zweifeln hatte er offenbar auch schon vor 1910 nicht hinterm Berg gehalten. Er begann Material über Rasputin zu sammeln und einen denunziatorischen Text zu schreiben, doch dieser wurde von der Polizei beschlagnahmt, bevor Nowosselow die Chance hatte, ihn zu veröffentlichen.4 Sein Hass auf Rasputin kannte fast keine Grenzen. Laut General Bogdanowitsch glaubte Nowosselow tatsächlich, Rasputin sei der Mensch gewordene Teufel.5 Die Antipathie war größtenteils auf Nowosselows Sympathie für die religiöse Welt zurückzuführen, aus der Rasputin stammte und für die er angeblich stand: Für jemanden wie Nowosselow war Rasputins Behauptung, ein Starez zu sein, so etwas wie geistlicher Hochverrat, eine besonders verabscheuungswürdige Travestie, eine Beleidigung für alle echten heiligen Männer aus dem gemeinen Volk.

Eine weitere Schlüsselfigur hinter dem Artikel war Lew Tichomirow, der Herausgeber der Moskauer Nachrichten. Später sollte Tichomirow behaupten, er sei der Erste gewesen, der Rasputin mit den Mitteln der Presse die Maske vom Gesicht gerissen habe.6 Wenn Nowosselow Rasputin hasste, weil er fälschlicherweise vorgab, die Volksreligion zu verkörpern, hasste Tichomirow Rasputin, weil er seine Vorstellung von einer „Volksautokratie“ ad absurdum führte. Tichomirow war von Hause aus ein radikaler Populist, hatte sich aber inzwischen zu einem Verfechter der Monarchie entwickelt. Insofern musste ein gewöhnlicher Bauer, der es bis in den Palast schaffte und dadurch eine Brücke zwischen der Unterschicht und dem Zaren schuf, genau das sein, worauf Tichomirow gehofft hatte. Aber musste es ausgerechnet dieser Bauer sein? In Tichomirows Augen war das, was Rasputin trieb, Verrat an einer eigentlich doch sehr guten Idee.7 Tichomirow traf sich am 25. März mit Nowosselow und teilte ihm mit, dass der Artikel, soweit er es beurteilen konnte, bei Zar und Zarin überhaupt nichts bewirkt habe. Er war sich nicht einmal sicher, ob Nikolaus ihn überhaupt gelesen hatte. Falls doch, hätte er eigentlich stinksauer sein müssen.8

Was die russische Öffentlichkeit betraf, so schlug der Artikel wie eine Bombe ein. Auszüge daraus wurden in weiteren russischen Zeitungen abgedruckt, auch in diversen Petersburger Blättern, und das goss noch mehr Öl ins Feuer.9 Iliodor schlug sich in der Presse auf Rasputins Seite und beharrte darauf, dass Rasputin ein echter Starez sei, der seine fleischlichen Gelüste so sehr unter Kontrolle habe, dass er nicht einmal mehr mit seiner eigenen Frau schlief.10 Am 23. März berichtete die Zeitung Morgen Russlands darüber, wie Iliodor in einer Predigt gedroht habe, Nowosselow und die Herausgeber der Zeitung an den „russischen Schandpfahl“ zu ketten und so lange zu schlagen, bis sie bluteten. Iliodor sah in dem Artikel einen Akt des Verrats am früheren Herausgeber der Moskauer Nachrichten, Wladimir Gringmut, einem ehemaligen Anführer der Schwarzhunderter. Iliodor vermutete, dass es Nowosselow eigentlich vor allem um die Schwarzhunderter ging und Rasputin nichts weiter war als ein bequemer Vorwand.11 (Rasputin war niemals Mitglied der Schwarzhunderter, auch wenn sein Name hin und wieder mit dieser reaktionären Gruppe in Verbindung gebracht wurde, nicht zuletzt wegen seiner engen Beziehung zu Iliodor und Germogen.) Als Tichomirow den Bericht im Morgen Russlands las, war er sprachlos. Ihn überkam eine Vorahnung, dass der blinde Hass, den dieser Skandal provozierte, das Ende des Romanow-Regimes bedeutete. In sein Tagebuch schrieb er:

Da habt ihr euer „altes Russland der Schwarzhunderter“! Wozu sind diese absurden dunklen Mächte nicht in der Lage? […] Ich weiß nicht, was die Kirche tun wird, aber die Monarchie, so scheint es, ist am Ende, es sei denn, es geschieht ein Wunder und ein mächtiger, weiser Retter mit starker Hand und wachem Verstand tritt auf den Plan.12

