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Kapitel 2: Das Gottesschloss

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Schweiz, Ende November 2027

Nachdem Nabil Paris über die A6 verlassen hatte und kurz vor Mâcon auf die A40 Richtung Genf ostwärts abgezweigt war, gönnte er sich auf einer grösseren Raststätte eine Pause. Er bestellte in einem kleinen Restaurant einen doppelten Espresso und ass ein kleines Schinkensandwich dazu. Er nahm sein nicht registriertes Smartphone hervor und buchte telefonisch im Voraus ein Zimmer für eine Nacht im Four Seasons Hotel des Bergues, einer der besseren Adressen am Quai des Bergues in Genf. Das elegante Hotel, vom renommierten Innenarchitekten Pierre-Yves Rochon entworfen, lag direkt an den Ufern des Genfersees. Lange verweilte er nicht auf der Raststätte, denn er wollte Frankreich so rasch wie möglich verlassen. So fuhr er die restliche Strecke nur unterbrochen durch die üblichen Zahlstellen, die ihn eigentlich jedes Mal ärgerten, obwohl er deren Notwenigkeit erkannte. Nabil erreichte gegen Abend die Schweizer Grenze. Er passierte auf der Autobahn den Grenzposten bei Genf und fuhr direkt zum Hotel. Die in luxuriösem Stil gestalteten Zimmer, alle mit hohen Decken und klassischem französischem Mobiliar, gefielen Nabil. Sein Zimmer verfügte über alle Annehmlichkeiten; der Ausblick auf den Genfersee wäre äusserst beeindruckend gewesen, wenn nicht die Nacht schon hereingebrochen wäre. Natürlich hatte Nabil unter einem anderen Namen eingecheckt und das Zimmer schon bei seiner Ankunft bar bezahlt. Die Mitarbeiterin an der Rezeption schien das nicht weiter zu interessieren, schliesslich war das Hotel für seine Diskretion bekannt, wie die meisten Hotels in Genf in dieser Preisklasse. Er gönnte sich ein heisses Bad und bestellte sich danach ein grosszügig bemessenes Nachtessen auf sein Zimmer.

Das Rindsfilet und die Bratkartoffeln waren ganz nach seinem Geschmack, und der Duft der Rosmarinsauce lag immer noch in der Luft, als er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er genoss den puren Luxus um sich herum, denn er wusste, dass es nur für kurze Zeit sein würde. Bald würden der Staub und der Sand der Sahara seine Begleiter sein. Nabil schenkte sich Tee nach, nahm das kleine Schreiben von Lavoisier hervor und tippte die aufgeschriebene Telefonnummer in sein Smartphone ein.

Auch las er die vorgegebene Begrüssungsformel. Es klingelte eine Weile, bis dann jemand den Anruf entgegennahm.

»Sanders, hier«, hörte er eine angenehm klingende Stimme sagen.

»Mein Name ist Nabil ibn Saada und ich bin ein guter Freund von Marcel Lavoisier. Er bittet Sie, Tycho Brahe herzlich von ihm grüssen zu lassen.«

»Das werde ich natürlich gerne tun. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Sanders und man merkte seiner Stimme an, dass er es ernst meinte. Tycho Brahe konnte er natürlich nicht wirklich grüssen, denn damit war eine in seinem Garten stehende Skulptur des bekannten dänischen Adligen gemeint, der einer der bedeutendsten Astronomen des 16. Jahrhunderts gewesen war. Aber der Hinweis auf Tycho Brahe war ein Code von Lavoisier, der ihm beweisen sollte, dass Nabil absolut vertrauenswürdig war. Sie hatten diesen Code gemeinsam vereinbart, als auch Sanders und er noch in Syrien waren.

»Ich arbeite an einem Forschungsprojekt, und Marcel, also Dr. Lavoisier bat mich, Ihnen unser Anliegen zu unterbreiten. Ich würde Sie deshalb gerne treffen. Er meinte, wenn es jemanden gebe, der unser Problem lösen könnte, dann wären Sie es«, erklärte Nabil die Sachlage und ergänzte: »Wir stehen unter erheblichem Zeitdruck.«

»Wann könnten Sie zu mir kommen?«, fragte Sanders.

Wenn Sie es nicht als Anmassung empfinden, so würde ich Sie gerne schon morgen Nachmittag besuchen.«

»Sie wollen ja sicher noch etwas essen, sagen wir 12:00 Uhr? Meine Gemahlin wird uns ein ausgezeichnetes Arbeitsessen zubereiten.«

»Sehr gerne, ich fühle mich geehrt«, antwortete Nabil, und sie verabschiedeten sich voneinander.

Nun wollte Nabil wissen, wer Tycho Brahe eigentlich wirklich war. Dass er zusammen mit Johannes Kepler wohl der bedeutendste Astronom des 16. Jahrhunderts war, wusste er schon, aber viel mehr war ihm nicht bekannt. Er durchstöberte das Internet und fand zusätzliche Informationen über Tycho Brahe. So würde er sich morgen allenfalls nicht blamieren, dachte er. Er fand heraus, dass mit »Tycho« ein Mondkrater und mit »Tycho Brahe« ein Marskrater bezeichnet wurden. Ebenso hiess ein Asteroid so, ferner trugen eine Transportrakete und eine Sternwarte mit einem Planetarium in Rostock seinen Namen. Sogar ein Exoplanet erhielt den Namen »Brahe.« Er zog seinen 2-Terabyte-Highspeed-Memory-Stick hervor und steckte ihn in sein Notebook.

