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Kapitel 4: Peer 22

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Marseille, Ende November 2027

Nachdem der Löwe von Alexandria die Taverne verlassen hatte, unterhielten sich Lavoisier und Ibrahim noch eine Weile.

»Was bin ich dir schuldig?«, fragte er Ibrahim.

»Du bist mir gar nichts schuldig, nach dem, was du für mich und unsere Familie getan hast«, antwortete er.

Lavoisier zog aus seiner Hosentasche zwei Hundert-Euroscheine und streckte sie Ibrahim zu.

»Nimm das als Reisegeld«, bat er ihn.

Ibrahim zögerte eine Weile, aber Lavoisier nickte ihm zu, so dass er sie dankend nahm und in seiner Hosentasche verschwinden liess.

»Ich werde dich nun hier verlassen«, erklärte Lavoisier.

»An welcher Anlegestelle wirst du abgeholt?«, fragte Ibrahim noch. Lavoisier nickte leicht und gab ihm zu verstehen, dass es zu viele Leute in der Taverne hatte. Er schrieb etwas auf ein Papiertaschentuch und streckte es Ibrahim diskret zu. Ibrahim nahm es und steckte es unbemerkt in seine Hosentasche. Nachdem Lavoisier die Rechnung verlangt hatte, trat Alejandro an ihren Tisch und erklärte, dass die Rechnung schon bezahlt worden sei. Er übergab den Kassenzettel Lavoisier, der einen flüchtigen Blick darauf warf und erstaunt war, wie preiswert die Taverne war. Alejandro versuchte dabei einen brüllenden Löwen nachzuahmen, was ihm nicht wirklich gelang. Aber Lavoisier hatte verstanden, dass der Löwe von Alexandria alles bezahlt hatte.

»Der Mann hat Stil«, dachte er.

»Und der Name des Schiffs?«

»Es ist besser, wenn du so wenig wie möglich weisst. Dies zu deinem eigenen Schutz. Man weiss nie, was alles passieren kann«, antwortete Lavoisier, und Ibrahim verstand. Beide standen nun auf, wobei Lavoisier seine kleine Reisetasche ergriff, und sie umarmten sich.

»Danke, Ibrahim und grüsse Charles von mir«, sagte Lavoisier.

»Vergiss nicht, die Menschheit zu retten!«, antwortete Ibrahim, und beide mussten lächeln.

Kurz nachdem sie sich getrennt hatten, las Ibrahim den Text auf dem Papiertaschentuch. Peer 22, 20:30 Uhr stand da geschrieben. Ibrahim steckte es wieder ein.

Lavoisier verbrachte den Nachmittag in Marseille und besuchte die Kathedrale, die zu Ehren der Jungfrau Maria erbaut worden war. Sie hiess offiziell Cathédrale Sainte-Marie-Majeure, war von weither sichtbar und nach Norden ausgerichtet. Die monumentale, in neoromanisch-byzantinischem Baustil errichtete Kathedrale war gar nicht so alt, wie man es von so grossen Bauwerken erwarten durfte. Das Gotteshaus wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach knapp fünfzigjähriger Bauzeit fertiggestellt. Natürlich gab es an der heutigen Stelle schon früher Kirchen. Bereits Ende des vierten Jahrhunderts stand eine nach Osten ausgerichtete Bischofskirche. Er mochte Kathedralen, wobei er die gotischen am liebsten hatte. Sie strahlten Ruhe aus, die sich auf ihn übertrug. Auch hatten sie etwas Erhabenes. Später kehrte er in ein kleines Restaurant ein, ass ein lokales Menu, trank dazu ein Glas Rotwein aus der Region und genehmigte sich zum Dessert ein Eclair, wobei seine Gedanken zu Alice wanderten. Er fragte sich, wie ihr Tag wohl aussah, und zweifelte nicht daran, dass sie die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen würde. Er zog sein Smartphone hervor, startete die »Google Earth«-App und prägte sich den Weg zum angegebenen Treffpunkt ein. Er wechselte dabei in den Sattelitenmodus, denn er konnte sich so Umgebungen besser merken.