Die Reaktionen auf seinen Artikel in den Moskauer Nachrichten waren so überwältigend, dass Nowosselow am 30. März einen weiteren Text veröffentlichte, mit dem Titel: „Noch eine Anmerkung zu Grigori Rasputin“. Darin hieß es, er habe viele, viele Briefe erhalten von Menschen, die Rasputin kannten und die Aussagen in seinem ersten Artikel bestätigten. In diesem zweiten Artikel stellte Nowosselow klar, dass es ihm nicht darum gehe, die Schwarzhunderter anzugreifen, es gehe ihm einzig und allein um Rasputin. Außerdem betonte er, selbst Feofan, früher einer der größten Förderer Rasputins, habe inzwischen erkannt, wer dieser Mann wirklich war; Feofan warne öffentlich vor dem falschen Starez und habe alle Verbindungen zu ihm abgebrochen. Nachdem Feofan Nowosselows Artikel gelesen hatte, schrieb er ihm einen Brief, in dem es hieß, Rasputin sei nicht mehr zu retten: „Er versinkt immer weiter in der Selbsttäuschung, er steht unter dem Einfluss einer dämonischen Macht. Er ist auf die dunkle Seite gewechselt und erzählt so viele Lügen, dass er von dort nicht mehr zurückkommen wird.“13

Aber die Moskauer Nachrichten waren noch nicht fertig mit Rasputin. Am 30. April legten sie noch einmal nach und machte sich über eine Rede von Iliodor lustig, die kurz zuvor in mehreren Zarizyner Zeitungen abgedruckt worden war. In seiner Rede hatte Iliodor erklärt, es stimme zwar, dass Rasputin „die Frauen liebt, sehr sogar, sie liebkost und küsst, aber nicht in der Art und Weise, wie das ein Sünder tut, sondern mit einer ganz speziellen Art der Heiligkeit“. Diese Tatsache, so die Moskauer Nachrichten, beweise nur, dass er ein Chlyst sei, und als solcher gehöre er einer Sekte an, die vor dem Gesetz als schädlich und gefährlich gelte. Tichomirow und die Zeitung forderten Antworten: Warum ermittelte der Synod nicht gegen Rasputin? Was tat der Oberprokuror? Wenn das, was die Zeitung veröffentlicht hatte, stimmte und Rasputin tatsächlich ein Chlyst war, wie konnte der Synod dann zulassen, dass Priester wie Iliodor ihn öffentlich verteidigten? „Die wahre Persönlichkeit von Grigori Rasputin muss ans Licht kommen“, schrieben die Moskauer Nachrichten. „Die Verführung muss endlich ein Ende haben!“14

Tichomirow hatte versucht, dem Zaren mit den Mitteln der Presse die Augen zu öffnen – so sah er es zumindest – und ihm klarzumachen, welche Gefahr Rasputin für den Thron darstellte. Er hatte versagt. Als Nikolaus von dem Skandal erfuhr, war er so enttäuscht von Tichomirow, dass er sich ab sofort weigerte, ihn zu empfangen. Tichomirow war verletzt und niedergeschlagen, doch er bereute nichts: „Gut, dann ist es eben so. Aber eine solche spirituelle Verderbtheit gehört nun einmal aufgedeckt.“ Später sagte Premierminister Stolypin zu Tichomirow, was er getan habe, sei mutig und bewundernswert gewesen, sei ihn aber teuer zu stehen gekommen, denn damit habe er die Gunst des Zaren verloren. Dabei war die Enttäuschung auf Seiten Tichomirows sogar noch größer: Er verlor jeden Glauben an den Monarchen. Dieser Fall zeigt geradezu beispielhaft, wie Rasputin dazu beitrug, dass der Zar selbst seine treuesten Anhänger verlor. In seinem Tagebuch bringt Tichomirow seine tiefe Enttäuschung zum Ausdruck und blickt äußerst pessimistisch auf Russlands Zukunft:

Mit einem solchen Zaren ist nur noch ein revolutionärer „Aufstand“ möglich. […] Ein „russischer Intellektueller“ sitzt auf dem Thron, natürlich kein Revolutionär, sondern ein „liberaler“, willensschwacher, leicht zu beeindruckender Mensch, einer mit einer „schönen Seele“, der vom wahren Leben überhaupt nichts weiß […]. Es gibt keinen Zaren, und niemand will einen … Und auch die Kirche … bekommt Risse. Der Glaube verschwindet … Oh, russisches Volk!15

