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18. Ärger im Kinderzimmer

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Anfang des Jahres 1910 sah Rasputin Nikolaus und Alexandra ziemlich häufig – sieben Mal im Januar und vier Mal im Februar. Meistens kam er am Abend zu Besuch, traf aber nicht immer beide an. „Um halb zehn gingen wir in die Stadt“, vermerkte Nikolaus am 6. Januar in seinem Tagebuch. „Danach kam Grigorij, um Alix zu besuchen, wir saßen lange mit ihm zusammen und unterhielten uns.“ Solche langen abendlichen Gespräche führten sie damals häufiger. Am 14. Februar war Rasputin noch einmal im Palast, um sich vor seiner Rückkehr nach Sibirien von den beiden zu verabschieden.1

Während er zu Hause seine Familie besuchte, schnüffelte die örtliche Polizei in Rasputins Vergangenheit herum. Am 7. März 1910 berichtete Hauptmann A. M. Poljakow dem Leiter der Gendarmerie der Provinz Tobolsk, Rasputin sei 45 Jahre alt, Bauer aus Pokrowskoje im Bezirk Tjumen und lebe im Großen und Ganzen wie die anderen Bauern, die sich von der Landwirtschaft ernährten. Er reise häufig nach Russland, wo er hochgestellte Freunde habe, unter anderem Großfürstin Miliza Nikolajewna. Er „flößt Respekt ein, ist vermögend und wird überall geschätzt. Aus jeder Ecke Russlands erhält er große Mengen Geld von verschiedenen Menschen, auch von hochgestellten Personen; das gemeine Volk betrachtet ihn als ‚gerecht‘ und ‚weise‘. Er reist manchmal nach Russland, besucht Moskau und St. Petersburg, spricht dort mit ranghohen Geistlichen, und im Frühjahr 1907 geruhte Ihre Kaiserliche Hoheit Großfürstin Miliza Nikolajewna, ihn inkognito in Pokrowskoje zu besuchen.“ Poljakow versäumte nicht zu erwähnen, was für ein „nüchternes“ Leben Rasputin führe.2

Am Tag, als Poljakow seinen Bericht verfasste, war Rasputin wieder in Zarskoje Selo.3 Seine Rückkehr führte zu Spannungen innerhalb der Familie und unter den vertrautesten der Dienstboten. Es scheint, als hätten einige der Romanow-Töchter Geheimnisse über ihren „Freund“ bewahrt. Am Tag, als Rasputin eintraf, schrieb Alexandra ihrer Tochter Maria, um sie von Rasputins Ankunft in Kenntnis zu setzen, sie bat sie, sich doch bitte wie ein nettes Mädchen zu verhalten und keine Geheimnisse vor ihr zu haben, denn Geheimnisse möge sie ganz und gar nicht.4 Am folgenden Tag schrieb Tatjana an ihre Mutter und bat um Verzeihung (wofür, erwähnt sie nicht). Sie versprach, das, was sie getan habe, nie wieder zu tun. „Ich habe solche Angst, dass S. I. Maria irgendetwas Schlechtes über unseren Freund erzählt“, schrieb sie, sichtlich aufgebracht. „Ich hoffe, unser Kindermädchen ist jetzt nett zu unserem Freund.“

Mit „S. I.“ ist Sofia Iwanowna Tjutschewa gemeint. Spätestens im Frühjahr 1910 war Tjutschewa zu der Überzeugung gelangt, dass Rasputin ein Mensch ohne Moral war und eine echte Gefahr für ihre Schützlinge darstellte. Ihr gefiel es gar nicht, dass man Rasputin in die Kinderzimmer ließ, und sie hielt mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Am 15. März 1910 schrieb Nikolaus’ Schwester Xenia in ihr Tagebuch:

Ich saß längere Zeit mit S. D.5 zusammen. Sie steht immer noch unter Schock, nachdem sie gestern in Zarskoje mit S. I. Tjutschewa gesprochen hat, und wegen allem, was da vor sich geht; wegen der Haltung von Alix und den Kindern gegenüber diesem finsteren Grigori (den sie fast für einen Heiligen halten, dabei ist er in Wirklichkeit nur ein Chlyst!).

Er ist immer da, geht in die Gemächer der Kinder, besucht Olga und Tatjana, während sie sich fürs Bett fertig machen, setzt sich zu ihnen, redet mit ihnen und streichelt sie. Sie tun alles, um ihn vor Sofia Iwanowna zu verstecken, und die Kinder wagen es nicht, mit ihr über ihn zu reden. Es ist wirklich unglaublich und übersteigt jedes Verständnis.