Nachdem Ibrahim die Taverne verlassen hatte, flanierte er dem Alten Hafen entlang, setzte sich an die Sonne, bewunderte die zahlreichen Motoryachten und Segelboote und war mit sich und der Welt im Einklang. Er konnte endlich Lavoisier helfen, was für ihn gleichbedeutend war, eine grosse Schuld beglichen zu haben. Er wusste, dass Lavoisier das nicht so sah, denn er half immer, wenn es notwendig war, ohne irgendeine Gegenleistung einzufordern. Sein Onkel Charles sagte ihm einmal, dass das mit den Ereignissen in Ägypten zu tun hatte. Die Sonne strahlte eine angenehme Wärme aus, die typisch für Ende November war, und sie vertrieb die kühlere, feuchte Luft. Er wusste, dass er wieder nach Paris zurückfahren musste, und sog die Meeresluft tief in seine Lungen ein, was bei ihm eine tiefe innere Zufriedenheit hervorrief. Er dachte an seine Frau und seine beiden drei- und fünfjährigen Töchter und dankte Gott, dass es ihm trotz seiner schlimmen Vergangenheit so gut ging. Aber sein Glück dauerte nicht lange. Er schlenderte Richtung Lieferwagen und sah unter dem linken Scheibenwischer einen Zettel, der eindeutig nach einer Parkbusse aussah.

»Merde«, dachte er, ging um den Lieferwagen herum, entfernte den Zettel und steckte ihn ein. Später würde er sich Vorwürfe machen, nicht dass er keine Parkgebühren bezahlt hatte, sondern dass er zu spät erkannt hatte, dass er in eine Falle getappt war. Denn an der Stelle, wo er seinen Lieferwagen parkiert hatte, wurden grundsätzlich keine Parkbussen verteilt, weil das zu einem Aufstand im Quartier geführt hätte.

»Sind sie Ibrahim Benida?«, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Ibrahim drehte sich langsam um und fragte:

»Wer möchte das wissen?«

Der in schwarz gekleidete Mann zog einen Ausweis hervor, den ihn als Beamten des Nachrichtendienstes auswies. Ibrahim überlegte sich kurz, was er für Optionen hatte. Aber als er die unmittelbare Umgebung überblickte, erkannte er, dass eine Flucht zwecklos war. Er erkannte mehrere Sicherheitsleute, die sich zwar Mühe gaben, nicht aufzufallen, aber einen Bullen erkannte er immer schon von weitem.

»Ja das bin ich«, antwortete er freundlich und fragte: »Wie kann ich behilflich sein?« Lavoisier hatte ihm einmal erklärt, dass in einer ausweglosen Situation Freundlichkeit das beste Ergebnis versprach.

»Kommen Sie bitte mit«, sagte der Mann.

Ibrahim ging neben ihm her, und nach etwa fünfzig Metern blieben sie neben einem schwarzen Lieferwagen stehen. Die seitliche Schiebetüre ging auf, und er wurde unsanft in den Wagen befördert. Nachdem die Türe wieder geschlossen war, fuhr der Wagen davon.

»Darf ich fragen, worum es geht. Es muss sich um ein Missverständnis halten«, sagte Ibrahim.

»Schweigen Sie!«, bekam er eine harsche Antwort.

Der Lieferwagen fuhr Richtung Norden, und nach einer guten Viertelstunde bog der Fahrer nach links ab und hielt vor einem grossen Polizeigebäude an. Nach der Sicherheitskontrolle fuhren sie in den Innenbereich und anschliessend ins Untergeschoss, wo sie anhielten. Sie stiegen aus, und er wurde augenblicklich in Gewahrsam genommen. Nachdem man ihm alle Gegenstände abgenommen hatte, wurde er in einen fensterlosen Verhörraum mit zwei Stühlen und einem Tisch gebracht. An der Rückseite war ein grosser Spiegel. Hinter diesem, davon ging Ibrahim aus, sassen weitere Beamte und beobachteten ihn. Nach wie vor war niemand bereit, ihm zu sagen, worum es ging. Er wusste, dass sie ihn eine Weile schmoren lassen würden. Er kannte das nur zu gut aus seiner Vergangenheit. Aber er irrte sich. Nach weniger als fünf Minuten traten ein knapp sechzigjähriger Beamter, der leicht übergewichtig war, und sein, dem Aussehen nach zu beurteilen, viel jüngerer Assistent ein. Demonstrativ schaute Ibrahim auf die Uhr, deren Zeiger viertel nach vier Uhr anzeigten. Lavoisier hatte also noch etwas mehr als vier Stunden Zeit. Die Beamten setzten sich, und der ältere erklärte:

»Mein Name ist Joseph Sarrasin und ich bin der Stellvertretende Direktor der Zentraldirektion für Inlandsaufklärung.« Er las Ibrahim seine Rechte vor und fragte ihn, ob er alles verstanden habe, denn in der oberen linken Ecke lief eine Überwachungskamera mit, die rot blinkend alles aufzeichnete. Ibrahim nickte und fragte:

»Weshalb bin ich hier?«

»Sie sind hier, weil sie der Beihilfe zum Terrorismus verdächtigt werden. Sagt ihnen der Name Dr. Marcel Lavoisier etwas?«

»Habe ich nicht Anrecht auf einen Anwalt?«, fragte Ibrahim höflich.

»Nein, haben Sie bei Terrorismusverdacht nicht. Ich wiederhole also die Frage nochmals. Sagt ihnen der Name Dr. Marcel Lavoisier etwas?« Der Klang seiner Stimme hatte einen leicht aggressiven Unterton.

»Nein«, gab Ibrahim sehr schnell zu Protokoll. Lavoisier hatte ihm einmal erklärt, dass die verstrichene Zeit zwischen einer Frage und der darauf folgenden Antwort für einen geschulten Beamten sehr aufschlussreich sein konnte. Je länger jemand mit der Antwort wartete, desto grösser war die Wahrscheinlichkeit, dass er log.

»Sind Sie ganz sicher?«, doppelte Sarrasin nach.

»Der Name sagt mir nichts!«

Sarrasin öffnete eine Mappe und zog ein Bild hervor.

»Kennen Sie diese Person?«, fragte er Ibrahim, nachdem er ihm das Bild gezeigt hatte.

Ibrahim hatte sich schon gedacht, dass das Verhör in diese Richtung gehen würde. Der nächste Schritt würde sein, dass sie ihm ein Bild zeigen würden, bei dem Lavoisier und er zusammen abgebildet waren. Er musste also möglichst nahe an der Wahrheit bleiben, aber Lavoisier zugleich schützen und ihm genügend Zeit verschaffen.

»Ja, den kenne ich, was ist mit ihm?«, antwortete Ibrahim, und die Antwort kam ebenso schnell wie das erste Nein.

»Das ist Dr. Lavoisier. Er wird wegen Terrorverdacht gesucht«, sagte Sarrasin.

Nun ergriff Ibrahim die Initiative. »Das muss eine Verwechslung sein. Das ist Chalid Ibn Chaldun, er hat heute mit mir eine Warenladung in den Hafen gebracht.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Das weiss ich nicht. Wir haben nach dem Abladen im Hafen noch etwas getrunken, und dann hat er sich verabschiedet.«

»Kommen Sie schon, Ibrahim, wir wissen, dass Sie mit ihm unter einer Decke stecken«, dabei zog er eine weitere Fotografie mit der Abbildung von Lavoisier und ihm bei einer Autobahnzahlstelle kurz vor Marseille hervor.

»Ich sagte ihnen ja, dass ich ihn kenne, aber das ist nicht Dr. Irgendwas oder wie er heisst, sondern Chalid Ibn Chaldun.«

»Ich wiederhole meine Frage nochmals, wo ist er jetzt?«, sagte Sarrasin, und sein Tonfall verriet nichts Gutes.

»Ich weiss es nicht«, antwortete Ibrahim, und seine Mimik und Gestik verliehen seiner Aussage eine gewisse Glaubwürdigkeit. Aber eben nur eine gewisse, und genau das fiel Sarrasin auf. Er spürte förmlich, dass Ibrahim mehr wusste, als er sagte.