Auf die Angriffe der monarchistischen Moskauer Nachrichten folgten bald ähnliche Attacken seitens der liberalen Presse, allen voran der Rede, der Zeitung der Konstitutionell-Demokratischen Partei (auch „Kadetten“ genannt). Zwischen 20. Mai und 26. Juni brachte die Rede unter der Überschrift „Rasputin-Nowych“ zehn Artikel mit der, wie es hieß, ersten umfassenden Darstellung der Lebensweise dieses „kriminellen Starez“. Die Artikel enthielten reißerische Beschreibungen eines merkwürdigen Harems, der aus zwölf schönen jungen Frauen bestehe, die Rasputin in ganz Sibirien rekrutiert hatte und nun in seinem Haus in Pokrowskoje gefangen hielt. Sie lebten dort in Saus und Braus, zugleich aber stets in Angst vor seinem gewalttätigen Temperament. Niemand, nicht einmal seine Ehefrau, wagte ihm zu widersprechen. Seine Macht sei grenzenlos, „er kann alles tun, was er will“, wurde eine der Frauen zitiert. Wie einige der anderen habe sie bereits fliehen wollen, wisse aber, dass dies unmöglich sei. Rasputin habe auch zwei männliche Anhänger rekrutiert, ihres Zeichens Starzen wie er selbst, und ihnen die Erlaubnis erteilt, sich neben ihren Ehefrauen noch zwei „Schwestern“ zu halten, um ihre Lust auszuleben. Weiter hieß es, Rasputin besitze durchaus ein paar ganz besondere Gaben, allen voran die Fähigkeit, den Menschen ihre Zukunft vorauszusagen. Vor allem aber wurden seine perversen Visionen hervorgehoben: „Ich habe in mir ein Element von Jesus Christus, nur durch mich kann man Erlösung finden“, zitierte die Rede Rasputin. „Doch dazu muss man mit mir in Körper und Seele verschmelzen. Das, was von mir fortfließt, ist die Quelle des Lichtes, das alle Sünden fortwäscht.“16 Der Name des Autors war mit „S. V.“ angegeben, möglicherweise verbarg sich dahinter Vater Wladimir Wostokow, ein liberaler Priester, der später einer von Rasputins ärgsten Feinden wurde und nach dem Putsch der Bolschewiki an eine „jüdisch-freimaurerische“ Verschwörung zur Zerstörung Russlands glaubte.17 Die Artikelserie in der Rede war ein Publikumsrenner und wurde bald von diversen Presseorganen in ganz Russland nachgedruckt.18

Die Jekaterinoslawer Zeitung Südliche Morgenröte brachte zwischen dem 30. Mai und 4. Juni einen längeren mehrteiligen Artikel über Rasputins Leben. Der Autor, Alexander Senin, behauptete, er habe eine Zeit lang in Pokrowskoje gelebt und Rasputin Anfang 1907 persönlich kennengelernt. Senins Text war voll von haarsträubenden Lügengeschichten und käute vieles von dem wieder, was in jenem Frühjahr bereits in anderen Publikationen erschienen war. Unter anderem berichtete er von zwei gesunden jungen Frauen, die zu Rasputin zogen, dort erkrankten und unter mysteriösen Umständen starben. Ein anderes Mädchen, so Senin, sei geschwängert worden, während sie bei den Rasputins wohnte, und plötzlich spurlos verschwunden.19

Im Mai berichtete die Rede, Rasputin habe Iliodor und Germogen damit beauftragt, ihm zu Hilfe zu kommen. Germogen sei angeblich bereits in der Hauptstadt eingetroffen, um Rasputins Ruf wiederherzustellen, und da Iliodor sich im April so vehement für Rasputin eingesetzt habe, erwarte man von ihm dasselbe. Dennoch seien ihre Absichten, wie es hieß, nicht komplett uneigennützig: Germogen und Iliodor hätten sich in den letzten zwei, drei Jahren vor allem deshalb besonders stark und mächtig gefühlt, weil sie einen so guten Draht zu Rasputin hatten. In Zarizyn habe Iliodor in jenem Frühjahr Rasputin in der Öffentlichkeit immer wieder verteidigt, so die Zeitung; dabei sei er so weit gegangen, ihn mit einem Propheten aus dem Alten Testament zu vergleichen, ja, er habe ihn sogar einen Heiligen genannt.20

