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NEIN zu Insta-Bitches
und Reality-Dirnen
oder
Selbst ist die Frau!

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Wenn die gesamten Selbsthilfebücher etwas bezweckt hätten, dann würden wir im Paradies leben und wären längst die beste Version unserer selbst. Hätte positives Denken seine Macht inzwischen entfaltet, wäre die Welt, in der wir uns befinden, wahrlich eine bessere. Aber – soviel kann man wohl sagen – dieses Konzept ist definitiv gescheitert.

Die Selbsthilfebücher aus Zeiten vor dem unbegrenzten Austausch an Informationen können allesamt in den Schredder. Denn in der hochvernetzten digitalen Welt werden Meinungen als Fakten verkauft, und niemand kann echte Nachrichten von FB-Posts bekloppter Idioten unterscheiden. Jeder Knallkopp kriegt sein Forum. Leute, die früher eingesperrt worden wären, erhalten eine Plattform, auf der sie unter zehn Fake-Profilen ihr Unwesen treiben und die Welt vergiften dürfen.

Fake News sind ein extrem lukratives und schlaues Geschäft geworden. Sieht man ja an den Ergebnissen demokratischer Wahlen, und welches Schlamassel dabei jedes Mal herauskommt. Das Hirn der Masse ist inzwischen so weichgekocht, dass die Demokratie in Gefahr gerät:

Wenn 80 % Vollidioten für das Falsche stimmen, werden die 20 %, die Klüger sind, eben von 80 % Arschlöchern gelenkt. Ergebnis: Was gestern galt, hat heute keine Bedeutung mehr, »Werte« sind zum Fremdwort geworden, jeder boxt nur für sich, es wird gelogen, dass es kracht, und die Marschroute wird von den schwächsten Gliedern der Gesellschaft bestimmt. Und wir alle drohen unter der Last uneffektiver, alter Selbsthilfebücher von vor der Jahrtausendwende von unserem Billyregal erschlagen zu werden.

Darum sage ich: Schmeißt diese John-Gray-Schwarten weg! Schönere Partnerschaft, mehr Liebe, besserer Sex … der ganze Mist implodiert angesichts von Partnerbörsen, Online-Fremdgehportalen, Friendscout, eDarling, ElitePartner, Parship, Lovoo, Tinder, Grindr, PlanetRomeo und, ach scheiß drauf … es sind halt weltweite Fickbörsen, denen wir uns anschließen sollen. Da dürfen wir endlich beim Durchwischen NEIN sagen und selektieren. Toll!

Ich will mich leider nicht als Teil dieses Ganzen sehen, weil ich die ja alle gar nicht kenne, diese fremden Menschen, die einen geblasen bekommen wollen und online ihre Geschlechtsteile in meine Inboxen posten. Ich habe derzeit 5.000 unbeantwortete Freundschaftsanfragen! Aber 1.000 Freunde habe ich ja schon, wie soll ich denn jedes Jahr 6.000 Leuten zum Geburtstag gratulieren? Da muss ich ja jeden Tag 17 Blumensträuße verschicken! Nein, also das kann ich nicht.

Und wenn die mich alle einladen, zu Geburtstagen, Events und Hochzeiten, zu Grillfesten und spontanen Insta-Bitch-Partys … da müsste ich mich ja mehr als vierteilen.

Zu jeder Anfrage sollen wir alle immer JA sagen, damit es gefälligst schnell geht und man bitteschön den zeitlichen Fluss nicht stört. Wer das Rad aufhält, fällt als unliebsamer Störenfried ins Auge – angepasst und easy going zu sein wird als oberste Tugend vermittelt. Ein Algorithmus kennt eben keine Moral.

Kein Selbsthilfebuch hat uns darauf vorbereitet, dass unsere Kinder die besten Jahre ihres Lebens Chips futternd mit Rundrücken vor einem Laptop verbringen würden und ihre Textmessages, Snapchat, Tumblr, FacePlace, Slackchannels, Youporn, YouTube und Instagram für echte Arbeit halten. Für einen Beruf! Für das wahre Leben!

