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4. DAS LEIDEN DES MESSIAS

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Die Vorstellung des leidenden und sterbenden Messias war übrigens den Juden keineswegs unbekannt. Es mag belanglos sein, dass in der Apokalypse des Esra 1 vom Tode des Christus die Rede ist, da dieses Werk nach der Ansicht mancher erst im ersten Jahrhundert n. Chr. entstanden sein soll. Aber auch Deuterojesaia beschreibt während der Zeit des Exils den Auserwählten und Sendboten Gottes zugleich als den "leidenden Gottesknecht,", als eine Gestalt, die bereits erschienen, aber unbekannt und verachtet geblieben, die schmachvoll gestorben und begraben sei, aber wiederauferstehen werde, um die Herrlichkeit der göttlichen Verheißung zu erfüllen. 2 Das erinnert an die leidenden, sterbenden und wieder auferstehenden Götter Babylons und des ganzen Vorderasiens, an Thammuz, Mithra, Attis, Melkarth und Adonis, an den kretischen Zeus und den ägyptischen Osiris. Spricht doch übrigens auch der Prophet Sacharja von der geheimnisvollen Ermordung eines Gottes, über welche die Einwohner von Jerusalem ihre Klage erheben werden, "wie die war bei Hadad-Rimmon (Rammän) im Felde Megiddo", d. h. bei dem Tode des Adonis, einer der Hauptgestalten des syrischen Götterglaubens. 3 Und auch Ezechiel schildert 4 die Weiber von Jerusalem, wie sie vor dem Nordtor der Stadt sitzen und über den Thammuz weinen. Man war also schon im alten Israel mit den leidenden und sterbenden Göttern der Nachbarvölker wohl vertraut. Nun pflegt zwar der "Gottesknecht" des Jesaia für gewöhnlich auf das gegenwärtige Leiden und die zukünftige Herrlichkeit des Volkes Israel bezogen zu werden, und es ist kein Zweifel, dass der Prophet jene Vorstellung in diesem Sinne verstanden hat. Indessen hat Gunkel mit Recht hervorgehoben, dass bei der angeführten Stelle des Jesaia die Figur eines sterbenden und auferstehenden Gottes im Hintergrunde steht und die Beziehung auf Israel nichts weiter als die symbolische Umdeutung des wirklichen Schicksals eines Gottes darstellt. 5