Sie stehen alle unter seinem Einfluss und beten zu ihm. Dieses Gespräch hat mich einfach völlig niedergeschlagen. Ich aß mit Olga im Palais Anitschkow zu Abend. Ich hatte nur eines im Kopf und konnte deshalb über nichts anderes reden. Aber wer soll hier Abhilfe schaffen? Für die Familie ist es eine sehr schwierige und „kitzlige“ Angelegenheit. Es gibt die schrecklichsten Gerüchte über ihn!6

In St. Petersburg erzählte man sich, dass es am Hof Ärger gebe. Am 20. März 1910 notierte Alexandra Bogdanowitsch, die Salon-Gastgeberin, in ihrem Tagebuch, sie habe gehört, die Palastdiener seien entsetzt über Rasputins Verhalten und darüber, dass die Zarin dieses auch noch unterstützte. Man erzähle sich, dieser „verdorbene Mann“ habe jederzeit Zutritt zum Palast, besuche sogar die Zarin in ihrem Schlafzimmer, und nicht einmal der Zar habe etwas dagegen. Bogdanowitsch hatte gehört, Rasputin habe auf einer Reise nach Pokrowskoje mehrere Dienstmädchen von Wyrubowa „beleidigt“ und dass eine von ihnen nun von ihm schwanger sei. Am Hof gehe das Gerücht, Rasputin verkünde überall ganz freimütig, Wyrubowa habe sich bereiterklärt, das Baby als ihr eigenes Kind großzuziehen. Und Rasputin sei nicht nur ein Mensch ohne Moral – er sitze sogar immer wieder mit dem Zaren zusammen und gebe ihm ausführliche politische Ratschläge. Den großen Einfluss Rasputins wollten sich inzwischen auch andere zunutze machen, wie Bogdanowitsch schrieb: Graf Sergei Witte zum Beispiel suche die Nähe Rasputins, um dadurch seinerseits beim Zaren an Einfluss zu gewinnen. „Und all das ereignet sich im 20. Jahrhundert! Es ist einfach furchterregend!“7

Derweil wurde die Situation in den kaiserlichen Kinderzimmern nur noch schlimmer. Dafür sorgte neben Tjutschewa vor allem Maria Wischnjakowa, das freundliche Kindermädchen von Alexei. Auch wenn wir wissen, dass sie von Rasputin fasziniert war, besitzen wir nur wenige zuverlässige Informationen über die Beziehung der beiden. Alle verfügbaren Quellen suggerieren, dass Wischnjakowa Rasputins Verbündete war – und wahrscheinlich noch einiges mehr. Tatsächlich herrschte bei der Geheimpolizei zu jener Zeit die Meinung vor, dass es Wischnjakowa war, die Rasputin am Hof eingeführt hatte.8 Doch im März 1910 war irgendetwas geschehen, das ihre Beziehung schwer belastete. Was genau das war und wann und wo es passierte, ist nach wie vor unklar. Iliodor behauptete, Rasputin habe im Sommer 1907 oder 1908 Maria Wischnjakowa vergewaltigt, entweder in Werchoturje oder in Pokrowskoje.9 1917 gab Tjutschewa der Außerordentlichen Untersuchungskommission gegenüber an, Rasputin habe sich bei einem Besuch in Pokrowskoje im Jahr 1910 nachts in Marias Zimmer geschlichen und sie missbraucht.10 (Zumindest beim Datum irrte sich Tjutschewa: Es müsste 1909 gewesen sein.) Mehrere Jahre nach Tjutschewas Aussage behauptete Madeleine (Magdalina) Zanotti, die Kammerzofe der früheren Zarin, Maria habe ihr erzählt, wie Rasputin sie verführte; das sei jedoch nicht in Pokrowskoje gewesen, sondern im Alexanderpalast. Maria habe Rasputin, so Zanotti, einen „Hund“ genannt.11 Maria Wischnjakowa selbst erzählte der Untersuchungskommission eine ähnliche Geschichte, gab aber an, es sei bei einem Aufenthalt in Pokrowskoje gewesen: Rasputin kam eines Nachts heimlich in ihr Zimmer und begann, sie zu küssen. Dann nahm er ihr die Jungfräulichkeit, während sie sich verzweifelt zu wehren versuchte. Auf der Rückreise ignorierte Rasputin sie komplett; sein Bett im Schlafwagen teilte er mit Sinaida Manschtedt.12

Falls Rasputin Wischnjakowa auf der Reise nach Pokrowskoje im Jahr 1909 tatsächlich vergewaltigte, ist die Frage berechtigt, warum sie praktisch ein ganzes Jahr schwieg und sich in keinster Weise über Rasputin beschwerte.13 Aber vielleicht hatte sie zu große Angst, oder sie hatte das Gefühl, dass es ihre Schuld war. Möglicherweise fürchtete sie auch, dass ihr ohnehin niemand glauben würde. Vielleicht traute sich Maria auch deshalb erst Anfang 1910, sich alles von der Seele zu reden, weil Rasputin ihrer Kollegin Sofia Tjutschewa inzwischen so viel Kummer bereitete, dass diese es ihrerseits nicht mehr für sich behalten konnte. Tjutschewa hatte der Kommission eine eigene Geschichte zu erzählen:

Als ich in den Kindertrakt kam, war dort alles in heller Aufregung. Wischnjakowa erzählte mir mit Tränen in den Augen, sie … und andere Verehrerinnen hätten an religiösen Zeremonien teilgenommen. Was sie als Gebot des Heiligen Geistes aufgefasst hätte, sei einfach Unzucht gewesen. Aus ihren Worten verstand ich, dass Theophan, der ihrer aller Beichtvater war, sie aus Demut zu Rasputin geschickt hatte, den er für einen Gottesmann gehalten habe. Rasputin hätte sie gezwungen, zu tun, was er brauchte, und sich als Mensch ausgegeben, der auf Geheiß des Heiligen Geistes handelt. … Er hätte sie gewarnt, Theophan davon zu erzählen, und diese Warnung mit dem Sophismus verbrämt: Theophan sei ein Einfaltspinsel und verstehe diese Mysterien nicht, er verurteile sie und damit auch den Heiligen Geist und begehe so eine Todsünde.14

