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NEIN zum virtuellen Gift
oder
Digital Detox macht faltenfrei!

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Ich entscheide mich wirklich gerne gegen Dinge: gegen Titten in den Mindestgrößen von Wassermelonen, gegen Lippen so dick wie ein Paar Wiener Würstchen, gegen Permanent-Make-up, das so wirkt, als hätten sich die Betroffenen mit einem Edding nachgeschminkt, gegen eine erstarrte Fratze, gegen fiese verfilzte Extensions, gegen Hyaluron-Fressen, die wirken wie überdimensionale Wasserköpfe, und gegen einen Körper mit entfernten Rippen und aufgeblasenem Arsch, der wie ein groteskes Kunstwerk von Dalí wirken soll. Denn es macht mir Angst. So grausam kann Mutter Natur doch gar nicht sein, dass sie mich in einen Körper gepackt hat, den man zerschreddern und neu zusammenflicken muss. Ich schmeiß mich doch nicht selbst weg. Wenn die Kerle größere Brüste wollen, dann sollen sie sich doch die Hände verkleinern lassen!

Wer zu allem JA sagt, der lügt! Wer mit allen Liebkind ist, hat überhaupt keine Freunde. Wer Everybody’s Darling ist, hat keinen Charakter! Das hat vielleicht früher mal am Dorfanger oder auf dem Schützenfest funktioniert, aber in einer globalisierten Welt sind solche Beliebigkeitsmerkmale untragbar geworden. Wer sich ein Fünkchen Charakter bewahren will, der muss sich konkret positionieren. Muss für etwas einstehen und Farbe bekennen.

Nur mit dem eigenem NEIN als deutliche Abgrenzung zur Beliebigkeit der Angebote kann man sich selbst treu bleiben. Eigene Grenzen aufzeigen, Verführungen widerstehen, die Kontrolle über sein Leben behalten und den Stürmen des Lebens trotzen. Denn nie war die Informationsflut, die Anzahl der Angebote, die Vielfalt an Möglichkeiten größer als heute. Wer sich da nicht abzugrenzen weiß, seine eigene klare Linie beibehält und lernt, NEIN zu sagen, der wird untergehen.

Denn NEIN ist das neue JA. So wie Orange das neue Schwarz ist, Sechzig das neue Vierzig und Fünfzig definitiv das neue Dreißig.

NEIN ist der Schlüssel zu einem Leben, das Sie sich verdient haben. Sie haben das Recht auf ein NEIN, mit dem Sie die Weichen Ihres Lebens stellen. Also machen Sie davon Gebrauch! Verlernen Sie um Himmelswillen, immer JA zu sagen. Ja, es kommt einem vielleicht komisch vor, aber Dinge zu verlernen ist ebenso wichtig, wie sich Neues anzueignen.

Schon vor Jahrzehnten habe ich es verlernt, nachts den Kühlschrank leerzufressen oder mir einen selbstgebackenen Kuchen noch heiß in den Mund zu stopfen, sodass ich am nächsten Tag Brandblasen am Gaumen habe. Ebenso habe ich mir abtrainiert, dem Jugendwahn hinterherzulaufen. Natürlich experimentierte ich zu Beginn des letzten Jahrzehnts eifrig mit Botox. Aber ich lasse mir nicht alle drei Monate für 500 Euro die Fresse glattspritzen, bis ich am Ende meinen Mund nicht mehr unter Kontrolle habe und mir der Rotwein aus den Lefzen läuft, weil mir der Kauapparat entgleist. Egal, ob sie lachen oder weinen, man schaut bei zahlreichen Film- und TV-Schauspielerinnen ja immerzu in dasselbe unbewegliche, emotionslose Gesicht. Nicht mehr fähig, die Stirn zu runzeln oder die Augenbrauen und die Mundwinkel anzuheben. Faltenfrei, aber trotzdem alt. Zu diesen Verführungen sage ich entschieden NEIN.

Genauso wie zu Sektenzugehörigkeiten, Shitstorms, überflüssigem Smalltalk, Billig-Make-up, Übergewicht, öden Partyevents, Kunstpelz und schlechtem Sex.

Auch wenn die ganze Welt anders denkt, dann bin ich eben David gegen Goliath, aber ich vertrete eine eigene Meinung!

Mit dem Internet ist in der digitalisierten Welt eine gigantische Plattform entstanden, auf der sich jeder austoben darf. Man könnte sich dort durchaus gegenseitig unterstützen und würdigen, schließlich sind so ziemlich alle Menschen der Welt auf einmal nur noch einen Mausklick entfernt. Wenn das nicht zusammenschweißt! Aber was macht die Menschheit draus? Sie packt all ihren Hass und ihre dunklen Seiten aus. Das Internet ist ein Abenteuerspielplatz für das Böse in der Welt geworden. Und Kriminalität wird dort noch zum Lifestyle erhoben – und damit meine ich nicht dieses mysteriöse Darknet, von dem alle seit Kurzem mit vielsagend hochgezogener Augenbraue flüstern, obwohl niemand eine Ahnung hat, wo diese Achse des Bösen eigentlich anfängt.

