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VORWORT

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Seitdem David Friedr. Strauß in seinem "Leben Jesu" (1835/36) zum ersten Mal es unternommen hat, die evangelischen Erzählungen und Wundergeschichten auf Mythen und fromme Dichtung zurückzuführen, will der Zweifel an einem geschichtlichen Jesus nicht zur Ruhe kommen. Schon Bruno Bauer hat in den vierziger Jahren, freilich mit noch unzulänglichen Mitteln, das Leben Jesu als eine freie Erfindung des Urevangelisten Markus nachzuweisen, die gesamte christliche Religion aus der stoischen und alexandrinisch gefärbten Bildung des zweiten Jahrhunderts zu erklären versucht und hierbei besonders dem Seneca einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung der christlichen Anschauungsweise zugeschrieben. Aber erst die allerjüngste Zeit hat, ermutigt durch die wesentlich negativen Ergebnisse der sog. kritischen Theologie, den Gegenstand energisch aufgenommen und ist hierbei zu immer kühneren und überraschenderen Resultaten gelangt.

In England hat John M. Robertson in "Christianity and Mythology" (1900), "A Short history of Christianity" (1902), vor allem aber in seinem ausgezeichneten, durchaus ernst zu nehmenden Werke "Pagan Christs, studies in comparative hierology" (London 1903) das evangelische Christusbild aus einer Mischung mythologischer Elemente des Heidentums und Judentums hergeleitet. In Frankreich haben Émile Burnouf ("La science des religions", 4. Aufl. 1885) und Hochart ("Etudes d'histoire religieuse" 1890) wichtiges Material zur Aufklärung der Ursprünge des Christentums beigebracht und die Existenz eines historischen Christus durch ihre Resultate stark erschüttert. In Deutschland hat der Bremer Pastor Kalthoff in seiner Schrift über "Das Christusproblem, Grundlinien zu einer Sozialtheologie" (1903) gemeint, die Entstehung der christlichen Religion ohne Zuhilfenahme eines geschichtlichen Jesus rein aus einer sozialen Bewegung der niederen Massen zur Kaiserzeit erklären zu können, und die Einseitigkeit dieser Auffassung nachträglich durch seine Schrift über "Die Entstehung des Christentums, neue Beiträge zum Christusproblem" (1904) zu heben unternommen. (Vgl. auch dessen Schrift "Was wissen wir von Jesus? Eine Abrechnung mit Professor Bousset" 1904). Und schließlich hat der Amerikaner William Benjamin Smith in seinem Werke "Der vorchristliche Jesus" (1906) ein so helles Licht auf eine Anzahl wichtiger Momente bei der Entstehung des Christentums geworfen und so manche Punkte aufgeklärt, die uns einen tieferen Einblick in den wirklichen Zusammenhang der Ereignisse gestatten, dass wir jetzt anfangen, in dieser Beziehung wirklich klar zu sehen.

Die offizielle Wissenschaft in Deutschland und besonders die Theologie ist von allen diesen Auslassungen bisher noch so gut wie gänzlich unberührt geblieben. Zu Robertson hat sie meines Wissens noch in keiner Weise ernsthaft Stellung genommen. Ihre spärlichen Zitate seiner "Pagan Christs" erwecken nicht den Eindruck, dass von einer wirklichen Kenntnis seiner Darlegungen bei ihr die Rede sein kann. Vollends aber ist sie über Kalthoff mit der Miene besserwisserischer Überlegenheit oder noch lieber mit stillschweigender Verachtung hinweggeschritten und auch einer gründlichen Auseinandersetzung mit Smith bis jetzt vorsichtig aus dem Wege gegangen. 1 Und doch hat ein so angesehener Theologe, wie Prof. Paul Schmiedel in Zürich, der das Smithsche Werk mit einer Vorrede versehen hat, eine solche Auseinandersetzung als eine "Pflicht aller auf wissenschaftlichen Sinn Anspruch machenden Theologen" seinen Kollegen ans Herz gelegt und dringend vor einer Unterschätzung der streng wissenschaftlichen Arbeit von Smith gewarnt! "Woher will man denn die Ruhe nehmen", hatte Schmiedel seinen theologischen Kollegen zugerufen, "bei seinen bisherigen Ansichten zu bleiben, wenn man nicht prüft, ob sie durch solche neue Aufstellungen nicht doch ganz oder teilweise untergraben sind ? Oder handelt es sich etwa um Nebendinge und nicht vielmehr um das, was für die meisten geradezu das Fundament ihrer ganzen christlichen Überzeugung bildet? Sind aber diese neuen Aufstellungen so völlig nichtig, so muss es doch ein Leichtes, ja, ein Vergnügen sein, dies zu beweisen."