Alljährlich schwinden die Kräfte der Natur dahin, um erst nach geraumer Zeit wieder zu neuem Leben zu erwachen. Bei allen Völkern pflegte dieser Vorgang, das Sterben, sei es der Natur im ganzen unter dem Einfluss der Winterkälte, sei es des Pflanzenwuchses unter den dörrenden Strahlen der Sommersonne, und ihr Wiedererwachen eine tiefe Erschütterung des Gemütes auszulösen. Man erblickte darin das Schicksal eines schönen jungen Gottes, dessen Tod man mit lebhaften Klagen, dessen Wiedergeburt oder Auferstehung man mit ausgelassenem Jubel begrüßte. Dabei pflegte mit der Feier jenes Gottes seit grauer Vorzeit ein Analogiezauber in der Form einer kultischen Darstellung seines Sterbens und Wiederauflebens verknüpft zu sein. Auf primitiver Kulturstufe, wo die Grenzen zwischen Geist und Natur noch fast unterschiedslos durcheinander liefen und der Mensch sich noch in einem innerlichen sympathischen Zusammenhange mit seiner natürlichen Umgebung fühlte, glaubte er, selbst einen Einfluss auf die Natur ausüben, ihr bei ihrem Wechsel zwischen Tod und Leben zu Hilfe kommen und den Verlauf der Geschehnisse im eigenen Interesse beeinflussen zu können. Dazu musste er diese nachahmen. "Nirgends", sagt Frazer, dem wir eine eingehende Untersuchung aller bezüglichen Vorstellungen und rituellen Gebräuche verdanken, "wurden diese Bemühungen beharrlicher und systematischer ausgeübt als in Westasien. Dem Namen nach waren sie an den verschiedenen Orten verschieden, im Wesen waren sie überall gleich. Ein Mensch, den die ungezügelte Phantasie seiner Verehrer mit den Gewändern und Attributen des Gottes ausstattete, gab sein Leben dahin für das Leben der Welt. Nachdem er aus seinem eigenen Körper einen frischen Strom von Lebensenergie in die stagnierenden Adern der Natur ergossen hatte, wurde er selbst dem Tode überliefert, bevor seine eigene dahinschwindende Kraft einen allgemeinen Verfall der Naturkräfte eingeleitet haben würde, und sein Platz wurde durch einen andern eingenommen, der, wie alle seine Vorgänger, das ewig wiederkehrende Drama der göttlichen Auferstehung und des göttlichen Todes spielte." 8 Noch in historischer Zeit wurde dieser Vorgang vielfach an lebenden Personen vollzogen, die früher die Könige des Landes oder Priester des betreffenden Gottes waren , dann aber durch Verbrecher ersetzt wurden. In anderen Fällen fand das Opfer des zum Gott erhöhten Menschen nur scheinbar statt, wie beim ägyptischen Osiris, beim persischen Mithra, phrygischen Attis, syrischen Adonis und tarsischen (ilizischen) Sandan (Sandes). Hier vertrat ein Bild des Gottes, eine Puppe oder ein heiliger Baumstamm die Stelle des "Gottmenschen". Doch weisen noch genug Anzeichen darauf hin, dass es sich in solchen Fällen nur um den Ersatz eines ursprünglichen Menschenopfers unter milderen Kulturformen handelt, wie denn z. B. der Name des Oberpriesters des Attis, der gleichfalls Attis, d. h. "Vater", hieß, die Opferhandlung seiner blutigen Selbstzerfleischung beim großen Fest des Gottes (vom 22. bis 27. März) und die hierbei vorgenommene Besprengung des göttlichen Bildes mit seinem Blute sich noch deutlich als eine spätere Abschwächung des früheren Brauches seines Selbstopfers zu erkennen gibt. 7 Mit der Vorstellung, die ersterbende Natur durch das Opfer eines Menschen neu zu beleben, war vielfach diejenige des "Sündenbocks" verknüpft. Der Geopferte repräsentierte nicht bloß den Gott für sein Volk, sondern vertrat auch zugleich das Volk gegenüber Gott und hatte durch seinen Tod die von jenem während des Jahres begangenen Missetaten zu sühnen. 8 Was aber die Todesart betrifft, so wechselte sie an den verschiedenen Orten zwischen dem Tode durch das eigene oder das Schwert des Priesters, den Scheiterhaufen oder das Marterholz (Galgen).

So verstehen wir das 53. Kapitel des Jesaia: "Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre, wie die Schafe, ein jeglicher sah auf seinen Weg; aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Da er gestraft und gemartert ward, tat er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut. Er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er um die Missetat meines Volkes geplagt war. Und er ist begraben, wie die Gottlosen, und gestorben, wie ein Reicher( !), obwohl er niemand Unrecht getan hat, noch Betrug in seinem Mund gewesen ist. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, so wird er Samen haben und in die Länge leben, und des Herrn Vornehmen wird durch seine Hand fortgehen. Darum dass seine Seele gearbeitet (gelitten?) hat, wird er seine Lust sehen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, viele gerecht machen, denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm viel Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben darum, weil er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleich gerechnet ist und er vieler Sünde getragen hat und für die Übeltäter gebeten." Wir haben es hier offenbar mit einem Menschen zu tun, der als Sündenbock für die Fehler seines Volkes stirbt, mit seinem Tode das Leben der übrigen befördert und dafür zum Gott erhöht wird, ja, das Bild des unschuldig leidenden Gerechten schwankt selbst zwischen einem göttlichen und einem menschlichen Wesen.