Was auch immer der Grund war: Sicher ist, dass sich Maria zu jener Zeit bei Alexandra über Rasputin beschwerte. Ob sie der Zarin mitteilte, dass er sie vergewaltigt hatte, oder ob sie Alexandra bloß einen kritischen Artikel über Rasputin aus dem Petrograder Blatt zeigte, wie man sich in der feinen Gesellschaft erzählte15 – wir wissen es nicht. Was auch immer Wischnjakowa ihr erzählte: Die Zarin weigerte sich, ihr zu glauben. Laut Tjutschewa sagte Alexandra zu Maria, auf solchen Klatsch gebe sie nichts, da seien bloß „dunkle Kräfte“ am Werk, die Rasputin vernichten wollten, und sie verbot Maria, das Thema jemals wieder anzusprechen.16 Viele Jahre später behauptete Nikolaus’ Schwester Olga, an der Geschichte mit Marias Vergewaltigung sei überhaupt nichts dran gewesen. Ja, es habe einen Skandal um Maria gegeben, aber mit Rasputin habe dies alles nichts zu tun gehabt, so Olga, vielmehr habe man Maria mit einem Kosaken der zaristischen Garde zusammen im Bett erwischt.17

Zanotti behauptete, die Zarin habe Maria gefeuert, nachdem diese ihr von Rasputins Übergriff erzählt habe. Das kann nicht stimmen, denn Maria war noch drei Jahre lang Alexeis Kindermädchen, und als man schließlich auf ihre Dienste verzichtete, hatte das nichts mit Rasputin zu tun – Alexei war einfach alt genug und brauchte kein Kindermädchen mehr. Vielleicht wollte Zanotti mit ihrer Behauptung bloß unterstreichen, wie viel Macht Rasputin am Hof hatte.18 Valentina Tschebotarjowa, die während des Ersten Weltkriegs im Palastspital von Zarskoje Selo arbeitete und Maria Wischnjakowa persönlich kannte, schrieb kurz nach der Februarrevolution in ihr Tagebuch, seit dem „schrecklichen Drama“ bei den Rasputins in Pokrowskoje sei Wischnjakowa nie wieder die Alte gewesen. Es ist unklar, ob Tschebotarjowa dies aus erster Hand wusste oder einfach irgendwelchen Klatsch nachplapperte. Auf jeden Fall war Maria 1917 alles andere als glücklich, dass sie ihr bisheriges Leben aufgeben musste und einem Kloster beigetreten war. Auf Tschebotarjowas Frage, ob sie Alexei noch lieb habe, antwortete sie: „Mehr als je zuvor!“19

*

Was auch immer zwischen Rasputin und Wischnjakowa vorgefallen war: Zweifellos waren Rasputins Besuche im Frühjahr 1910 Gesprächsthema Nummer eins und der Anlass für Konflikte. Aus Rasputins eigenen Briefen an die Kinder wissen wir, dass er sie öfter in ihren Zimmern aufsuchte, dass er mit ihnen spielte und sogar recht wild herumtobte. So schrieb er im Februar 1909: „Meine lieben, goldenen Kinderchen, ich bin bei Euch. Mein süßer kleiner Alexejuschka und ihr anderen Kinderchen, ich bin bei Euch und erinnere mich oft daran, wie wir im Kinderzimmer zusammen auf dem Bett lagen. Ich bin bei Euch. Ich werde bald wieder zu Euch kommen.“ Er schickte ihnen auch kurze Mitteilungen über die Bedeutung von Glaube und Liebe und betonte, dass man ohne Einschränkung auf Gott vertrauen müsse: „Was zählt, ist nicht Macht, es sind Glaube und Liebe. […] Die Wege des Herrn sind unergründlich; auch wenn die Dinge schlecht zu stehen scheinen, wird schließlich doch wieder alles gut und heilig.“20 Oft schwärmte er davon, wie schön die Natur sei, wie in diesem Brief an Maria: „Meine liebe Perle, M.! Sag mir, wie Du mit dem Meer und der Natur sprichst! Ich vermisse Deine einfache Seele. Wir sehen uns bald. Ich küsse Dich aus der Tiefe meines Herzens.“

