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Kapitel 5: Marseille
ОглавлениеMarseille, Ende November 2027
Vor zwei Stunden hätte Lavoisier eigentlich Kapitän Sanchez erwartet. Aber er war nicht erstaunt, dass der Löwe von Alexandria persönlich erschienen war. Nun sassen sie beide in einem mit Mahagoniholz verkleideten Speisezimmer bei einem opulenten Nachtessen. Es war sehr stilvoll eingerichtet wie überhaupt der gesamte Wohnsitz des Löwen von Alexandria. Es musste ihn wohl ein Vermögen gekostet haben. Sie warteten darauf, was am Peer 22 geschehen würde. Sie hatten noch eine halbe Stunde Zeit und unterhielten sich.
»Ich wusste, dass Sie die Rechnung in der Taverne anschauen würden«, sagte der Löwe von Alexandria.
»Das ist so eine Angewohnheit von mir«, antwortete Lavoisier.
»Wissen Sie, ich habe ziemlich gute Menschenkenntnisse. Ich kann mich in der Regel auf mein Bauchgefühl verlassen. Nur einmal hörte ich nicht darauf, und prompt hätte das mich fast mein Leben gekostet. Bei Ihnen wusste ich sofort, dass Sie ein anständiger und ebenso neugieriger Mensch sind, egal, was die internen Polizeikanäle über Sie verbreiten. Deshalb war ich überzeugt, dass Sie die Rechnung anschauen würden«, sagte der Löwe von Alexandria.
»Ja, neugierig bin ich. Ich denke, wenn ich aufhöre, neugierig zu sein, dann werde ich sterben. Und Sie, sind Sie auch neugierig?«
»Wir wären nicht hier, wenn ich es nicht wäre. Auf unsere Neugier!« sagte der Löwe von Alexandria und hob sein mit rotem Burgunder gefülltes Weinglas.
»Auf die Neugier«, erwiderte Lavoisier.
»Nennen Sie mich Philippe, Löwe von Alexandria tönt mir etwas zu pathetisch.«
»Enchanté, Marcel ist mein Vorname«, erwiderte er.
Lavoisier dachte an den Nachmittag zurück. Als er die Taverne verlassen hatte und Ibrahim ausser Sichtweite war. Er zog den Rechnungsbeleg hervor, drehte ihn um las:
15:30 Uhr, Cathédrale Sainte-Marie-Majeure, hinterste Bank links, blaukarierter Schal. Er besuchte also die Kathedrale, interessierte sich für deren Architektur und staunte über deren Grösse. Nach dem Rundgang setzte er sich ein paar Minuten zu früh in die hinterste linke Bankreihe. Exakt um 15:30 betrat eine Dame, die einen blaukarierten Schal trug, seine Bankreihe. Sie blieb einen Moment stehen, betete ein Vaterunser vor sich hin, bekreuzigte sich und setzte sich neben ihn. In der Hand hielt sie ein Gesangbuch. Sie blieb etwa fünf Minuten sitzen, wobei Aussenstehende von ihr den Eindruck hätten erhalten können, sie sei im Zwiegespräch mit dem Allmächtigen. Sie verharrte so, ohne etwas zu sagen. Dann legte sie das Gesangbuch zwischen sich und Lavoisier. Ihr Blick richtete sich nach vorne und schien etwas Entrücktes an sich zu haben. Nun stand sie langsam auf, flüsterte kaum hörbar »Seite 71« und entfernte sich. Lavoisier wartete ein paar Minuten, ergriff langsam das Gesangbuch, steckte es ein und verliess ebenfalls die Kathedrale. Seine Neugier war geweckt. Aber erst als er in einem kleinen Restaurant die Toilette aufsuchte, wagte er die Seite 71 aufzuschlagen.
»Eine Mirpzahl«, dachte Lavoisier, als er die Seitenzahl 71 aufschlug. So erging es ihm oft. Wenn er eine Zahl sah, dann erinnerte sie ihn oftmals an irgendetwas, meistens an belangloses Zeugs. Wie jetzt, denn er hatte eigentlich Wichtigeres zu erledigen, als über eine Mirpzahl nachzudenken. Mirp heisst rückwärts geschrieben prim. Eine Mirpzahl ist eine Primzahl, die rückwärts gelesen eine andere Primzahl ergibt, eben wie 71 und 17. Er fand auf der 71. Seite einen kleinen Zettel, öffnete ihn und es standen nur zwei Dinge darauf. 18:00 Uhr, Tour Carrée. Er zerriss den Zettel und warf die Papierfetzen in die Kloschüssel, danach betätigte er die Spülung.
»Doppelte Sicherheit«, dachte Lavoisier, der nun davon ausging, dass der zweite Termin der richtige war. Dank Google Earth wusste er, wo der neue Treffpunkt lag, und er erschien pünktlich am vereinbarten Ort. Eigentlich hatte er Kapitän Sanchez erwartet, aber der Löwe von Alexandria erschien persönlich. Sie begrüssten sich, und wenige Augenblicke später erschien ein schwarzer Mercedes Benz, in den sie einstiegen.
»Das war vor mehr als zwei Stunden«, dachte Lavoisier.
»Marcel, schau, es kommt Bewegung in die Sache«, holte ihn Philippe aus der unmittelbaren Vergangenheit zurück.
Philipe und Lavoisier schauten auf einen sehr grossen, leicht gekrümmten Flachbildschirm, der vier kleinere Bildfenster anzeigte. Jedes dieser vier Bildfenster zeigte eine andere Ansicht des Peer 22.