Und nun versetzen wir uns hinein in den Seelenzustand eines solchen Unglücklichen, der als "Gottmensch" den Tod am Marterholz erleidet, und wir vernehmen die Worte des 22. Psalms: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich heule, aber meine Hilfe ist fern. Mein Gott, des Tages rufe ich, aber du antwortest mir nicht, und des Nachts schweige ich auch nicht. Aber du bist heilig, der du wohnest unter dem Lobe Israels. Unsere Väter hofften auf dich, und da sie hofften, halfst du ihnen. Zu dir schrien sie und wurden nicht zuschanden. Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volks. Alle, die mich sehen, spotten meiner, sperren den Mund auf und schütteln den Kopf : Er klage es dem Herrn, der helfe ihm und errette ihn, hat er Lust zu ihm. Große Farren haben mich umgeben, fette Ochsen haben mich umringt. Ihren Rachen sperren sie auf wider mich, wie ein brüllender und reißender Löwe. Ich bin ausgeschüttet, wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt, mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet, wie ein Scherben, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen. Sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Ich möchte alle meine Gebeine zählen. Sie aber schauen und sehen ihre Lust an mir. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand. Aber du, Herr, sei nicht ferne, meine Stärke, eile mir zu helfen. Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern!" Die letzterwähnten Tiere versetzen uns in den Vorstellungskreis des Mazdeismus. Denn hier galt der Löwe als das Tier des Angromainyu, das sagenhafte Einhorn als dasjenige des Ahuramazda. Offenbar ist das Einhorn in dem angeführten Psalm nur ein bildlicher Ausdruck für den Galgen, an welchem das Opfer hängt, weshalb denn auch Tertullian als Beweis für die Vorher Verkündigung des schmählichen Todes des Messias am Marterholze auf jene Stelle des Alten Testamentes hinwies. 9 Als der Dichter des Psalms die Hilfsbedürftigkeit in ihrem tiefsten Jammer schildern wollte, da trat ihm das Bild eines Menschen vor die Augen, der am Holze hängt und zu Gott um Hilfe schreit, während rings um ihn das Volk sich an seinen Qualen weidet, die ihm selbst zur Rettung dienen sollen, die Priester mit ihren Opfertieren ihre feierlichen Verrichtungen ausüben ("Große Farren haben mich umgeben, fette Ochsen haben mich umringt") und die Knechte, die bei dem Opfer mitgewirkt haben, die kostbaren Gewänder untereinander verlosen, mit denen der Gottkönig ausgestattet war.

Die Anwendung eines solchen Bildes setzt voraus, dass der geschilderte Vorgang dem Dichter und seinem Publikum nicht unbekannt war, mochte er ihnen nun aus der religiösen Vorstellungswelt ihrer Nachbarvölker oder gar durch die eigene unmittelbare Anschauung einheimischer Gebräuche vor Augen stehen. Und in der Tat waren auch im alten Israel Menschenopfer durchaus nichts Ungewöhnliches. Das geht aus zahlreichen Stellen des Alten Testaments hervor und ist schon von Ghillany in seinem Buche über "Die Menschenopfer der alten Hebräer" (1842) und Daumer in "Der Feuer- und Molochdienst der alten Hebräer" (1842) eingehend auseinandergesetzt worden. So lesen wir in 2. Sam. 21, 6 — 9 von den sieben Söhnen aus dem Hause Sauls, die von David den Gibeon item übergeben wurden: "die hingen sie auf dem Berge vor dem Herrn. Also ward Gott nach diesem dem Lande wiederversöhnt." 10 Num. 25, 4 befiehlt Jahve dem Moses, die Obersten des Volkes "dem Herrn an die Sonne" zu hängen, "auf, dass der grimmige Zorn des Herrn von Israel gewendet werde." Und nach dem Buche Josua weiht dieser die Einwohner der Stadt Ai dem Herrn und erhängt nach der Eroberung der Stadt ihren König an einem Baum, 11 während er Kap. 10, 15 — 26 sogar fünf Könige auf einmal aufhängen lässt. Ja es scheint, dass Menschenopfer in der Zeit vor dem Exil sogar zu den regelmäßigen Bestandteilen der israelitischen Religion gehört haben, wie denn die Sitte der Opferung der Erstgeburt am Passahfeste erst nach dem Exil und auch dann nur mit großer Mühe unterdrückt wurde und jederzeit leicht wieder aufleben konnte, sobald etwa in Zeiten großer Not die allgemeine Erregung der Gemüter ein besonderes Opfer zu fordern schien. 12