Als Alexandra einmal krank war, versuchte er, die Kinder und Nikolaus zu trösten: „Meine süßen Kinder, […] kleine Engel schützen Euch, und Gott ist mit Eurer Mama in ihrem Bett. Sie ist fröhlich, aber wir leiden, weil wir nicht mit den Augen Gottes sehen, sondern mit unseren. Mama liegt mit Engeln im Bett und frohlockt, aber wir sind in Trauer. Papa, verlier nicht den Mut! Mama geht es gut, und sie ist erwachsen. Geduldet Euch nur eine Weile, und es geht ihr wieder gut.“ Was Alexandra betrifft, so schrieb sie Olga Anfang 1909 einmal, dass Gott uns Krankheiten sende, habe „einen Grund“. Das müssten wir uns nur klarmachen und darauf vertrauen, dass alles wieder gut werde, wenn Gott der Ansicht sei, es sei an der Zeit dafür. Daher müssten wir alle Geduld haben. Dennoch, so fügte sie hinzu, könnten sie bald wieder „sehr fröhlich“ sein – sobald „unser Freund“ wieder da sei.21

Wie in seinen Briefen an die Eltern unterteilte Rasputin auch in denen an die Kinder die Welt in wahre Christen und deren Feinde, in ein „wir gegen sie“ („die ganze Welt flucht, aber wir verstecken uns unter der Hand Christi – unter der Liebe“), predigte aber immer auch Toleranz für alle anderen Religionen („jeder Glaube kommt vom Herrn, man darf niemals einen anderen Glauben kritisieren“). Manche Briefe waren reinste Lobgesänge auf „Olja“ – so sein Kosename für Alexei –, wie dieser hier aus dem Frühjahr 1909:

Olja wird mit ihnen triumphieren, weil Olja genau ihrem Beispiel folgen wird, denn er ist kein gewöhnliches irdisches Wesen. Es hat noch nie so einen Zaren gegeben, und das wird es auch nie wieder. Sein Blick ähnelt dem Peters des Großen – auch wenn Peter sehr klug war, war das, was er tat, aber übel, um nicht zu sagen: primitiv […]. Aber Euer Olja lässt nicht zu, dass jemand, der etwas Schlechtes tut, auch nur in seine Nähe kommt, es sei denn als abschreckendes Beispiel. […] Ich bewahre Alexei in meiner Seele. Möge Gott ihn wachsen lassen wie eine Zeder im Libanon, und möge er Früchte tragen, sodass sich ganz Russland an dieser Frucht freuen darf.22

Rasputin bestärkte Alexei darin, Kraft im Leben Christi zu finden:

Mein lieber Kleiner! Schau dir unseren lieben Gott an, sieh seine Wunden! Einmal hat er geduldig gelitten, und dann wurde er stark und allmächtig. Und so auch Du, mein Lieber, und so wirst auch Du fröhlich sein, und wir werden zusammen leben.23

Manchmal schickte er auch den Mädchen einzelne Briefe, so an Olga im Jahr 1909:

Die Ruhe Gottes – wir lieben Gott, und diese Liebe ist sanft. Olga, bete, damit sein Licht über Deinem Haus scheint und Dir Freude bringt.

Die Bettler sind freundlich, und ihre Freude ist unermesslich. Wir sind alle Bettler, aber derjenige, der sich selbst nicht als Bettler sieht, ist ein Folterknecht und beschert sich selbst die Hölle auf Erden. Er ist noch nicht gestorben und beschert sich doch die Hölle auf Erden.

Etwa zur selben Zeit schrieb er an Maria:

Ma, meine Liebe, fürchte Dich nicht vor den Feinden, denn Gott und ich sind bei Dir. Aus diesem Grund sind sie wütend und die Heiden halten sich fern, und Du wirst immer ein schönes Mädchen sein, und daher wirst Du Frieden finden. Keine Geräusche, nur Gott. Wer an Gott denkt, der hat keine Angst vor mir. Wer Gott vergisst und Angst vor den Menschen hat, für den ist Gott keine Festung.24

Einige seiner Briefe an Tatjana sind ebenfalls erhalten:

Tanja, Tanja, wo, wo ich zu Hause bin, in Pokrowskoje, sehe ich Dich, meine kleine Freundin. Du hast mir nicht laut genug zugerufen, ich habe Dich nicht gehört und Deine Telegramme nicht erhalten. Aber meine Freundin, meine Freundin, ich vermisse Dich. Unser kleiner Gott ist im Himmel, und Du bist auf der Krim, Du bist weit weg. Der liebe Gott ist mit uns und in uns, und wir sehen ihn nicht. Aber bald wird es geschehen, und unser lieber kleiner Gott wird zu uns kommen […].

Liebe kleine Freundin, nach wie vor bin ich bei Dir, auch in diesem Moment bin ich in meinen Gedanken bei Dir. Dein Leben läuft über vor Liebe, es nährt die Hoffnung auf den höchsten Schöpfer, der Herr sei mit Dir.