Im Juli schrieb der monarchistische Schriftsteller, Verleger und orthodoxe Missionar Wassili Skworzow einen Artikel für den Zarizyner Gedanken, in dem er darlegte, was er von Rasputin hielt. Er sah in ihm einen Mann mit einem raffinierten psychologischen „Flair“, wie es all jene begabten Starzen besäßen, die „aus den Tiefen der Welt der Chlysten“ kämen. Als Prototypen nannte er einen Starez mit dem Namen Stefan. Er war etwa 25 Jahre zuvor auf den Plan getreten, hatte ebenfalls die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gezogen, dann war gegen ihn ermittelt worden, und am Ende hatte man ihn gegen seinen Willen nach Susdal in ein Kloster gesteckt, wo er noch immer lebte. Stefan galt zu seiner Zeit als „Wundertäter“. Wenn Frauen seinen geistlichen Beistand suchten, hypnotisierte er sie und brachte sie dazu, zu glauben, ihre Seele wäre von einem „Dämon“ besessen und ihre einzige Hoffnung bestünde darin, sich von ihm exorzieren zu lassen. Das tat er, indem er mit dem Dämon sprach und dabei langsam über Schultern und Brüste der Frau strich, damit sich der böse Geist einen Weg durch den Körper bahnen konnte. Dann hatte er Sex mit der Frau, und anschließend war der Dämon ausgetrieben. Skworzow stellte die Vermutung auf, dass Rasputin bei seinen Opfern die gleiche Methode benutzte. In einem weiteren Artikel in der Zeitung hieß es, Stefan habe mithilfe seiner „rasputinischen Theorien über die Heiligkeit des Fleisches“ insgesamt 200 junge Frauen zu sich gelockt und vergewaltigt. Stefan und Rasputin, so das Fazit der Zarizyner Gedanken, seien zwei vom selben Schlag.21

Inzwischen waren auch die ausländischen Botschaften auf Rasputin aufmerksam geworden. In einem Bericht vom 7. April (neuen Stils)/25. März (alten Stils) 1910 schrieb der österreichische Botschafter Leopold Graf Berchthold nach Wien, es zeichne sich ein gewaltiger Skandal ab. Nach wie vor gebe die häufige Anwesenheit eines verdächtigen Priesters von einer von der Polizei verbotenen Sekte in der Intimsphäre der Zarin den Damen beim Hofe Anlass zur Sorge. Bislang sei jeder Versuch, die Monarchin auf die schädlichen Folgen eines solchen Umgangs hinzuweisen, vollkommen fruchtlos.22 Auch wenn der Botschafter glaubte, Rasputin sei unantastbar, war die Presse bereits der Ansicht, er sei erledigt. „Das Ende von Rasputin“ lautete die Überschrift eines Artikels im Zarizyner Gedanken vom 13. Juni: „Die Debatte in Zarizyn ist beendet“, hieß es dort. „Keiner kann mehr die Augen davor verschließen, dass Rasputin ein Galgenvogel ist, ein Schurke, ein elender Wicht, der hinter Geld und Frauen her ist.“23

Je größer der Presserummel in jenem Frühjahr wurde, desto wütender wurde Nikolaus. Er schickte Premierminister Stolypin eine Notiz, in der er ihm in deutlichen Worten zu verstehen gab, dass er genug habe von diesen Zeitungsartikeln, dass niemand das Recht habe, sich in seine Privatangelegenheiten einzumischen, und dass er dieser Art der Berichterstattung ein für alle Mal einen Riegel vorschieben werde. Der Zar ließ seinen Premierminister auch wissen, er hätte diesen Umtrieben längst ein Ende bereiten sollen.24 Aber so einfach war das nicht. Auch wenn manche Verleger unter Druck gesetzt oder mit Geldstrafen belegt wurden, wenn Veröffentlichungen die Grenzen dessen überschritten, was die Obrigkeit als zumutbar ansah, so garantierten die politischen Reformen nach der Revolution von 1905 der Presse doch weitgehende Freiheiten. Unter Stolypin wurden dennoch zwischen 1907 und 1909 Hunderte von Zeitungen aufgelöst, über 300 Redakteure wanderten ins Gefängnis. Die Redakteure einiger führender Pressorgane – zum Beispiel Alexei Suworin von der Neuen Zeit und Josef Gessen von der Rede – wurden ab 1910 von der Ochrana überwacht. Doch der Chef der Presseabteilung der Polizei wies Stolypin darauf hin, dass die Behörden selbst dann, wenn Artikel über Rasputin ihrer Ansicht nach gegen das Gesetz verstießen, sie diese doch erst zu sehen bekämen, wenn die Zeitungen gedruckt seien. Und dann könne die Polizei ja auch nicht mehr verhindern, dass sie an die Öffentlichkeit gelangten.25