Nun war die Tötung eines Menschen in der Rolle eines göttlichen Herrschers im Altertume vielfach mit der Feier des neuen Jahres verknüpft. Hierher gehört die germanische und slawische Sitte des Todaustragens zu Beginn des Frühlings, wo ein Mensch oder eine Strohpuppe, die das alte Jahr oder den Winter symbolisieren, unter übermütigen Scherzen umhergeführt und schließlich ins Wasser geworfen oder feierlich verbrannt wird. Aber auch die im Dezember gefeierten römischen Saturnalien, während welcher ein Narrenkönig das Zepter über eine Welt jubelnder Ausgelassenheit und uneingeschränkter Tollheit schwang, alle Verhältnisse auf den Kopf gestellt waren, die Herren die Rolle der Sklaven und umgekehrt spielten, pflegten in ältester Zeit im März als Frühlingsfest begangen zu werden. Und auch hierbei musste der Gefeierte seine kurze Herrschaft ursprünglich mit seinem Leben bezahlen. Ja, die von Cumont herausgegebenen Akten des hl. Dasius beweisen, dass der blutige Brauch noch im Jahre 303 n. Chr. von den römischen Soldaten an den Grenzen des Reiches ausgeübt wurde. 13

In Babylon entsprach den römischen Saturnalien das Fest der Sakaeen, das nach Frazer mit dem uralten Neujahrsfest der Babylonier, dem Zakmuk oder Zakmuku identisch war. Auch dieses war mit einer Umkehrung aller gewöhnlichen Verhältnisse verbunden, und ein Scheinkönig, ein zum Tode verurteilter Verbrecher, stand auch hier im Mittelpunkte, ein Unglücklicher, dem für wenige Tage absolute Freiheit, jede Art von Lustbarkeit, ja, sogar die Benutzung des königlichen Harems eingeräumt war, bis er am letzten Tage seiner erborgten Würde entkleidet und verbrannt wurde. 14 Die Juden lernten dieses Fest während der babylonischen Gefangenschaft kennen, entlehnten es von ihren Unterdrückern und feierten es kurz vor ihrem Passah unter dem Namen des Purimfestes, angeblich, wie das "Buch Esther" es darzulegen bemüht ist, zur Erinnerung an eine große Gefahr, der sie durch die Klugheit der Esther und ihres Oheims Mardachai in Persien unter der Regierung des Ahasverus (Xerxes) entgangen seien. Indessen hat Jensen in der Wiener "Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes" 15 nachgewiesen, dass der Erzählung von Esther ein Gegensatz zwischen den Hauptgöttern von Babylon und denjenigen des feindlichen Elam zugrunde liegt. Hiernach verbergen sich unter den Namen Esther und Mardachai die Namen der babylonischen Fruchtbarkeitsgöttin Istar und ihres "Sohnes" und "Geliebten" Marduk, die zu Babylon beim Sakaeenfeste unter dem Namen der elamitischen Götter Vashti und Hamman (Humman) als Vertreter des alten Jahres beseitigt wurden, um unter ihrem wahren Namen wieder aufzuleben und das neue Jahr heraufzuführen. 16 So spielte also auch der babylonische Sakaeenkönig die Rolle eines Gottes und erlitt als solcher den Tod auf dem Scheiterhaufen. Nun haben wir Gründe, anzunehmen, dass auch der spätere jüdische Brauch, am Purimfeste ein Bild oder eine Puppe, die den bösen Haman darstellte, an einem Galgen aufzuhängen und zu verbrennen, ursprünglich, wie in Babylon, in der Tötung eines wirklichen Menschen, eines zum Tode verurteilten Verbrechers bestand. Dann wird man aber auch hier neben einem Darsteller des Haman einen solchen des Mardachai, neben einem Vertreter des alten auch einen solchen des neuen Jahres gekannt haben, der im Grunde doch nur dasselbe Wesen bedeutete. Und wenn jener beim Purimfest getötet wurde, so wird dieser, ein durch das Los ausgewählter Verbrecher, dem bei dieser Gelegenheit die Freiheit geschenkt wurde, mit den königlichen Insignien des Verstorbenen bekleidet und als der Vertreter des durch Ahasverus für seine Dienste belohnten Mardachai gefeiert worden sein.