Dein Tag wurde aus Liebe ausgewählt, und die Engel frohlocken. Möge Dir die Liebe als Festung dienen.25

Alexandra hatte volles Vertrauen in Rasputin und in seinen positiven Einfluss auf die Kinder. Sie schrieb einmal an Olga, ihre älteste Tochter: „Vor allem denke immer daran, den Kleinen ein gutes Vorbild zu sein, nur dann wird unser Freund mit Dir zufrieden sein.“26 Hin und wieder gingen Nikolaus und Alexandra mit Rasputin in den Flügel des Palastes, wo sich die Zimmer der Kinder befanden, um nach ihnen zu sehen. Mindestens bei einer Gelegenheit saß Rasputin längere Zeit ganz alleine mit Olga zusammen, worüber sich Alexandra ganz besonders freute. Und die Kinder freuten sich allem Anschein nach ebenfalls, wenn sie ihn sahen. Am 25. Juli 1909 schrieb Olga ihrem Vater, der gerade auf Reisen war, wie sehr sie und die anderen sich auf „Grigori“ freuten: „Wir sind alle so glücklich, dass wir ihn endlich wiedersehen.“27

Der letzte Chef der Petrograder Ochrana, Generalmajor Konstantin Globatschow, der für Rasputins Überwachung zuständig war, hielt fest, dass dessen Beziehungen zur Zarenfamilie stets „höchst angemessen“ seien – aber das war unerheblich, denn der Schein überwog alles andere.28 Mit der Zeit wurden die Gerüchte immer übler und hässlicher und im Grunde auch unglaubwürdiger. 1912 schrieb die sozialrevolutionäre Zeitung Für das Volk!, Rasputin habe versucht, Olga zu missbrauchen, doch die Palastwache hätte ihn daran gehindert.29 Während des Krieges erzählte man sich immer wieder, Rasputin habe die Mädchen vergewaltigt. Das Gerücht war so verbreitet, dass sogar Leute es glaubten, die es eigentlich besser hätten wissen müssen. Ein russischer General notierte in seinem Tagebuch, er habe gehört – und halte es persönlich nicht für unmöglich –, dass Großfürstin Tatjana von Rasputin schwanger sei.30

Tjutschewa wusste ganz genau, dass solches Gerede Unfug war. Dennoch war sie nicht damit einverstanden, dass Rasputin ungehinderten Zugang zu den Kinderzimmern hatte. Es schien ihr nicht angemessen, dass dieser umstrittene Bauer einfach so in die Privatgemächer der Zarentöchter spazieren durfte. Immerhin waren die Mädchen schon fast junge Damen, deren Ruf (und Körper) man um jeden Preis hüten musste. Und da hatte sie durchaus recht. Nachdem sie von Wischnjakowa gehört hatte, was in Pokrowskoje vorgefallen war, hatte Tjutschewa keine andere Wahl mehr: Sie musste einschreiten. Alexandra wollte nichts von dem hören, was Tjutschewa ihr zu sagen hatte, doch der Zar zeigte sich offener und ließ sie schon am nächsten Tag zu sich kommen. Später berichtete Tjutschewa der Außerordentlichen Untersuchungskommission von ihrem Treffen. Als sie das Zimmer betrat, empfing Nikolaus sie mit den Worten:

Sofia Iwanowna, du kannst dir schon denken, weshalb ich dich habe kommen lassen. Was geht in den Kinderzimmern vor? Daraufhin erzählte ich ihm alles, was passiert war. Du glaubst also auch nicht an die Heiligkeit von Grigorij? fragte der Kaiser. Ich verneinte, worauf der Kaiser sagte: Und was, wenn ich dir sage, daß ich all diese schwierigen Jahre nur dank seiner Gebete überstanden habe? Überstanden haben Sie sie dank der Gebete des ganzen russischen Volkes, Majestät, gab ich zur Antwort. Worauf der Kaiser sagte, daß seiner Überzeugung nach alles eine Lüge wäre, daß er nicht an diese Geschichten über R. glaube und daß der Reine stets den Schmutz auf sich ziehe.31

Sofia gab zurück:

„Eure Majestät, Sie haben ein zu reines Herz und merken nicht, welcher Schmutz Sie umgibt.“ […] „Bin ich etwa der Feind meiner Kinder?“, entgegnete der Herrscher.

Er bat mich, in Gesprächen Rasputins Namen niemals zu erwähnen. Dafür bat ich den Kaiser, es so einzurichten, dass Rasputin niemals mehr im Kindertrakt auftauchen würde. Zuvor hatte mir die Zarin gesagt, nach 6 Uhr abends hätte ich frei, wie um anzudeuten, dass mein Besuch bei den Kindern nach dieser Zeit unerwünscht sei. Nach dem Gespräch mit dem Kaiser war ich stets zu allen Zeiten im Kindertrakt. Aber die Entfremdung zwischen mir und der Familie wuchs.32

Sofia unterhielt sich auch weiterhin mit Freunden und Bekannten ganz freimütig über Rasputin und streute das eine oder andere Gerücht. Wyrubowa erinnerte sich später an einen Besuch bei Verwandten in Moskau, die sich bei ihr erkundigten, ob es stimme, dass Rasputin fast jeden Tag im Palast sei und sogar die Kinder bade. Sie war fassungslos und wollte wissen, wo sie so einen Unsinn gehört hätten, und ihre Verwandten sagten: von Tjutschewa höchstpersönlich. Tjutschewa stammte aus einer alten Moskauer Adelsfamilie und war auf Empfehlung von Alexandras Schwester Ella, einer Erzfeindin Rasputins, an den Hof gekommen. Dank dieser Verbindungen wurde Moskau zu einem wichtigen Zentrum der Opposition gegen Rasputin – und somit später auch gegen Nikolaus und Alexandra. Im März 1910 zum Beispiel schrieb Ella an Nikolaus: „Nicht alle, die heilig scheinen, sind es auch.“ Natürlich war Rasputin gemeint.33