Trotzdem musste Stolypin irgendetwas unternehmen. Er traf sich mit Alexei Belgard, dem Leiter der staatlichen Verwaltung für Presseangelegenheiten, und bat ihn um Rat. Belgard war ebenfalls der Meinung, dass sie nicht einfach so irgendwelche Zeitungen verbieten durften. Also fertigten sie eine Liste der wichtigsten Presseorgane an und beschlossen, mit jedem Redakteur einzeln zu sprechen und ihn zu bitten, in Zukunft nicht mehr über Rasputin zu berichten. Einige, wie Fürst Meschtscherski vom Bürger, erklärten sich dazu – wenn auch widerstrebend – bereit. Andere, wie Josef Gessen von der Rede, sagten, sie würden nur allzu gerne aufhören, über Rasputin zu schreiben. Dazu müsse jener lediglich von der Bildfläche verschwinden, dann hätte die Presse auch keinen Grund mehr, sich mit ihm zu befassen.26 Etwa zur gleichen Zeit bat Stolypin den stellvertretenden Innenminister Alexander Makarow, den Gouverneur von Moskau, Alexander Adrianow, darüber zu informieren, dass „jegliche Artikel oder Berichte in den täglich regelmäßig erscheinenden Organen der Presse über den Bauern aus der Provinz Tobolsk, Bezirk Tjumen, Dorf Pokrowskoje, mit Namen Grigori Jefimowitsch Rasputin-Nowych komplett unerwünscht“ seien. Sollten dennoch welche auftauchen, solle Adrianow sofort den verantwortlichen Redakteur und Verleger kontaktieren und sie von der Anweisung in Kenntnis setzen. Dies sollte „auf höfliche und korrekte, aber dennoch bestimmte und hartnäckige Weise“ geschehen, jedoch „ohne mit administrativen Strafen zu drohen“. Die besagten Redakteure und Verleger sollten allein durch „Überzeugungskraft und Autorität“ beeinflusst werden.27 Am 15. Dezember bestellte der Gouverneur Tichomirow zu sich und erzählte ihm, was die Regierung von ihm verlangte. „Das ist einfach nur furchtbar“, sagte Tichomirow.28

Die Polizei begann, akribisch die Presse zu sichten. Jede Erwähnung Rasputins, jeder Artikel, wie kurz oder unbedeutend er auch war, wurde in Ordnern gesammelt und wanderte in die Archive der Polizei. Doch damit nicht genug: Die Polizei begann, auch die ausländische Presse zu überwachen, vor allem europäische und insbesondere britische Publikationen wurden nach dem Namen Rasputin durchforstet. Wenn er irgendwo auftauchte, wurden die Artikel ausgeschnitten, ins Russische übersetzt und abgeheftet. Ein Interview über Rasputin, das Wladimir Burzew, ein Revolutionär im Exil, im April 1912 der französischen Zeitung L’Humanité gab, landete ebenso in den Akten der Ochrana wie ein regelrecht skandalöser Artikel von Fürstin Katharina Radziwill aus den schwedischen Dagens Nyheter. Als russische Spione in Deutschland 1912 mitbekamen, dass dort bald ein reißerischer Roman über Rasputin auf den Markt kommen sollte, beauftragte die Geheimpolizei ihre Agenten in Berlin, Paris und St. Petersburg, im Vorfeld jedes noch so kleine Detail über das Buch herauszufinden. Am 9. November 1913 legte man dem Innenminister einen Überblick über die Auslandspresse vor, der einen Artikel aus der Rheinisch-Westfälischen Zeitung über Rasputins wachsenden Einfluss auf den Zaren und die Zarin von Russland enthielt.29

Als der Herbst kam, legte sich der Presserummel um Rasputin wieder. Warum, ist nicht ganz klar – mag sein, dass die Maßnahmen des Innenministeriums die gewünschte Wirkung zeigten. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass die Zarenfamilie Russland für eine Weile verlassen hatte und per Schiff ins Deutsche Reich gereist war.30 Wie dem auch sei: Diese Flaute markierte nicht das Ende der Feindseligkeiten, sie war leidglich ein kurzer Waffenstillstand. Die ersten Schüsse im Krieg gegen Rasputin waren gefallen, und nichts und niemand konnte seine Feinde noch aufhalten.

Und die Erde wird zittern

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