"Mardachai", so heißt es im Buche Esther, "ging aus von dem Könige in königlichen Kleidern, gelb und weiß mit einer großen goldenen Krone, angetan mit einem Leinen- und Purpurmantel. Und die Stadt Susa jauchzte und war fröhlich." 17 Der Scharfsinn Frazers hat entdeckt, dass wir in dieser Beschreibung das Bild des alten babylonischen Sakaeenkönigs, des Darstellers des Marduk, vor uns haben, wie er seinen Einzug in die Hauptstadt des Landes hielt und hiermit das neue Jahr herbeiführte. Indessen scheint in Wirklichkeit der Umzug des Scheinkönigs doch weniger ernsthaft und großartig gewesen zu sein, als der 'Verfasser des Buches Esther in nationaler Eitelkeit uns glauben machen möchte. Lagarde hat nämlich die Aufmerksamkeit auf einen alten persischen Brauch gelenkt, der alljährlich zu Beginn des Frühlings in den ersten Tagen des März ausgeübt zu werden pflegte und als der "Ritt des Bartlosen" bekannt ist. 18 Bei dieser Gelegenheit nämlich wurde ein bartloser und womöglich einäugiger Hanswurst, völlig entkleidet und begleitet von einer königlichen Leibwache und einer Schar von Berittenen, unter dem Hallo der Menge in feierlichem Aufzuge durch die Stadt geleitet. Er hatte das Recht, von den Reichen und Ladeninhabern auf dem Wege, den er zog, Kontributionen einzutreiben, die teils in den Schatz des Königs abgeführt, teils auch ihm selber zugesprochen wurden, und durfte sich ohne weiteres das fremde Gut aneignen, falls jemand ihm seine Forderungen abschlug. Innerhalb einer festgesetzten Zeit jedoch musste er seinen Ritt beendet haben und verschwinden, widrigenfalls er sich der Gefahr aussetzte, von der Menge angehalten und mitleidslos zu Tode geprügelt zu werden. Man versprach sich von diesem Umzug des "Bartlosen" die baldige Beendigung des Winters und ein gutes Jahr, woraus hervorgeht, dass es sich auch hierbei um einen jener zahlreichen und mannigfaltig ausgestalteten Frühlingsbräuche handelt, die zu allen Zeiten und bei den verschiedensten Völkern dazu dienen, die Ankunft der guten Jahreszeit zu beschleunigen. Der persische "Bartlose" entsprach mithin dem babylonischen Sakaeenkönig und scheint der Repräsentant des scheidenden Winters gewesen zu sein. Frazer schließt hieraus, dass auch der Verbrecher, der die Rolle des jüdischen "Mardachai" spielte, in ähnlichem Aufzuge, wie der "Bartlose", durch die Stadt geritten sei und mit diesem Spaße, den er dem Volk bereitete, sich die Freiheit habe erkaufen müssen, und er stützt sich hierbei auf eine Bemerkung Philos, wonach bei Gelegenheit des Einzugs des jüdischen Königs Agrippa in Alexandria ein armer halbverrückter Straßenkehrer nach Art des "Bartlosen" auf einen Esel gesetzt, mit einer Papierkrone auf dem Kopfe, einem Mantel umgetan und einem Stock als Zepter in der Hand, vom Pöbel durch die Stadt geleitet und feierlich zum König ausgerufen wurde. 19