Wyrubowa beharrte darauf, dass Tjutschewa auch noch nach ihren Gesprächen mit Nikolaus und Alexandra Intrigen gesponnen und am Hof und innerhalb der Zarenfamilie Misstrauen gesät habe. Sie habe Skandale erfunden und die anderen Kindermädchen gegen Rasputin aufgewiegelt. Außerdem habe sie versucht, Angehörige des Personals im Palast von Alexandra zu entfremden, so wie es ihr mit Fürstin Obolenskaja gelungen war, einer langjährigen, treuen Ehrendame der Zarin. Angeblich beschwerten sich die Großfürstinnen bei ihrer Mutter über Tjutschewas Machenschaften, die nicht einmal davor zurückschrecke, sie gegen ihre eigene Mutter aufzuhetzen.

Die Gerüchteküche brodelte. Tjutschewa stilisierte sich als Opfer Rasputins, und viele glaubten ihr. Sie konnte nicht erkennen, dass ihre Erzählungen, die in der Sorge um die Mädchen begründet waren, gefährlichen Gerüchten Auftrieb gaben – Gerüchten, die Tjutschewa eigentlich hatte eindämmen wollen, als sie sich an Alexandra und Nikolaus gewandt hatte. Sie versuchte, den Menschen die Augen zu öffnen für die Gefahr, die Rasputin darstellte, doch paradoxerweise goss sie damit bloß Öl ins Feuer. Wyrubowa schrieb, dieses ganze lächerliche Gerede über Rasputin und die Kinder sei auf Tjutschewa zurückzuführen, niemand sei mehr verantwortlich dafür, solchen „monströsen Klatsch“ über die Zarenfamilie zu verbreiten, als sie.34 Im Juni 1910 erzählte Radzig, der Kammerdiener des Zaren, im Salon der Bogdanowitschs herum, dass inzwischen jeder am Hof die Zarin hasse; sie wiederum sei wütend auf alle, die es wagten, schlecht über Rasputin zu reden. Tjutschewa und Wischnjakowa hätten das getan, so Radzig, und dafür habe die Zarin die beiden für zwei Monate fortgeschickt. Nun werde wohl Wyrubowa Tjutschewas Platz einnehmen. „Die armen Kinder!“, kritzelte Alexandra Bogdanowitsch in ihr Tagebuch.35

Lily Dehn, eine Freundin der Zarin, war der Ansicht, der ganze Skandal sei ausschließlich darauf zurückzuführen, dass sich die neidische Tjutschewa immer überall einmischen musste.36 Mit dieser Meinung stand sie jedoch ziemlich allein dar – für die meisten war Tjutschewa eine Heldin. Doch so gespannt die Beziehung zwischen Tjutschewa und der Zarin auch war: Sie blieb noch zwei Jahre lang die Gouvernante der Mädchen.

Als Tjutschewa in jenem Frühling mit dem Zaren über Rasputin sprach, erspähte sie auf Nikolaus’ Schreibtisch einen Brief von Feofan. Dies war offenbar das zweite Mal, dass er dem Zaren schrieb, um Rasputin zu denunzieren. In seinem Brief wiederholte Feofan die Behauptung vom Vorjahr, Rasputin sei der „spirituellen Selbsttäuschung“ verfallen. Diesmal fügte er noch hinzu, der Mann sei „sowohl im religiösen als auch im moralischen Sinne des Wortes ein Verbrecher“. Rasputin sei ein regelrechter „Wolf im Schafspelz“. Ursprünglich hatte Feofan Tjutschewa gebeten, Nikolaus diesen Brief auszuhändigen, doch sie hatte sich geweigert, schließlich hatte sie bereits genug Ärger, wie sie fand. Offenbar hatte das nun jemand anderes erledigt. Nikolaus teilte Tjutschewa mit, er sei schockiert von Feofans Worten, wo jener doch immer so für Rasputin geschwärmt habe.37