Egal welchen Post man absetzt oder welches Foto man in der Öffentlichkeit präsentiert, man wird von allen Seiten negativ zugeschissen. Jeder Honk glaubt plötzlich, seinen giftigen Seelenmüll über einem auskippen zu müssen, und hat offensichtlich nur auf den Startschuss gewartet, um andere beleidigen zu können.

Neulich habe ich ein Foto von mir gepostet, braungebrannt im Pool. Aufgenommen während meiner Kreuzfahrt auf der Mein Schiff 6. Schon ging es los:

»Auch Du wirst eines Tages alt und runzelig sein. Niemand hat die ewige Jugend gepachtet.«

»Die alte Trockenpflaume hat drei Filter drübergelegt. Habe sie am Frühstücksbüffet gesehen. Da kann sie sich zum Dörrobst legen.«

»Die Fresse will ich mal abgeschminkt sehen. Durch die Löcher von der Alten ist schon lange keiner mehr durchmarschiert.«

Ich habe gegen eine sehr hässliche Haterin, die zwei Wochen lang ihren gesamten Lebensfrust an mir ausgetobt hat und nichts Besseres zu tun hatte, als gegen mich auf einem Schiff mit 5.000 Menschen Stimmung zu machen, Strafanzeige erstattet. Nur so. Um von meiner Möglichkeit, mich dessen zu erwehren, Gebrauch zu machen.

Mir gefällt der allgemeine Umgangston im Internet nicht. Regt man sich darüber auf, kämpft man gegen Windmühlen, denn längst schon haben es (Achtung, Neudeutsch!) Scheiß-Stürme und Hasstiraden ins reale Leben geschafft. Der Übergang ist fließend, die Grenzen zwischen virtueller Sphäre und Realität verwässern.

Die meisten Menschen wissen schon lange nicht mehr, was sich im allgemeinen Sozialverhalten gehört, und wie man im tagtäglichen Leben taktvoll miteinander umgeht. Und weil man beim Gaming im Internet einfach alle umbringt, die einem im Weg sind, sticht man neuerdings auch im echten Leben alte Omas ab, die sich bei Rewe an der Kasse nach vorne gedrängelt haben.

Da alle an menschenunwürdige Postings, ekelerregende Kommentare und abstruse Profilbeschreibungen gewöhnt sind, die Tag für Tag die Bildschirme dominieren, setzt nun eine allgemeine Desensibilisierung ein.

Ja, was soll man machen? Jeder primitive Trottel darf sich jetzt offenbar einmischen, tut genau das in seinem Übermaß an Freizeit, und die Treibjagd auf einzelne Opfer kann beginnen. Streit, Wut und Hass unter den Menschen werden befeuert. Stundenlang gehen herabwürdigende Chats hin und her, und jeder Arsch hat das Gefühl, sich einmischen zu müssen, oder wenigstens das Bedürfnis, ein wütendes Emoji zu hinterlassen.

Und so kommt es, dass man unter einem harmlosen, sonnigen Post mit Kaffeetasse im Garten und einem »Ich wünsche Euch einen wundervollen Tag!«, plötzlich 829 Hasskommentare stehen hat.

»Du hast doch keine Ahnung Alte, liegst faul im Garten und wir malochen seit früh um drei!« – »Beim Anblick von der Spinatwachtel kann das nur ein beschissener Tag werden!« Fotos von fiesen Riesenschwänzen kommen als Reaktion auf ein freundliches »Guten Morgen« zurück.

Und wehe! man erdreistet sich, etwas zu löschen oder Personen zu blockieren. Dann wird erst richtig Stimmung gegen einen gemacht. Als müsste man sich unbekannte, fremde Menschen zu sich ins Wohnzimmer auf die Couch einladen. Sorry, Kinder, aber wen ich nicht mag, der fliegt raus. So einfach ist das.

Warum soll ich mich von verbitterten Knalltüten beschimpfen lassen? Und habe ich, haben wir es wirklich nötig, wie auf dem Viehmarkt aufgrund eines Bildes unseren Wert per Likes festlegen zu lassen?

Die meisten Likes bekommt man heutzutage wohl, wenn man sich das Gehirn entfernen lässt und die starre Hyaluron-Fresse in die Kamera hält. Dafür interessieren sich doch alle, und jeder will am Grauen teilhaben. Mit drei anmontierten Mördertitten und hohler Birne kriegst du garantiert die meisten Aufrufe und wirst zum Star.

Und dabei spreche ich noch nicht mal von Dating-Plattformen. Hätte ich bei meiner Hitliste der Matching-Points auf Partnerbörsen nicht frühzeitig den Stecker gezogen, dann stünde mein G-Punkt jetzt in jedem Berliner Reiseführer unter »Places to Go«!