Auch viele Prostituierte und Prominente, deren Namen keiner kennt, verstecken sich gerne hinter dem Beruf »Influencer«. Die Unterwelt mit ihrem Lifestyle, Kriminelle mit Sixpack, arbeitslose Realitydirnen, Möchtegern-R&B-Schlampen, DSDS-Nutten – alles Zeitfresser, die Instabitches mit ihren Posts dazu veranlassen, am Tage 68 Mal »awww, wie süß, danke dir« zu tippen, das Ganze mit Herzchen-Emojis zu versehen und sich selbst das Gefühl zu geben, der Welt nahe und on top ihrer E-Mail-Inbox zu sein. Erfolgserlebnisse in einer virtuellen und nichtexistenten Welt.

Eine Liste von 5.000 Freunden durchzuackern und all ihre Poserfotos zu liken, führt auch zu zwei Stunden Müßiggang täglich vorm Laptop, ohne dass dabei unser Körper stromlinienförmiger wird. Den ganzen Tag aufs iPhone starren? Dafür wurde der menschliche Halswirbel nie konzipiert!

Man könnte in der Zeit auch ein Instrument spielen oder eine Sprache lernen. Handarbeiten macht ja auch keiner mehr, weil dabei kann man ja nicht texten. Schade! Meine selbstgestrickten Hüte, Schals und Socken aus den 80ern hatten ein unglaubliches Flair: Sie umhüllten mich mit Nestwärme. Und das, so lautet mein Wehklagen, finde ich leider nicht im Netz! Diesen Teestuben-Appeal, dieses kuschelige Geborgensein in altvertrauten Gewohnheiten, dieses Aufgehobensein in den eigenen Pickeln, dem Spliss in den Haarspitzen, den schlechten Fingernägeln und Kreuzworträtseln. Dieses Wollewickeln und Briefeschreiben mit auslaufenden Tintenpatronen, diese grässlichen Tuschkästen, dieses blaue Durchschlagpapier einer elektrischen Schreibmaschine, dieses Gekleckse mit eingetrocknetem Tipp-Ex bei Schreibfehlern, dieses Glücksgefühl, plötzlich eine Korrekturtaste zu haben, dieser fettige Kekskuchen »Kalter Hund«, diese Bescheidenheit der Dinge, das Sich Erfreuen an den Kleinigkeiten, die von Herzen kamen! Gemischte Tüte mit Süßigkeiten für eine Mark, Toast Hawaii, Milchtüte im Haltebecher, Magnetseifenhalter, Kaba, Käseigel, Eiskonfekt und Leckmuscheln: Ich vermisse es zutiefst! Kassettenrekorder, Walkman, Shirley Bassey, Liza Minnelli, The Bee Gees, Disco, Kaugummiautomaten, Dederon-Kittelschürzen: alles weg!

Stattdessen? Immer on top, immer eine Nasenlänge voraus mit den Postings, dem Duckface und dem verordneten Pensum an Lifestyle und Selfies in hohen Hacken. Seien es wir selbst, seien es andere, ist eh egal, weil nach 20 Filtern sehen ja doch am Ende alle gleich aus. Am Ende ist völlig wurscht, wer wer ist.

Mentaler Müll, der unsere Poren verstopft, weil er quasi außerirdisch bei uns abgeladen wird, bildet eine Bürde, die uns belastet, stresst und blind werden lässt. Üblich geworden ist es inzwischen, sich mit Leuten, die man eigentlich gar nicht leiden kann, beim Feiern zu fotografieren, ebenso wie angebliche Vorlieben zu promoten, um sozial kompatibel zu erscheinen – obwohl der vegane Schokokuchen aus Avocado und Kakaobohnen gar nicht schmeckt.