Philo nennt den armen Tropf Carabbas. Das scheint jedoch nur ein Schreibfehler für das hebräische Barabbas zu sein, und dieses bedeutet so viel wie "Sohn des Vaters", war demnach kein Eigenname, sondern der ständige Titel desjenigen, der beim Purimfeste die Rolle des Mardachai, des babylonischen Marduk, d. h. des neuen Jahres, zu spielen hatte. Da klingt der ursprünglich göttliche Charakter des jüdischen Narrenkönigs an. Denn als die "Söhne" des göttlichen "Vaters" erlitten alle die vorderasiatischen Vegetations- und Fruchtbarkeitsgötter den Tod und mussten die menschlichen Vertreter dieser Götter ihr Leben für das Wohl ihres Volkes und das erneute Wachstum der Natur dahingehen. 20 Es scheint demnach, als ob bei den Juden, entsprechend ihrem Aufenthalt in Babylon unter persischer Oberherrschaft, eine Art Verschmelzung des babylonischen Sakaeenfestes und des persischen Festes des "Bartlosen" stattgefunden habe: der freigelassene Verbrecher vollzog seinen Umzug als Marduk (Mardachai), als der von den Toten auferstandene Repräsentant des neuen Lebens, aber er tat es in der lächerlichen Rolle des persischen "Bartlosen", d. h. des Vertreters des alten Jahres, während dieses gleichzeitig durch einen anderen Verbrecher dargestellt wurde, der als Haman den Tod am Galgen erleiden musste. Den Evangelisten schwebte bei ihrer Darstellung der letzten Lebensschicksale des Messias Jesus der angeführte Brauch des jüdischen Purimfestes vor: sie schilderten Jesus als den Haman, Barabbas als den Mardachai des Jahres, wobei sie um der Symbolik des Opferlammes willen das Purimfest mit dem wenig später gefeierten Osterfest zusammenfallen ließen; aber sie übertrugen den festlichen Einzug des "Bartlosen" in Jerusalem, sein feindseliges Auftreten gegen die Ladeninhaber und Wechsler und seine lächerliche Krönung zum "König der Juden" auf Haman

Jesus statt auf Mardachai-Barabbas und nahmen damit symbolisch die Geschehnisse vorweg, die sich eigentlich erst an dem Auferstandenen, dem Marduk des neuen Jahres, hätten vollziehen sollen. 21

Übrigens war, wie die Darbringung der Erstlinge an diesem Feste verrät, auch das jüdische Passahfest von Anfang an mit Menschenopfern verbunden, und es scheint, dass auch hierbei die Geopferten in der Rolle von göttlichen Königen, als Repräsentanten des Himmelherrschers den Tod erlitten. Darauf deutet u. a. der Umstand hin, dass es "Könige 41 gewesen sein sollen, die nach den Büchern Josua und Samuel dem Herrn "geweiht" wurden, ja, von den sieben Söhnen aus dem Hause Sauls heißt es geradezu, dass sie "zur Zeit der Gerstenernte", d. h. des Passahfestes, "vor dem Herrn" starben. 22 Ein solches Opfer eines wirklichen oder angeblichen Königs besaß nach der Ansicht aller semitischen Völkerschaften eine ganz besonders zauberische Kraft, zumal wenn es der eigene Vater war, der dies Opfer an seinem Erstgeborenen vollzog. Darum opferte der Karthager Hamilkar bei der Belagerung von Agrigent 407 v. Chr. seinen eigenen Sohn, und darum gaben die Israeliten ihre Eroberung von Moab auf, als der König dieses Landes seinen Erstgeborenen den Göttern darbrachte. 23 Aber auch hierbei scheint das menschliche Opfer vielfach nur die Widerspiegelung eines göttlichen Opfers gewesen zu sein, wie denn z. B. nach Plinius die Phönizier in Tyrus bis zur Zeit der Belagerung der Stadt durch Alexander alljährlich einen Knaben dem Kronos, d. h. Melkarth oder Moloch (König), opferten. 24 Dieser tyrische Melkarth aber ist derselbe, dem, wie Porphyrius berichtet, zu Rhodos alljährlich ein Verbrecher dargebracht wurde. Nach Philo von Byblos hieß der Gott bei den Phöniziern "Israel" und sollte seinen "eingeborenen" Sohn Jehud, d.h. "der Einzige", geopfert haben, nachdem er ihn mit königlichen Gewändern ausgestattet hatte. 25 So opferte auch Abraham seinen Erstgeborenen dem Jahve; er und Isaak aber sind alte israelitische Götter, und der in Gen. Kap. 22 geschilderte Vorgang hat nur den Zweck, den mit fortschreitender Kultur vollzogenen Übergang vom Menschenopfer zum Tieropfer "historisch" zu rechtfertigen. —

Der jüdische Vertreter des Ha man erlitt beim Purimfeste den Tod wegen eines Verbrechens, als eine verdiente Strafe, die ihm so wie so zuteil geworden wäre. Der Messias-Jesus hingegen nahm nach den Worten des Jesaia die Strafe auf sich als "Gerechter"; er sollte dadurch zum Sühnopfer für die Sünden des ganzen Volkes befähigt sein, weil gerade er ein solches Los am allerwenigsten verdiente.