Inzwischen mehren sich die Stimmen, die sich gegen die Existenz eines historischen Jesus aussprechen. In weiten Kreisen wächst der Zweifel an dem geschichtlichen Charakter des evangelischen Christusbildes. Populäre Tendenzschriften von der Art, wie die von Plange bearbeiteten Untersuchungen des Franzosen Jacolliot "Jesus ein Inder" (1898), müssen zur Befriedigung des Wissensdurstes dienen und verwirren die Ansichten mehr, als dass sie diese klären. In einer kleinen Schrift über "Die Entstehung des Christentums" (1905) hat Promus eine kurze Zusammenstellung des wichtigsten bezüglichen Materiales, freilich ohne eigene Durchbildung, geliefert und die Existenz eines historischen Christus bestritten. Und neuerdings hat besonders der jüngst verstorbene Jenenser Orientalist Karl Völlers in seinem verdienstlichen Werke über "Die Weltreligionen in ihrem geschichtlichen Zusammenhange" (1907) die Ansicht ausgesprochen, "dass gewichtige Gründe für diese radikale Mythendeutung sprechen und dass keine absolut entscheidenden Argumente für die Geschichtlichkeit der Person Jesu beigebracht werden können" (a.a.O. 163). Ja, ein anderer Orientalist, P. Jensen, hat in seinem Werke "Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur" (1906) sogar gemeint, wie die Hauptgeschichten des Alten Testamentes, so auch die ganze Lebensdarstellung Jesu in den Evangelien als bloße Abwandlungen des babylonischen Gilgamesch-Epos (um 2000 v.Chr.) und demnach als reine Sage nachweisen zu können.

Während so die Kritik der evangelischen Urkunden immer kühner fortschreitet und immer weniger von einem historischen Jesus übrig lässt, wächst in der religiösen Populärliteratur die Zahl der Werke ins Ungeheure, die auf Verherrlichung des Menschen Jesus abzielen und den Mangel an gesichertem historischem Material durch salbungsvolle Phrasen und den Brustton der Überzeugung zu ersetzen versuchen, ja die Schönrednerei, die sich in dieser Hinsicht breit macht, scheint umso mehr Anklang zu finden, mit je weniger historischem Gehalt sie arbeitet. Und doch ist die Wissenschaft als solche schon längst auf dem Punkte angekommen, wo der geschichtliche Jesus auch ihr unter den Händen zu entschwinden droht. Die jüngsten Ergebnisse auf dem Gebiete der orientalischen Mythologie und Religion, die Fortschritte der vergleichenden Religionsgeschichte, wie sich diese in England besonders an die Namen von Frazer und Robertson, in Deutschland an die Namen Winkler, Gunkel, Jensen usw. knüpfen, haben unsere Kenntnis der religiösen Zustände Vorderasiens in den letzten Jahrhunderten v. Chr. so sehr gefördert, dass wir keine Veranlassung mehr haben, uns für die Entstehung des Christentums allein auf die Evangelien und die übrigen Schriften des Neuen Testamentes zu verlassen. Die kritische und historische Theologie des Protestantismus hat selbst so tief in die Ursprünge der christlichen Religion hineingeleuchtet, dass die Frage nach der geschichtlichen Existenz Jesu alles Paradoxe, was ihr in den Augen vieler bisher noch angehaftet haben mag, verliert. Sie selbst hat keine Veranlassung mehr, sich darüber zu ereifern, wenn jemand diese Frage in einem ihr entgegengesetzten Sinne beantwortet. Im Gegenteil machen die bezüglichen Untersuchungen der Theologen auf den Unvoreingenommenen nur zu oft den Eindruck, dass die Verfasser die wahren Konsequenzen ihrer Ansichten nur nicht selbst auszusprechen wagen. Man fühlt sich an den Theologen Schweitzer erinnert, wenn dieser in seiner Schrift "Von Reimarus bis Wrede" (1906) der Hoffnung Ausdruck gibt, die Theologie werde" einmal (,quousquetandem, Catilina?) ganz ehrlich" (!) werden, jedoch hinzufügt, dies sei — eine "Prophezeiung auf die Zukunft" (a. a. O. 249).

Nun, wir Nichttheologen, die wir nichtsdestoweniger für die wahren Anfänge der christlichen Religion das größte Interesse haben, können nicht auf diese "Zukunft" warten. Der Verfasser der vorliegenden Schrift hat bis jetzt gehofft, es möchte unter den Historikern des Christentums selbst einer aufstehen und die Ergebnisse der bisherigen Evangelienkritik, die schon heute klar zutage liegen, ohne irgendwelche Vertuschung ziehen. Da diese Hoffnung sich nicht erfüllt hat, man vielmehr in theologischen Kreisen ruhig fortfährt, seine religiösen Ansichten aus der "Tatsache" eines historischen Jesus abzuleiten, ihn als den unüberschreitbaren Höhepunkt der religiösen Entwicklung des Individuums zu preisen, als ob nichts geschehen und die Existenz eines solchen Jesus durch die bezüglichen Untersuchungen der kritischen Theologie nur immer glänzender gerechtfertigt werde, so hat er geglaubt, mit seiner eigenen Ansicht, wie er sie seit langem aus den Schriften der Fachmänner gewonnen hat, nicht länger mehr zurückhalten zu sollen. Auf die Gefahr hin, von ihnen als ein unbefugter Eindringling in ihre Domäne zurückgewiesen zu werden, hat er die undankbare Aufgabe auf sich genommen, einmal alle Gründe zusammenzufassen, die schon jetzt gegen die Annahme eines historischen Jesus sprechen.