Auch so eine Sache: Ich soll JA sagen zu Nahrungsmitteln, weil sie angeblich gesund sind, aber eklig schmecken; ich soll grüne Grassäfte trinken, weil ich täglich drei grüne Gurken, drei Handvoll Spinat, drei Sellerieknollen und acht Äpfel verdauen soll? Als wäre ich von Stall und Weide direkt ins Großraumbüro versetzt worden. Auch hier mein klares NEIN! Ich will Hollywoodschaukel, Florida Boy und Dolomiti!

Wie ich dagegenhalte, um nicht von der Flut all der Dinge überrollt zu werden, die ich täglich tun, anklicken, abnicken und gutheißen soll? Ein einfacher Leitsatz hilft weiter: Was mir nicht guttut, fliegt raus, was mir nützt, kommt rein.

Sachen, die mich ärgern, müssen abgeschafft werden, um Platz für Dinge zu schaffen, die mir Freude bringen. Das sind zwei Schritte, die aber den meisten Leuten nicht mal bewusst sind. Wenn man 13.000 E-Mails in seiner dämlichen Inbox abzuarbeiten hat, ist man ja auch vom Gefühl dominiert, prinzipiell und andauernd dem eigenen Leben hinterherzuhinken. Die Volkskrankheit ist einfach, dass wir alle viel zu viel Ballast herumschleppen, weil wir uns überall eingeloggt haben, fremdverwaltet werden, meinen, überall mithalten zu müssen.

Egal ob es Nachrichten, Boulevard, Portale, Foren, Werbung oder Magazine sind, immer wird direkt die Botschaft übermittelt: Ihr alle da draußen seid nicht dünn genug, nicht reich genug, nicht schön genug, deshalb nehmt euch ein Beispiel an denen, die Millionen von Likes haben und reich geworden sind, weil sie Extensions, aufgespritzte Lippen, falsche Nägel, falsche Zähne, falsche Brüste, falsche Wimpern haben und 20 Filter sowie die Funktion »Umformen« betätigt haben, um zu suggerieren, dass sie reich, schön und glücklich sind. Wir sollen JA sagen zu den fetten Ärschen der Kardashians, den unbegabten Pausenclowns von DSDS, den stammelnden Entertainern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, den geschmacklosen Moderatorinnen im greisen Prostituiertenlook, die uns was von der glücklichen Welt der Promis vermitteln wollen.

Was oder wer sollen wir heute bitteschön sein, Mr. John Gray? Degenerierte Opfer einer Gesellschaft, die sich bis zur Unkenntlichkeit zu einem Alien haben umoperieren lassen und so viel Menschlichkeit in sich tragen wie ein karger Asteroid, der für wenige Sekunden an der Erde vorbeisaust, um danach irgendwo im All zu verglühen? Wir haben längst verstanden, das auf dem Mars keine Traummänner leben und die Hälfte der Venusbewohnerinnen hochgetunte Transvestiten sind. Es ist alles anders als man uns versprochen hat. Und für das Neue, da braucht man ein Update des Navigationssystems.

Ich habe das alles schon vor zehn Jahren bemerkt und mir völlig neue Orientierungsfunktionen gesucht. Ich ziehe den Stecker und gehe auf den Berg. Ich verdrücke mich nach Norwegen zum Langlauf! Ich packe den Rucksack und gehe in den Wald. Ich mache Sachen, die mir früher sinnlos erschienen wären: Ich miste angeschlagenes Geschirr und schlechte Bücher aus. Ich schreibe Postkarten. Aus der Uckermarck! Damit bekommst Du mehr Aufmerksamkeit als mit neuen Brüsten. Ich baue Lauben um. Lege Küchengärten an. Ich habe einen Steingarten geschaffen. Plus eine Teichanlage mit einem plätschernden Springbrunnen. Das macht viel Arbeit, aber egal. Ich singe Gospel. Ich mache Königsberger Klopse und Birne Helene. Ich lerne Jodeln, trage Dirndl und fahre Kutsche. Ich pflücke Erdbeeren. Ich gehe zum Lachsfischen nach Schottland. Ich schminke mich bei Tag überhaupt nicht mehr. Ich liebe Sauna, Stretching und Kurzhaarfrisuren. Ich singe Operette. Ich nehme Unterricht bei Koloratursopranistinnen. Ich habe im Wohnzimmer eine Kuckucksuhr. Ich gehe in Theaterstücke, die ich scheiße finde, und die schlechte Presse haben, um zu studieren, was man alles falsch machen kann auf der Bühne. Ich notiere mir grobe Fehler der Kollegen. Ich rufe alte Freunde an, die nicht daran denken, sich bei mir zu melden, weil sie mit ihren Karrieren beschäftigt sind und glauben, ich hätte eh keine Zeit. Ich sehe mir mit Vorliebe uralte Talkshows an, um Bilanz zu ziehen, was aus den Menschen geworden ist. Haben sie ihre eigenen Erwartungen erfüllt? Haben sie vollmundig gelogen und geprahlt? War der Auftritt vor Jahrzehnten nichts als Bauerntheater? Ist ihnen das, wofür sie sich selbst gefeiert haben, längst abhandengekommen? Haben sie das Bild von sich selbst aufrechterhalten können? Als was haben sich die Knalltüten am Ende entpuppt?