Schon Plato hatte in der "Republik" das Bild des "Gerechten" entworfen, wie er unerkannt und ungeehrt ein Leben in Leiden und Verfolgung führt. Er wird erprobt auf seine Gerechtigkeit hin und erklimmt die höchste Stufe dieser Tugend, indem er sich trotzdem nicht in seinem Verhalten erschüttern lässt. "Der Gerechte wird gegeißelt, gefoltert, ins Gefängnis geworfen, an beiden Augen geblendet, schließlich, wenn er alles Schlimme erduldet hat, gepfählt werden und erkennen, dass man sich entschließen muss, nicht gerecht zu sein, sondern zu scheinen." In der pharisäischen Gedankenwelt lebte der Gerechte als derjenige, der durch sein eigenes ungerechtes Leiden die Sünden der übrigen bezahlt und sie vor Gott gerecht macht, wie denn z. B. im IV. Makkabäerbuch das Blut der frommen Märtyrer als das Sühnopfer hingestellt wird, wodurch Gott Israel errette. Der Hass der Ungerechten und Gottlosen gegen den Gerechten, die Belohnung des Gerechten und Bestrafung der Ungerechten war ein beliebtes Thema der Spruchliteratur und wurde mit besonderer Ausführlichkeit im Weisheitsbuch behandelt, dessen alexandrinischer Verfasser mit dem platonischen Bilde des Gerechten vermutlich nicht unbekannt gewesen ist. Er lässt die Gottlosen redend auftreten und ihre Anschläge wider den Gerechten schmieden: "So lasst uns", lässt er sie sagen, "den Gerechten auflauern, denn er macht uns viel Unlust und widersetzt sich unserm Tun und schilt uns, dass wir wider das Gesetz sündigen, und ruft unser Wesen für Sünde aus. Er gibt vor, dass er Gott kenne, und rühmt sich, Gottes Kind zu sein. Er straft, was wir im Herzen haben, und ist uns unleidlich anzusehen. Denn sein Leben reimt sich nicht mit dem der andern, und sein Wesen ist ein ganz anderes. Er hält uns für untüchtig und meidet unser Tun als einen Unflat und gibt vor, wie es die Gerechten zuletzt gut haben werden, und rühmt, dass Gott sein Vater sei. So lasst uns doch sehen, ob sein Wort wahr sei, und versuchen, was für ein Ende er nehmen wird. Ist der Gerechte Gottes Sohn, so wird er ihm helfen und ihn erretten aus der Hand der Widersacher. Mit Schmach und Qual wollen wir ihn stocken, dass wir sehen, wie fromm und erfahren, wie geduldig er sei. Wir wollen ihn zum schändlichsten Tode verdammen. Da wird man ihn kennen an seinen Worten." 26 "Aber der Gerechten Seelen", fährt der Verfasser des Weisheitsbuches fort, "sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an. Von den Unverständigen werden sie angesehen, als stürben sie. Ihr Abschied wird für eine Pein gehalten und ihre Hinfahrt für ein Verderben. Aber sie sind im Frieden. Ob sie gleich vor den Menschen viel Leid haben, so sind sie doch gewisser Hoffnung, dass sie niemals sterben. Denn Gott versucht sie und findet, dass sie seiner wert sind. Er prüft sie, wie Gold im Ofen, und nimmt sie an, wie ein völliges Opfer. Und zu der Zeit, wenn Gott es bestimmt, werden sie hell erscheinen und daher fahren, wie Flammen über die Stoppeln. Sie werden die Gottlosen richten und herrschen über die Völker, und der Herr wird über sie herrschen ewiglich." 27 Wie nahe lag es nicht, diese Worte, die vom Verfasser des Weisheitsbuches ganz allgemein vom Gerechten überhaupt gemeint waren, auf den einen höchsten Gerechten, den Messias, den "Sohn" Gottes im eminenten Sinne zu beziehen, der sein Leben für die Ungerechtigkeit seines Volkes dahingab? Geschah aber dies, dann war damit auch zugleich der Beweggrund für den schimpflichen Tod des Messias gefunden: er starb als ein Gegenstand des Hasses der Ungerechten, er nahm Spott und Hohn auf sich, wie der Haman und der Barabbas des Purimfestes, aber nur um durch diese tiefste Erniedrigung seiner Persönlichkeit von Gott erhöht zu werden, wie es vom Gerechten im Weisheitsbuche heißt: "Das ist der, mit dem wir unsern Spott trieben, und der uns ein höhnisches Beispiel war. Wir Narren hielten sein Leben für unsinnig und sein Ende für eine Schmach. Wie ist er nun gezählet unter die Kinder Gottes, und sein Erbe ist unter den Heiligen!" 28