Der Theologie freilich kann man es nicht verdenken, wenn sie sich aufs äußerste gegen die Behauptung der rein fiktiven Beschaffenheit des Christusbildes der Evangelien sträubt, und wenn sie noch tausendmal besser begründet wäre, als dies schon gegenwärtig möglich ist. Die ganze Geschichte des Christentums muss umgeschrieben werden, alle bisherigen Darstellungen der Entwicklung der Kirche sind als falsch entwertet, wenn jene Behauptung zu Recht bestehen sollte. Aber für Theologen und solche, die da meinen, ohne einen historischen Jesus nicht auskommen zu können, ist diese Schrift auch nicht geschrieben, sondern an diejenigen unter den Gebildeten wendet sie sich, welche die Art, wie man diesen Gegenstand in wissenschaftlichen Kreisen zu behandeln pflegt, nicht ohne tiefe Beschämung, ja, Entrüstung gewahren können, die in dieser Angelegenheit klar sehen möchten, und welche die Zurückführung der gesamten Religion auf einen bloßen Geschichtsglauben, noch dazu von einer so zweifelhaften Beschaffenheit, wie es der Glaube an einen historischen Jesus unter allen Umständen sein und bleiben muss, als eine bedenkliche Verflachung und Veräußerlichung des religiösen Bewusstseins empfinden. Solange noch ein geschichtlicher Jesus als "einzigartige" religiöse Persönlichkeit und unumgänglicher Glaubensmittler gilt, ist jede Hoffnung auf eine "Weiterentwicklung" und Vertiefung der modernen religiösen Weltanschauung illusorisch. Unter der Herrschaft einer "Buchreligion", wie es das Christentum nun einmal ist, ist keine vorurteilslose Wissenschaft, keine freie Entwicklung des Gedankens, keine wahre Kultur im Sinne einer Übereinstimmung von Denken und Leben möglich. Darum ist es nicht bloß von wissenschaftlicher, sondern auch von ungeheurer praktischer Bedeutung, ob wir den Glauben an die Schrift auch weiterhin noch festhalten können oder nicht, und darum muss eine Beantwortung jener Frage sich mit Notwendigkeit zu einer Erörterung des religiösen Problems der Gegenwart überhaupt zuspitzen.

Dass eine Untersuchung über den geschichtlichen Wert der Evangelien bei dem Zustande der Überlieferung gegenwärtig auf abschließende Bedeutung noch keinen Anspruch erheben kann, ist selbstverständlich. Manches wird vielleicht immer dunkel bleiben, und ohne Hypothesen ist hier überhaupt nicht auszukommen. Aber ich bitte, zu bedenken, dass auch der theologische Glaube an die geschichtliche Wirklichkeit der im Neuen Testamente berichteten Geschehnisse trotz der Sicherheit und Selbstverständlichkeit, womit er sich zu geben pflegt, durchaus auf hypothetischem Grunde ruht. Ich selbst werde zufrieden sein, wenn man findet, dass meine Hypothesen zum mindesten nicht gewagter und unwahrscheinlicher sind als die hypothetischen Konstruktionen, deren sich die historische Theologie zur Aufrechterhaltung ihres Glaubens bedient. Keinesfalls aber möge man sich damit trösten, dass, wenn auch die eine oder die andere meiner hier vorgetragenen Ansichten widerlegt werden sollte, die Sache selbst damit abgetan sei. Die Leugnung eines historischen Jesus kann sich schon heute bei der fortgeschrittenen religionsgeschichtlichen Einsicht unserer Zeit auf so gute Gründe stützen, dass sie zum mindesten den gleichen Grad von Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen darf, wie die Art, in welcher die Anfänge des Christentums von theologischer Seite dargestellt zu werden pflegen. Diese Darstellungen, das wird sich immer deutlicher ergeben, gehören der Romanliteratur, nicht der Wissenschaft zu. Der Stein ist ins Rollen gekommen, die Lawine wächst und lässt sich einfach nicht mehr aufhalten. Mythologie, vergleichende Religionswissenschaft, Altertumskunde usw., alle arbeiten sie an der Aufhellung der Ursprünge der christlichen Religion. Und wenn sich erst einmal die Geschichtswissenschaft auf den sonderbaren Zustand besonnen haben wird, dass dieser Abschnitt der Entwicklung der Menschheit, für uns der wichtigste von allen, nicht ihr, sondern der Theologie zur alleinigen Bearbeitung anheimgegeben sein soll, die ihn schlechterdings gar nicht vorurteilslos behandeln kann, dann dürfte die Zeit nicht mehr fern sein, wo die groteske Komik einer "biblischen Geschichte" sich auch dem blödesten Auge aufdrängt und die Theologie gezwungen sein wird, entweder sich nach andern "Grundlagen" des religiösen Glaubens als den bloß geschichtlichen und mythischen umzusehen oder aber als Wissenschaft abzudanken und die Weltanschauung der — geistig Zurückgebliebenen zu vertreten.

KARLSRUHE IM MÄRZ 1909

PROF. DR. ARTHUR DREWS

Der Mythos Jesus Christus

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