»Versuchen wir es anders herum. Was gedenkt Lavoisier oder von mir aus Chalid Ibn Chaldun oder wie er sich nennt, zu tun?«

»Ich weiss es nicht«, entgegnete Ibrahim.

»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte Sarrasin mit leiser Stimme, als ob er dies mehr zu sich selber sagen würde, und machte eine lange Pause, während der er Ibrahim lange musterte. Dabei holte er tief Luft, und mit zunehmender Lautstärke und Intensivität, die am Ende fast ins Schreien überging, sagte er zu Ibrahim:

»Ich glaube ihnen kein Wort. Ich gebe ihnen eine letzte Chance, uns Informationen über die gesuchte Person zu geben. Ansonsten werde ich Sie wegen Terrorverdachts in Untersuchungshaft setzen lassen. Und zwar auf unbestimmte Zeit, da können Sie dann ein Jahr lang darüber nachdenken, wie es wohl ihrer Frau und den beiden kleinen Töchtern geht, nachdem diese aus der Zeitung erfahren haben, dass Sie ein Terrorist sind!«

Ibrahim wog innerlich ab und wusste nicht, wie er aus diesem Schlamassel herauskommen konnte. Sarrasin merkte, dass Ibrahim mit sich zu ringen schien, und sagte bewusst nichts.

»Kommen Sie schon, Ibrahim«, meldete sich der andere Beamte in fast freundschaftlichem Ton. »Was ist schon dabei. Sie geben uns, was wir wollen, und im Gegenzug lassen wir Sie laufen, denken Sie an Ihre Zukunft, an Ihre Kinder und Ihre Frau. Wollen Sie ihnen das wirklich antun?«

Das Säuseln in seiner Stimme war für Ibrahim das reinste Gift. Er kannte dies. Böser Polizist und guter Polizist. Nun war der gute an der Reihe und versuchte, ihn kleinzukriegen.

»Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Ich weiss nicht, wo er ist.« Wiederholte er seine Aussage.

»Gut, wie Sie meinen«, sagte Sarrasin.

»Wir übergeben ihn dem Amerikaner. Soll er schauen, was er mit ihm anfangen kann«, sagte Sarrasin zu seinem Assistenten.

»Das heisst dann wohl Guantanamo«, sagte Sarrasin und richtete die Worte an Ibrahim.

»Oder wollen Sie uns noch was sagen?«

Ibrahim wusste, dass es keinen Sinn hatte, etwas zu sagen. Wenn er Lavoisier verraten würde, so würde sich seine Lage nicht verbessern. Ganz im Gegenteil, er wäre der Beihilfe für was auch immer schuldig und würde wohl für die nächsten zehn Jahre im Knast landen. Ibrahim schüttelte den Kopf und wiederholte, dass er nicht wusste, wo Chalid Ibn Chaldun war. Sarrasin legte die Bilder wieder in die Mappe zurück und stand auf. Sein Assistent tat es ihm gleich, und beide gingen zur Türe. Sarrasin drehte sich um und sagte:

»Ihre Entscheidung.«

Danach schloss sich die Türe, und Ibrahim ging davon aus, dass die Beamten, die sich hinter dem Spiegel verborgen hielten, mit Sarrasin und seinem Assistenten das weitere Vorgehen besprechen würden. Er wusste, dass er ständig beobachtet wurde. Er musste sich überwinden, dem inneren Drang, auf die Uhr zu schauen, nicht nachzugeben. Er wollte ihnen keinen Hinweis darauf geben, dass in ein paar Stunden Lavoisier mit einem Schiff das Land verlassen würde.

»Was meint ihr«, fragte Sarrasin im angrenzenden Zimmer, während sie durch den Spiegel Ibrahim beobachteten. »Weiss er wirklich nichts?«

»Er schien mir ehrlich zu sein und bemühte sich, uns Auskunft zu geben. Er verschwieg nicht, dass er ihn kannte. Allerdings nannte er einen anderen Namen«, meinte einer der Beamten.

»Entweder ist er ein ausgekochtes Schlitzohr und hat uns von Anfang an durchschaut, oder er ist wirklich komplett ahnungslos«, meinte ein anderer.