Feofan hatte neue Informationen erhalten, die nicht nur seinen Verdacht aus dem Vorjahr bestätigten: Alles war noch viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Die Details, die man ihm über Rasputin zugetragen hatte, waren – gepaart mit der Erkenntnis, dass weder der Zar noch die Zarin sich dazu herabließen, ihm zu glauben – ein solcher Schock für Feofan, dass er ernsthaft erkrankte und eine Gesichtslähmung erlitt.38 Bei diesen neuen Informationen handelte es sich um das schriftliche Geständnis von Chionija Berladskaja, die früher eine von Rasputins eifrigsten Jüngerinnen gewesen war. Nun nannte sie Rasputin einen Chlysten, einen sexbesessenen Wüstling und ein Opfer seiner eigenen „dämonischen Selbsttäuschung“. Detailliert beschrieb Berladskaja Rasputins gewalttätiges Wesen und legte dar, wie er Praskowja und andere Frauen in seiner nächsten Umgebung zu schlagen pflege und in seinem Haus in Pokrowskoje quasi wie Geiseln halte. Außerdem behauptete sie, Rasputin habe sie ein paar Jahre zuvor im Zug von St. Petersburg nach Pokrowskoje vergewaltigt. Der Bericht dürfte nicht allzu viele Wahrheiten enthalten, er erscheint reichlich ausgeschmückt und übertrieben, so als sei er auf eine gewünschte Wirkung hin formuliert. Wladimir Bontsch-Brujewitsch bezeichnete Berladskajas Geständnis als ein Sammelsurium aus Lügen und extremen Übertreibungen.39 Wenjamin hatte für Feofan eine Kopie des Berichts anfertigen lassen, das Original ging an den Metropoliten von St. Petersburg, Antoni (Wadkowski), der es seinerseits an den Zaren weiterleitete. Iliodor schreibt, Nikolaus habe Rasputin daraufhin zu sich bestellt, ihm das Notizbuch mit Berladskajas Geständnis vor die Nase gehalten und ihn gefragt, ob er es lesen solle oder nicht. Rasputin habe mit einer Gegenfrage geantwortet: ob der Zar in den Lebensbeschreibungen der Heiligen denn gerne jene Stellen lese, in denen sie verleumdet und verspottet werden. Nein, habe der Zar gesagt, ganz und gar nicht, und mit diesen Worten habe er das Notizbuch ins Kaminfeuer geworfen.40 Wie alles, was Iliodor schrieb, muss man auch diese Darstellung mit ziemlicher Skepsis betrachten.

Ein weiteres vernichtendes Zeugnis über Rasputin kam von einer gewissen Jelena Timofejewa, Absolventin einer kirchlichen Schule für Mädchen in St. Petersburg und Schwägerin von Wassili Spiridonow, einem örtlichen Geistlichen. Sie war eine von Rasputins ersten Anhängerinnen. Rasputin mochte Jelena sehr, er nannte sie seine „kleine Taube“, doch auf einmal verschwand sie von der Bildfläche. Es hieß, sie habe Feofan damals gebeichtet, von Rasputin und Lochtina missbraucht worden zu sein, und Feofan habe sie überredet, sich von Rasputin abzuwenden und in ein Kloster zu gehen. Wyrubowa erinnerte sich später an Jelena und sagte aus, sie sei in der Tat eine fanatische Anhängerin Rasputins gewesen, die sich später von ihm abgewandt habe – aber nicht, weil er übergriffig geworden sei, sondern weil er sie öffentlich in Verlegenheit gebracht hatte, wegen eines jungen Studenten, in den Jelena verliebt war. Was von alldem stimmt und was nicht, lässt sich nicht mehr feststellen.41

Als Nächstes versuchten Feofan und Wenjamin, Iliodor für ihre Kampagne zu gewinnen. Sie schrieben ihm von Berladskajas Geständnis und wiederholten, was Wischnjakowa ihnen erzählt hatte. Rasputin, hieß es in ihrem Brief, habe sich als „der leibhaftige Teufel“ gezeigt. Offenbar erfuhr Rasputin von ihren Bemühungen, Iliodor auf ihre Seite zu ziehen, und so schrieb er seinem Freund ebenfalls einen Brief: „Mein lieber Iliodoruschka! Schenke den Verleumdern keinen Glauben! Sie verbreiten nichts als Lügen über mich. Und weißt Du, warum? Aus Neid! Ich stehe der Zarenfamilie näher als sie. Der Zar und die Zarin lieben mich sehr und haben für die beiden nichts übrig. Deshalb erheben sie sich gegen mich, deshalb planen sie, mich zu stürzen. Glaube ihnen nicht! Diese Sünde wird ihnen zum Verhängnis werden.“42 Warum Iliodor Rasputin auch weiterhin gewogen blieb, wissen wir nicht. Iliodor schrieb später, er habe sich nur aus Angst vor dem, was Rasputin ihm antun könne, nicht an Feofan gehalten. Es kann aber genauso gut sein, dass er noch immer nicht davon überzeugt war, dass an den Vorwürfen, die man gegen seinen Freund erhob, überhaupt etwas dran war.43 Während des ganzen Jahres 1910, als es eine massive Pressekampagne gegen Rasputin gab, blieb Iliodor einer seiner wichtigsten Fürsprecher. Daran, dass er Rasputin für einen wahren Mann Gottes hielt, ließ er nicht den geringsten Zweifel aufkommen.

Im Mai berichtete die Zeitung Rede, dass Iliodor, nachdem Feofan und Wenjamin Rasputin angegriffen hätten, „inkognito“ nach St. Petersburg gekommen sei. Ihm sei es gelungen, Rasputins Ruf wiederherzustellen, zu einem Zeitpunkt, als jener in den Salons der Stadt schon nicht mehr willkommen gewesen sei. Der wütende Rasputin, schrieb die Zeitung, habe Feofan gedroht: „Dir werde ich’s zeigen, du lammfrommer Asket, dir werde ich’s zeigen! Ich werde dir den gebührlichen Respekt im Umgang mit dem Starez schon noch beibringen. Ich komme nach St. Petersburg zurück, und dann kann dich nichts und niemand vor mir retten.“44 Natürlich ist dieses Zitat frei erfunden. Höchstwahrscheinlich ist Iliodor auch gar nicht in die Hauptstadt gefahren, um sich für Rasputin einzusetzen.