Wohlweislich gewarnt vor dem Niedergang zahlloser Kollegen, war es stets mein Ziel, eben nicht den Verführungen meiner Branche zu erliegen. So blicke ich doch auf Jahrzehnte einer völlig skandalfreien Karriere zurück: mit Hochschlafen war gar nichts, ganz im Gegenteil! Eher waren meine Beziehungen dermaßen branchenfern, dass sie mir überhaupt nichts genützt haben. Nüchtern betrachtet habe ich mich sogar runtergeschlafen, denn generell bin ich es gewesen, die sich – Dank eines ausgeprägten Helfersyndroms – der verlorenen Seelen respektive unglücklichen Existenzen angenommen hat.

Keine öffentlichen Liebesgeschichten, keine Paarfotos und verkaufte Affären, Trennungen und von der Presse begleitete Versöhnungen. Wenn überhaupt, wurden die niemals von mir, sondern vom Partner eingefädelt. Ich hätte um Alimente und Geburtsurkunde lieber nicht prozessiert. (Eine kurze Anmerkung dazu: Manche Menschen gieren ja danach, persönliche Angelegenheiten per Gerichtsprozess zu verhandeln, wodurch alle unrühmlichen Details öffentlich dargelegt werden. Der Mangel an Kapazitäten, private Dinge angemessen und zivilisiert zu erledigen, hat bei gewissen Dynastien gar Familientradition. Per Verfahren schreibt sich so immerhin die Familienchronik von selbst, denn die Schandtaten sind amtlich besiegelt. Dann weiß die Nachwelt wenigstens gleich Bescheid!)

Doch zurück zu meinen »Defiziten«: Da gibt es keine Steuerschulden, iiih, bewahre! Eher Nachzahlungen in Größenordnungen, die meine Zukunft zu ruinieren drohten. »Arm durch Arbeit« heißt mein Motto. Keine Alkoholbeichten, Drogenprobleme, verpfuschte Schönheits-Ops, Silikon rein, raus und nochmal zurück, Arschfett in die Lippen gespritzt, Implantate verrutscht, vom Partner verprügelt worden, verpasste Showauftritte, schlechte Kritiken, halbleere Säle, angetrunken die Treppe hinabgestürzt, Text vergessen, wechselnde Affären, prominente Liebhaber, abgebrochene Absätze: Mit absolut keinem Skandal kann ich dienen. Ich habe zu Pleiten, Pech und Pannen ganz klar NEIN gesagt. Sogar zum Burnout!

Vor circa 20 Jahren hat es mal kurz bei mir im Ohr Sturm geklingelt – als ich bemerkt habe, dass der Vater meines Kindes mich sitzenlässt. Nennen Sie mich altmodisch, aber ich habe dem Tinnitus so entschieden NEIN gesagt, dass er sich nie wieder zurückgemeldet hat. Inzwischen hat es sich bei mir ausgetindert. Man muss ja nun wirklich nicht jeden Trend mitmachen!

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