»Ich bin sicher, dass er irgendetwas zu verbergen hat«, sagte Sarrasin. »Ich weiss zwar nicht, was und ob es mit unserem Fall zu tun hat, aber er weiss etwas.«

»Er scheint mir nicht der Hellste zu sein, aber ich denke auch, dass er irgendetwas zu verbergen hat.«

»Übergeben wir ihm dem Amerikaner?«, fragte der Assistent von Sarrasin.

»Ich habe ein mulmiges Gefühl dabei«, antwortete ein anderer.

»Ich habe Weisung von höchster Stelle, alles zu unternehmen, um Lavoisier dingfest zu machen«, erklärte Sarrasin. Er wusste, dass der im nebenan liegenden Büro wartende CIA-Beamte anderen gesetzlichen Bestimmungen unterlag als sie als Franzosen. Er war sich bewusst, dass der CIA-Agent unzimperliche Methoden anwenden würde, um aus Ibrahim die gewünschten Informationen herauszupressen. Dabei würde er die französischen Gesetze zwangsläufig verletzen. Sarrasin musste abwägen, ob ihm das Einhalten der französischen Gesetze wichtiger war als die Ergreifung von Lavoisier.

»Der Zweck heiligt die Mittel«, zitierte er Machiavelli und entschied, dass der Amerikaner es richten sollte.

Sarrasin betrat den Nebenraum und erklärte Clint Miller, einem grossgewachsenen, kräftig gebauten CIA-Agenten aus Washington, dass der Verdächtige nun zu seiner Verfügung stand.

»Ich werde den Kerl schon weichklopfen«, sagte Miller, stand auf und begleitete Sarrasin ins Verhörzimmer.

»Tun Sie, was Sie tun müssen, aber nicht mehr als notwendig«, instruierte er Miller.

Beide setzten sich gegenüber Ibrahim hin. Miller starrte ihn mit durchdringendem Blick an, aber Ibrahim liess sich nichts anmerken. Miller lächelte, stand auf, ging in die linke Ecke, streckte sich und zog den kleinen Stecker der Überwachungskamera heraus, wobei augenblicklich das rot blinkende Licht erlosch. Ibrahim schaute Sarrasin an, doch dieser nickte bloss, stand auf und verliess den Raum. Nachdem die Türe verschlossen war, setzte sich Miller wieder.

»Also, Ibrahim, du behauptest also, dass du nicht weisst, wo Lavoisier ist«, begann er und duzte ihn, als sei er ein kleiner Junge, der vor dem Rektor seiner Schule stand.

»Ja, ich weiss nicht, wo er ist, und das habe ich auch schon Ihren Kollegen gesagt«, antwortete Ibrahim, dem die Sache mit dem Ausschalten der Überwachungskamera nicht im geringsten gefiel.

»Das sind nicht meine Kollegen«, sagte Miller, und die Art und Weise, wie er dies sagte, erinnerte mehr an einen Kasernenhof als an einen Verhörraum.

»Ich sage dir was, mein Junge, wenn das meine Kollegen wären, dann hättest du schon lange die Wahrheit erzählt!«, sagte er und schlug so heftig mit beiden Händen auf den Tisch, dass beinahe die Mappe vom Pult zu Boden fiel. Ibrahim zuckte augenblicklich zusammen. Er konnte nicht sehen, dass auch ein paar Beamte hinter dem Spiegel zusammengezuckt waren.

»Was stellst du dir eigentlich vor? Du begleitest einen gesuchten Terroristen, der die Welt vielleicht in Schutt und Asche legen wird, und denkst, du könntest hier einfach heil hinaus spazieren?«, schrie er ihn an, und seine Gesichtsfarbe verriet Ibrahim, dass Miller kurz davor war, auszurasten.

»Ich habe nichts Unrechtes getan«, antworte Ibrahim nach wie vor in einem anständigen Ton.