Ganz unabhängig davon markierte diese Zeit den Höhepunkt von Iliodors bizarrer Karriere. Er hatte gerade in Zarizyn ein neues Kloster eröffnet, das nicht weniger als 7000 Pilgern Platz bot. Im Klosterladen wurden Billigschmuck und religiöse Souvenirs angeboten, unter anderem ein Bild mit dem Titel „Heiliges Russland“, das eine Christus-ähnliche Gestalt zeigte, in der man ohne allzu viel Fantasie Iliodor erkennen konnte. Er selbst fand, es sei an der Zeit, ihn heiligzusprechen, und viele Einwohner Zarizyns waren seiner Meinung. Zu seinen wütenden, hasserfüllten Predigten strömten nicht selten mehr als 10.000 Gläubige. Mitunter drohte er sogar damit, seine große Anhängerschaft zur Rebellion anzustacheln. Was er sich herausnahm, war kaum zu glauben. Iliodor hängte ein großes Porträt von Lew Tolstoi an die Wand und forderte seine Schäfchen auf, den „entarteten Atheisten“ im Vorbeigehen anzuspucken.45 Er hielt sich für unantastbar. Die Zukunft gehörte ihm.

Nachdem er bei Iliodor abgeblitzt war, wandte Feofan sich an Germogen. Er wusste natürlich, dass Germogen Rasputin unterstützte, doch mit den neuen Informationen hoffte Feofan, wie er schrieb, Germogen die Augen zu öffnen. Immerhin hatten die Erkenntnisse auch seine eigene Meinung über Rasputin komplett geändert. Als er von dieser Aktion Wind bekam, reiste Rasputin angeblich selbst nach Saratow, um sich persönlich mit Germogen zu treffen und ihn von der Haltlosigkeit der Vorwürfe zu überzeugen. Germogen sollte später behaupten, dass er erst nach diesem Treffen seine Haltung geändert habe. Endlich habe er erkannt, wer Rasputin wirklich sei, und fortan habe er ihn nicht mehr empfangen. Obendrein habe er versucht, auch Iliodor klarzumachen, was von Rasputin zu halten war (freilich vergebens).46 Anfang Juni berichtete die Presse darüber, dass sich Germogen von Rasputin abgewandt hatte, und legte ihm die Worte in den Mund: „In Wahrheit ist er der Sohn des Teufels.“47 Aber da freute sich die Presse zu früh. Seiner eigenen Darstellung der Ereignisse zum Trotz sollte Germogen erst Ende 1911 vollständig mit Rasputin brechen.

Sich öffentlich gegen Rasputin zu stellen, rang Feofan einiges an Zivilcourage ab. Im Namen dessen, was er für die Wahrheit hielt, setzte er seine guten Beziehungen zum Zar und zur Zarin aufs Spiel. Immerhin hatte Feofan für seine Ehrlichkeit keine großen Repressionen zu erleiden. Zwar wurde er noch im selben Jahr als Alexeis Beichtvater durch Vater Alexander Wassiljew ersetzt, doch er blieb noch bis 1914 der Beichtvater des Zarenpaars. Im November wurde Feofan zum Bischof von Tauride und Simferopol ernannt, und auch wenn man diese Ernennung hin und wieder als Strafversetzung interpretiert hat, war dies eindeutig nicht der Fall. Feofan und Alexandra blieben auch danach in Kontakt, und Feofan selbst sah seine neue Aufgabe nicht als Ausdruck der Ungnade – im Gegenteil: Der neue Posten auf der Krim zeigte vor allem, dass sich Nikolaus und Alexandra um Feofans Gesundheit sorgten. Das Petersburger Klima war doch recht extrem, im milden Süden würde es ihm deutlich besser gehen. Wenn die Kinder des Zaren später die Krim besuchten, sammelten sie im Wald besonders gesunde Beeren für Feofan, und er durfte mit dem Automobil des Zaren Ausflüge in die Berge unternehmen.

Feofan bemühte sich, die Wendung, die Rasputins Leben genommen hatte, nicht komplett seiner Persönlichkeit anzulasten. Für ihn waren noch weitere, wichtigere Kräfte am Werk.

Er war kein Heuchler, kein Schurke. Er war ein wahrer Mann Gottes, der aus dem einfachen Volk kam. Aber unter dem Einfluss der höheren Gesellschaft, die diesen einfachen Mann nicht verstehen konnte, ereignete sich eine schreckliche spirituelle Katastrophe, und er stürzte ab. Und die feinen Leute, die für diesen Absturz verantwortlich waren, sahen ihm mit einem frivolen Lächeln dabei zu. Die Oberen Zehntausend nahmen das alles überhaupt nicht ernst. Dennoch kann ein solcher Absturz – im spirituellen Sinne – ganz schwerwiegende Folgen haben.48

Mit anderen Worten: Rasputin war das Opfer. So sahen es später die meisten, die sich mit Rasputin beschäftigten – der einfache russische Bauer war durch den Kontakt mit der korrupten, europäisierten Elite der Hauptstadt verdorben worden. Und das ist tatsächlich nicht ganz von der Hand zu weisen.

Und die Erde wird zittern

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