Dating-Apps sind eine wunderbare Trainingsplattform, um im Sekundentakt das eigene standhafte NEIN zu üben. Man muss schon ordentlich einen an der Glocke haben, um sich geradewegs so, als würde man zum Yoga oder Pilates gehen, dort zu bewerben. Und wofür? Um die geile Uschi zu machen – und sich hinterher von einem Algorithmus mit vorgefertigter Meinung nach dem Punktesystem eines Computers verwalten zu lassen. NEIN, danke! Vielleicht werde ich am Ende in einem Billighotel vergewaltigt, betäubt oder ausgeraubt. Oder ich stecke mich mit Chlamydien oder Schlimmerem an.

Ach Mensch! Ich habe vor Herzensangelegenheiten viel zu viel Respekt, um da mitzumachen.

Leute, ich will mich nicht bei Grindr und Tinder anmelden, um herauszufinden, wer in meiner Nähe ficken will. Ich hebe doch nicht den Reifrock und stelle meine Waschküche fremden Menschen zur Verfügung.

Man muss natürlich gelernt haben, eindeutig NEIN zu sagen. Sonst steht man heutzutage sehr schnell als unterbezahlte Kokotte da.

Das NEIN ist in der schönen, neuen Welt die wichtigste Vokabel, um nicht in der namenlosen Fleischmasse der Menschheit unterzugehen. Man erspart uns ja sogar das NEIN-Sagen durch Wegwischen. Früher hat man Menschen »geschnitten«. Heute guilliotiniert man mit dem Mittelfinger.

Ich glaube an Ausstrahlung und Aura. Dazu sage ich aus vollem Herzen JA. Es ist mein Geheimnis zum Erhalt meiner ewigen Jugend! Ich war, bin und bleibe eine zarte Edelzicke. Eine Cashmereziege. Ich grase nicht in enttäuschten, frustrierten und verbitterten Gefilden. Die habe ich nur benutzt, um mich ans NEIN-Sagen zu gewöhnen.

Mein Jungbrunnen heißt: permanenter Digital Detox. Mentale Entschlackung und virtuelle Entgiftung.

Ab 18 Uhr empfehle ich absolute Online-Abstinenz. Viele Leute haben bereits vergessen, was man abends alles so unternehmen kann. Vor allem, wenn man diese Zeiten unter echten, lebenden Menschen verbringt.

Wenn an die Stelle dessen, was einem früher das Leben schöner machte und auch Rückhalt im Leben gab, nur noch Social Networking, Grindr, Silikonärsche, Sushi, Emojis, aufgespritze Fressen, Lieferservice und Laminat getreten ist, dann ist die digitale Welt eine erschreckend kalte. Und dazu sage ich NEIN.

Wenn von den 100.000 Pics wenigstens ein Fotobuch übrigbleibt, dann finde ich das meeega! Aber da hat sich ja auch wieder einer hingesetzt und gebastelt, sich Zeit genommen und aus den Erinnerungen und Empfindungen etwas Neues modelliert.

Toll, dass man diesen Kasten aufklappen kann und Flüge buchen, Klamotten einkaufen, den Nachbarn googeln, Lebensmittel liefern, Partner bestellen, Medikamente ordern, Nachrichten lesen, Möbel-Bausätze und XXL-Swimmingpools, Haustiere, Parfüm, Theaterkarten und Perücken, Obstbäume, Personal, Sportsocken, Stricher, Dildos, Schusswaffen und Leihmütter bestellen kann.

Alles anonym. Vom Bett aus. Leider fehlt dem Notebook bis heute der Beipackzettel mit den Nebenwirkungen: Kopfweh, Schulterverspannungen, Magenprobleme, Halswirbelverdrehung, Schlaflosigkeit, Nacken- und Kreuzschmerzen, Sprachlosigkeit, Burnout.

All dem gilt mein NEIN.

Mir ist das heute irgendwie alles nicht muckelig genug. Okay, ich hab die Message verstanden: »Fuck Gemütlichkeit!« So sehen die anonymen Designerhotels ja auch aus: meeega cool, aber leider eben total ungemütlich und weltweit überall gleich. Da weißt du nicht, ob du in Ägypten oder in San Diego eingebucht bist.

Unter Gemütlichkeit versteht ja jeder was anderes. »What the fuck is Heimat?«

Ich kann Ihnen versichern, für mich ist Gemütlichkeit wichtig. Dort komme ich her und dahin kehre ich zurück.

Meine muckelige Heimat gebe ich nicht mehr auf: Denn abgesehen von den üblichen Enttäuschungen, Erniedrigungen, Demütigungen, Verleumdungen, Intrigen und Prozessen, habe ich in den ersten 60 Jahren meines Lebens verdammt viel Spaß gehabt!

Nein ist das neue Ja

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