»Weisst du, was sie mit dir in Guantanamo machen werden, du kleiner Dreckskerl?«, fuhr Miller in beleidigender Art weiter. »Denn dorthin werden wir dich verfrachten. Sag schon mal in Gedanken adieu zu deiner Frau und deinen beiden Töchtern. Vielleicht sollten wir uns deine Töchter vornehmen, damit du endlich die Wahrheit herausrückst.«

Ibrahim spürte, wie bei der Erwähnung seiner Frau und vor allem seiner Töchter Wut und Zorn in ihm aufstieg. Er wusste aber, dass das gewollt war und ein Teil der aggressiven Verhörmethode des CIA-Mannes, der ihn damit provozieren wollte. Miller stand nun auf und bewegte sich im Verhörraum hin und her. Er hatte etwas Raubtierhaftes an sich. Es machte Ibrahim nervös, als er hinter seinem Stuhl hin- und herging.

»Junge, Junge, wie blöd kann man nur sein«, begann Miller wieder. »Los, sag‘s schon, dann sind wir hier bald fertig.« Als er das sagte, trat Miller ganz nah an ihn heran, beugte seinen Oberkörper leicht nach vorne, und während er ihm zuflüsterte, legte er seine Hand in väterlicher Manier auf seine Schulter.

»Wo, verdammt nochmal, ist Lavoisier? Und ich will eine befriedigende Antwort.«

»Ich weiss es nicht«, sagte Ibrahim.

»Verfluchte Scheisse«, schrie in Miller an und schlug sein Gesicht mit voller Wucht auf die Tischplatte. Ein lautes Krachen und ein verdächtiges Knacken waren selbst im Zimmer hinter dem Spiegel zu hören. Als Ibrahim sein Gesicht vom Tisch erhob, spürte er, dass seine Nase gebrochen war und ein leicht nach Eisen riechender Geschmack über seine Lippen floss. Er blutete heftig. Miller riss ihn an den Haaren nach hinten und nach oben. Dann schlug er ihn mit der Faust ins Gesicht, wobei Blut auf den Tisch spritzte.

»Letzte Chance, du kleiner Wixer, wo ist Lavoisier?«

»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich es nicht wei….« Ibrahim konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, als ein weiterer Schlag ihn in die Magengegend traf und er Gesicht voran in den Spiegel gestossen wurde, wo er mit dem blutüberströmten Gesicht aufschlug.

»Falsche Antwort«, sagte Miller zu ihm.

Ibrahim starrte in den Spiegel und wusste, dass die anderen ihn sehen und hören mussten.

»Warum lasst ihr das zu«, schrie er in den Spiegel. »Ich bin Franzose, und mein Grossvater ist im Krieg für euch gefallen. Helft mir!«, bat er.

»Du denkst, dass diese Weicheier dich da rausholen werden?«, sagte Miller und lachte hämisch. »Die Franzosen haben zwar wesentlich dazu beigetragen, dass es so etwas wie Menschenrechte gibt, aber wenn es hart auf hart geht, sind sie zu nichts zu gebrauchen. Sie sind ein verwöhnter Haufen Dreck. Vergiss sie. Sie werden nicht kommen.« Er packte Ibrahim und zerrte ihn auf seinen Stuhl.

»Also Freundchen, beginnen wir nochmals von vorne.« Dabei veränderte er seine Stimme und klang etwas freundlicher. Er zog ein Papiertaschentuch aus seinem Kittel und reichte es ihm. Ibrahim begann, etwas Blut aus seinem Gesicht zu wischen, als er sich plötzlich erinnerte, dass in den Gegenständen, die sie ihm abgenommen hatten, auch das Papiertaschentuch auf dem die Peerbezeichnung und der Zeitpunkt des Treffens standen, zu finden war. Wäre sein Gesicht nicht blutig und angeschwollen gewesen, hätte Miller wohl wahrgenommen, dass Ibrahim irgendetwas beschäftigte.