Jetzt verstehen wir, wie das Bild des Messias bei den Juden zwischen einem göttlichen und einem menschlichen Wesen schillern, wie der "Gerechte unter die Übeltäter gezählt" werden, wie mit einem Menschen sich die Vorstellung verknüpfen konnte, dass er "Gottes Sohn" und zugleich der "König der Juden" sei und die Annahme sich zu bilden vermochte, dass in seinem schimpflichen und unverdienten Tode Gott selbst sich für die Menschheit geopfert habe. Jetzt begreifen wir aber auch zugleich, dass und warum der Getötete nach kurzer Zeit wieder von den Toten auferstehen, in verklärter Herrlichkeit gen Himmel fahren und sich droben mit dem Vatergott vereinigen musste. Es waren Gedanken, die schon lange vor dem evangelischen Jesus im jüdischen Volk, ja, im ganzen westlichen Asien verbreitet waren, in besonderen Sekten als Geheimlehre gepflegt und die hauptsächlichste Veranlassung dafür wurden, dass gerade in diesem Teile der alten Welt das Christentum sich so früh und mit so außerordentlicher Schnelligkeit verbreitet hat.

Fußnoten

1 Kap. 7, 29.

2 Jes. Kap. 53.

3 Kap. 12, 10 ff. Vgl. Movers: Die Phönizier. 1841, I. 196.

4 Kap. 8, 14.

5 a. a. O. 78.

6 Frazer: The golden bough 1900, II, 196 f.

7 Frazer: Adonis, Attis, Osiris 1906, 128ff.

8 The golden bough III, 120 f.

9 Adversus Judaeos II.

10 Ebd. 14

11 a. a. Ö. 8, 24-29.

12 J. M. Robertson: Pagan Christs, 140-148.

13 Golden bough III, 138-146.

14 Movers: Die Phönizier, Bd. I, 480 ff.

15 VI, 47ff., 200ff.

16 Vgl. Gunkel: Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit 1895, 309ff.

17 Kap. 8, 15. Vgl. auch 6, 8 u. 9.

18 Abhandlungen d. Kgl. Ges. d. Wissenschaften zu Göttingen XXXIV.

19 Vgl. auch P. Wendland: Ztschr. Hermes XXXIII, 1898, 175ff. und Robertson: a. a. O. 138, Anm. 1.

20 So wurde auch der phrygische Attis, dessen Name ihn selbst als den Vater" kennzeichnet, zugleich als der "Sohn", Geliebte und Gatte der Kybele, der mütterlichen Göttin, verehrt, schillert also gleichfalls zwischen einem Vatergott und höchstem Himmelskönig und dem göttlichen Sohne eines solchen.

21 Frazer: a. a. O. III, 138—200.

22 2. Sam. 21, 9, vgl. Lev. 23, 10 bis 14. 3

23 Könige 3, 27.

24 Hist. nat. XXXIV 4, § 26.

25 Erwähnt bei Eusebius: Praeparatio evangelica I, 10. Vgl. Movers: a. a. O. 303 f.

26 Kap. 2, 12—20.

27 Kap. 3, 1—8.

28 Kap. 5, 3-5.

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