»Entschuldige die Qualität der Bilder, aber es ist Nacht, und die Qualität der Webcams ist nicht die beste. Aber für unsere Zwecke völlig ausreichend.«
»Kann man das Signal nicht zu dir zurück verfolgen?«, fragte Lavoisier. Philippe schaute ihn nur mit einem müden Lächeln an und meinte:
»Absolut unmöglich.« Lavoisier bedauerte bereits, dass er die Frage überhaupt gestellt hatte, und entschuldigte sich bei Philippe, der nur nickte.
»Siehst du, sie gehen nun gut getarnt in Stellung. Ich sehe fünf Teams, die jeweils aus zwei Personen bestehen. Vermutlich werden noch ein paar Scharfschützen versteckt auf verschiedenen Dächern lauern. Irgendwo wird ein Kommandowagen sein, in dem der Einsatzleiter sitzt. Sie sind mit MP5-Maschinenpistolen ausgerüstet, sie tragen das GIGN-Abzeichen an ihren Uniformen«, erklärte Philippe.
»Und was bedeutet das?«, fragte Lavoisier.
»Der GIGN, also der Groupe d’intervention de la Gendarmerie nationale ist eine Spezialeinheit, deren Haupteinsatzgebiet die Terrorismusbekämpfung ist.«
»Was wird als nächstes geschehen?«
»Sobald die Zielperson in Erscheinung tritt, wird der Einsatzleiter den Zugriffsbefehl erteilen. Die fünf sternförmig verteilten Teams werden blitzschnell zuschlagen und die Schlinge um das Objekt wird sich zu ziehen. Das Objekt wird keine Chance haben«, erklärte Philippe.
Dabei schaute er auf die Uhr. »Noch 5 Minuten«, sagte er.
Beide schauten gespannt auf den Bildschirm. Die Minuten schienen unendlich lang zu sein. Aber dann erschien eine Person, die Richtung Treffpunkt auf dem Peer 22 zuging. Die Person trug einen langen Mantel mit hochgezogener Kapuze und aufgeklapptem Kragen, denn es regnete leicht. In der rechten Hand trug sie eine kleine Reisetasche.
»Jetzt«, rief Philippe, und wie von Geisterhand gesteuert stürmten zehn schwer bewaffnete Männer der Sondereinheit aus ihren Verstecken und umzingelten die Person, als hätte Philippe den Befehl dazu gegeben. Aber es dauerte nicht lange, bis sie erkannten, dass sie eine Prostituierte umzingelt hatten, die auf jemanden wartete.
»Chapeau!«, gratulierte Lavoisier Philippe. Das war ein perfektes Ablenkungsmanöver.
»Danke, man sollte immer für alle Eventualitäten gerüstet sein«, erklärte Philippe.
»Zielperson, Zugriffsbefehl, GIGN, MP5, Kommandowagen«, wiederholte Lavoisier und fragte: »Du kennst dich aus?«
»Ja, das kann man so sagen. Ich war Mitte der Siebzigerjahre selbst Mitglied des GIGN und einer der jüngsten Offiziere.«
»Deshalb verfügst du immer noch über beste Beziehungen?«
»Sagen wir es so, es hat noch nie geschadet«, sagte Philippe und lächelte. Philippe erzählte einige Episoden aus seiner Zeit beim GIGN, weshalb er entschieden hatte, eine andere Karriere einzuschlagen, und wie er das wurde, was er nun war. Nach etwa einer halben Stunde forderte Philippe Lavoisier auf und sagte:
»Komm, wir gehen nach oben. Philippe ging voran. Sie stiegen die eher schmale Treppe hoch und gelangten auf eine Terrasse. Sie setzten sich in Korbstühle, die um einen runden Tisch angeordnet waren. Gegen den kühlen Wind schlugen sie bereitgelegte Wolldecken um sich. Vor ihnen lag Marseille, und die Aussicht war atemberaubend. Auf dem runden Tisch standen zwei Schwenker, die mit Cognac gefüllt waren.
»Was treibt den Leiter des Instituts für Altertumsforschung in einer Nacht- und Nebelaktion nach Marseille? Und warum gibt er sich als eine andere Person aus?«, fragte Philippe.
»Ich scheine eine wichtige Person zu sein. Sie wollen mich um jeden Preis haben«, antwortete Lavoisier.
Es trat eine Person zu ihnen, flüsterte dem Löwen von Alexandria etwas ins Ohr und entfernte sich danach wieder äusserst diskret.
»Gute Nachrichten, Marcel«, wandte sich Philippe an Lavoisier.
»Meine Leute konnten beobachten, wie Ibrahim die Polizeistation verlassen konnte.«
»Das ist in der Tat eine gute Nachricht«, sagte Lavoisier, der sichtlich erleichtert war.
Philippe nickte, zog ein kleines Funkgerät hervor, drückte einen Knopf und sprach:
»Kapitän Sanchez, wir sind soweit.«
Keine Minute später spürte man auf der Terrasse ein kleines rhythmisches Vibrieren, als die beiden Schiffmotoren gestartet wurden. Die 27 Meter lange Ferretti-Yacht nahm Fahrt auf und es dauerte nicht lange, bis die Lichter Marseilles hinter dem Horizont entschwanden.
»Wovon weisst du zu viel?«
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Lavoisier.
»Ich mag lange Geschichten«, sagte Philippe und prostete Lavoisier zu.