»Sind in der Zwischenzeit die Erinnerungen zurückgekommen?«, fragte Miller in einem versöhnlichen Ton. »Wo ist Lavoisier?«

»Ich kann mich nur wiederholen«, sagte Ibrahim. »Ich weiss es nicht.«

Der nächste Schlag traf in völlig unerwartet oberhalb des linken Auges. Seine Augenbraue platze auf und begann augenblicklich heftig zu bluten, wie bei einem Boxer, der hart getroffen wurde. Er schrie laut auf, fiel durch die Wucht auf den Boden und war leicht benommen. Miller stand über ihm, zog ihn am Hemdkragen leicht nach oben und sagte zu ihm:

»Bevor ich dir die Zähne rausschlage, du Scheisskerl, gebe ich dir noch eine letzte Chance. Wo ist Lavoisier?«

»Ich kann mich nur wiederho…«

»Schluss jetzt, das ist genug«, hörte Ibrahim eine andere Stimme rufen. Er blickte auf, und obwohl er alles wie durch einen nebligen, rottrüben Schleier sah, konnte er Sarrasin erkennen.

»Was soll das heissen?«, fragte Miller.

»Ich habe gesagt, es ist genug«, wiederholte Sarrasin.

»Ich muss mit Ihnen reden«, sagte er zu Miller, der Ibrahim losliess, so dass er zurück auf den Boden glitt.

Sie liessen Ibrahim allein. Ein Beamter trat ein und stellte einen kleinen Stapel Papiertaschentücher auf den Tisch. Ibrahim versuchte, mit einem Papiertaschentuch die blutende Platzwunde zu stillen. Nachdem Miller und Sarrasin in den Nebenraum eingetreten waren, schickte sich Miller gerade an, seinem Unmut Luft zu machen, denn er duldete keine Unterbrechung während eines Verhörs. Er war überzeugt, dass er kurz vor dem Durchbruch gewesen war.

»Wir haben womöglich eine heisse Spur«, sagte Sarrasin.

»Und die wäre?«, fragte Miller barsch. Der immer noch im Verhörmodus zu schein schien.

Sarrasin zog ein zerknülltes Papiertaschentuch hervor, legte es auf den Tisch und glättete es mit einer Hand.

Beide standen nun nahe genug, so dass sie die handgeschriebenen Wörter lesen konnten.

»Peer 22, 20:30«, las Sarrasin vor.

»Woher stammt es?«, fragte Miller. Sarrasin deutete auf Ibrahim, den man durch den Spiegel sehen konnte. Miller wollte den Raum verlassen und brüllte:

»Diesem Hurensohn werde ich zeigen, was wir mit Verrätern machen.« Aber Sarrasin hielt ihn zurück und schlug vor, dass sie sich nun darauf konzentrieren sollten, was sie betreffend Peer 22 und 20:30 Uhr unternehmen wollten. Das brutale Vorgehen von Miller war ihm sauer aufgestossen.

»Wenn es sich herausstellt, dass Lavoisier zu diesem Zeitpunkt dort aufkreuzt, weil er das Land verlassen will, dann gehört Ibrahim Ihnen«, schlug er Miller vor, wobei es sich mehr als ein Befehl und weniger als ein Vorschlag anhörte.

»Einverstanden!«, antwortete Miller.

»Sperrt ihn in eine Zelle und sorgt dafür, dass seine Platzwunde genäht wird«, sagte Sarrasin zu einem Beamten und deutete auf Ibrahim. Noch war genügend Zeit, um eine geplante Terrorabwehraktion vorzubereiten. Sie stellten eine Sondereinheit zusammen, die sich aus erfahrenen und kampferprobten Männern zusammensetzte. Die Einheit verschob sich in kleinen Gruppen und besetzte verschiedene strategische Punkte in der Nähe des Peer 22. Auch zwei Scharfschützen wurden auf umliegende Dächer platziert, wobei die Dunkelheit ihnen entgegenkam. Sarrasin gab den Befehl, dass Lavoisier lebend ergriffen werden müsse. Er wies die Leute aber auch an, dass er um jeden Preis gefasst werden musste. Damit meinte er, dass ein Schuss ins Knie, wenn notwendig, durchaus zulässig war.

»Das wird mir Lavoisier nie verzeihen«, dachte Ibrahim, nachdem seine blutende Wunde genäht und durch eine Pflegefachfrau versorgt worden war. Er lag seit einer Stunde in einer kleinen Zelle und wäre am liebsten im Boden versunken. Wie konnte er nur so dämlich sein, das Papiertaschentuch, nachdem er die gewünschte Information gelesen hatte, nicht wegzuwerfen.

»Es geschieht mir ganz recht«, dachte Ibrahim. Beim Gedanken, dass sie Lavoisier ergreifen würden, wurde es ihm angst und bange. Sie würden ihn nach Guantanamo auf Kuba bringen und in irgendeinem Dreckloch verrotten lassen. Er dachte an seine Frau, an seine beiden Töchter, die er vielleicht nie mehr sehen würde, und nur mit grosser Mühe konnte er die ersten Tränen unterdrücken.

»Sind alle einsatzbereit?«, fragte Sarrasin, der in einem in der Nähe parkiertem Lieferwagen sass, der als Kommandozentrale diente. Er leitete den Einsatz und hatte als Kommandant die Gesamtverantwortung. Miller sass, ebenfalls mit einem Headset ausgerüstet, neben ihm. Alle Mitglieder der Spezialeinheit meldeten sich und bestätigten ihre Kampfbereitschaft. Nun hiess es warten. Die Uhr auf Sarrasins Handgelenk zeigte 20:10 Uhr. Es blieben also noch 20 Minuten.

Lavoisier sah auf seine Uhr. Es war an der Zeit, den vereinbarten Treffpunkt aufzusuchen. In Gedanken ging er nochmals den genauen Weg durch und stellte befriedigt fest, dass er genau wusste, wohin er gehen musste. Er nahm seine kleine Reisetasche und zog die Kapuze und den Kragen seines dunklen Mantels hoch, denn es hatte angefangen zu regnen. Er bog beim alten Hafen nordwärts ab und schlenderte gemütlich dem Quai entlang. Er war etwas zu früh, aber er wusste, dass der Löwe von Alexandria es nicht gern sehen würde, wenn er sich verspäten würde. Dann verlangsamte er seine Schritte, denn bis zum Treffpunkt waren es nur noch etwa dreissig Meter. Kapitän Sanchez war noch nicht zu sehen.

»Da kommt eine Person zum Treffpunkt«, meldete sich ein Mitglied der Spezialeinheit.

»Beschreibung«, verlangte Sarrasin.

»Normale Grösse. Langer Mantel mit hochgezogener Kapuze und aufgeklapptem Kragen. In der rechten Hand trägt er eine kleine Reisetasche.«

»An alle Einheiten. Gesuchtes Objekt nähert sich dem Treffpunkt. Ich wiederhole, gesuchtes Objekt nähert sich dem Treffpunkt. Zugriff auf mein Kommando.«

Lavoisier ging ruhigen Schrittes zum Treffpunkt, als er aus einem Nebengebäude ein Geräusch wahrnahm.

»Das muss wohl Kapitän Sanchez sein«, dachte er. Aber er irrte sich.

»Zugriff jetzt!« schrie Sarrasin, und wie aus dem Nichts stürmten zehn schwer bewaffnete Männer der Sondereinheit aus ihren Verstecken und umzingelten die Person.

»Tasche auf den Boden, und ich will Ihre Hände sehen!«, brüllte der Chef der sich vor Ort befindenden Kampftruppe. Die Tasche fiel auf den Boden, und er konnte sehen, wie die Hände instinktiv gegen den Himmel gehoben wurden.

Lavoisier war nicht wirklich überrascht, als er sah, wer da aus dem Nebengebäude kam.

»Objekt gesichert«, hörte Sarrasin in seinem Lieferwagen. Er freute sich sichtlich über die gelungene Aktion, und Miller nickte zustimmend und gratulierte.

»Nun gehört Ibrahim mir«, dachte Miller, »und das wird diesem Schweinehund nicht gefallen.«

»Was soll die ganze Scheisse?«, hörten sie im Kommandowagen und erschraken augenblicklich, denn was sie hörten, gefiel ihnen ganz und gar nicht.

»Lasst mich los, was soll das?«, hörte man eine brüllende und schreiende Stimme.

»Kommandant, wir haben ein Problem.«

»Was ist los«, fragte Sarrasin.

»Es ist nicht Lavoisier, es ist eine Frau, eine Nutte, um genau zu sein. Sie fragte, wo Ibrahim sei.«

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