»Das Gottesschloss«, dachte er und »wie kann man dich entziffern?«, fragte er sich. Obwohl Nabil Computerwissenschaften studiert hatte und von Kryptologie sehr viel verstand, konnte er das Gottesschloss nicht annähernd entziffern. Die zu Grunde liegenden Daten waren mehr als dreitausend Jahre alt, und es beeindruckte ihn auch diesmal wieder, was für geniale Menschen damals diesen Code geschrieben hatten. Erst als er am Tag zuvor von Lavoisier erfahren hatte, was der eigentliche Hintergrund war, begann er sich zu fragen, ob das wirklich Menschen waren, die über so grosse Fertigkeiten verfügten. Er bereitete sich auf den folgenden Tag vor und versuchte nochmals die gängigen kryptografischen Ansätze zu überprüfen, musste aber nach einer Stunde ohne Erfolg aufgeben. Er legte sich ins Bett und schlief augenblicklich ein.

Er erwachte traumlos am frühen Morgen, bevor eine Melodie seines Smartphone in aufwecken konnte. Er duschte, zog sich sportlich an und bestellte sich ein Frühstück aufs Zimmer. Nachdem er fertig gegessen hatte, verliess er das Hotel und spazierte über den Pont des Bergues Richtung Süden. Anschliessend überquerte er die Strasse, setzte seinen Spaziergang am linken Seeufer fort und gelangte zum Jardin Anglais. Am Eingang passierte er die berühmte Blumenuhr. Die grosse Uhr ist in ihrer Art einmalig und gehört weltweit zu den grössten Blumenuhren. Er trat in ein kleines Restaurant, La Potinière, und setzte sich ans Fenster. Eine freundliche Serviceangestellte kam an seinen Tisch und nahm die Bestellung auf. Kurze Zeit später trank er einen Cappuccino und ass ein Schokolade-Croissant, schliesslich war er jetzt in der Schweiz.

Irgendetwas beschäftigte ihn. Er konnte es nicht richtig zuordnen, es fühlte sich aber nach Ungewissheit und Gefahr an. Er wusste, dass er unbedingt nach Ägypten musste. Er dachte an seine in Kairo lebende Mutter und fragte sich, wie es ihr wohl ginge. Er sah sie selten, und seine Telefonanrufe wurden immer kürzer, denn er spürte, dass sie am liebsten alleine gelassen werden wollte. Seit damals war sie eine gebrochene Frau. Er sah sie seither niemals lächeln, denn tiefste Verbitterung machte ihren Tag zur Hölle. »Warum, warum?«, hatte sie damals geschrien, als sie davon erfuhr. Er würde diese herzzerreissenden Schreie sein Leben lang nie vergessen.

Er bezahlte, verliess das Restaurant und spazierte durch den Jardin Anglais. Schliesslich gelangte er wieder ans Ufer des Genfersees. Er sah auf den See hinaus und glaubte irgendwie zu wissen, dass grosses Ungemach auf die Menschheit zukommen würde. Er spürte förmlich, wie er sich zu einer Mission hingezogen fühlte, die mit aller Macht verhindern musste, dass das Ende der Menschheit kommen würde. Das gab ihm Kraft und ein wenig Zuversicht.

»Wenn wir wüssten, wie man das gottverdammte Ding wieder abschalten könnte«, ging es ihm durch den Kopf, »dann würde vielleicht Hoffnung bestehen.«

Er erinnerte sich an einen Kriegseinsatz in Syrien. Er war zusammen mit Lavoisier und ein paar anderen in einem Spezialteam. Sie philosophierten oftmals am Abend über diverse Dinge. An jenem Abend war die Stimmung tief betrübt, obwohl die Sonne im Westen im schönsten Abendrot, vermischt mit violetten Farbtönen, langsam unterging. Sie sassen zusammen, als Lavoisier eine Frage in die Runde warf:

»Was denkt ihr, wird die Menschheit jemals zu einer friedlichen Form des Zusammenlebens fähig sein, oder wird ein ewiger Kampf herrschen?«

»Wenn alle Völker endlich die Demokratie und die Menschenrechte respektieren würden, dann gäbe es vielleicht eine Chance?«, meinte einer.

»Vergiss es, wir sind Menschen. Und schau doch, was die Demokratie alles angerichtet hat. Wir bekriegen uns wegen allem Möglichen. Mal geht’s um den Kapitalismus, mal um den Kommunismus oder um den Nationalismus oder den Sozialismus und was weiss ich noch alles«, sagte ein anderer.

»Die schlimmsten Kriege sind die Religionskriege. Ohne Religionen würde es wohl weniger Kriege geben«, sagte ein Dritter.

»Wir finden immer einen Grund, um einen Krieg anzufangen. Letztlich geht es immer um eine Ideologie, die mit allen Mitteln durchgesetzt werden soll«, meinte ein weiterer Kamerad.

»Es geht nur um Macht«, hatte er selber damals gesagt, und auch heute war er von dieser Sichtweise überzeugt.

Lavoisier fragte damals weiter:

»Was würdet ihr mit den Menschen tun, wenn ihr Ausserirdische und uns technologisch Tausende von Jahren voraus wäret?«

»Ich würde die ganze Menschheit ausrotten«, kam sofort eine Antwort aus der Runde. Einige nickten. Nabil erinnerte sich, dass auch er damals genickt hatte.

»Sind wir Menschen wirklich so schlimm?«, fragte er sich, bevor er wieder in Richtung seines Hotels zurückging.

Er packte seinen Rollkoffer, verliess das Hotel, stieg in seinen Wagen ein und fuhr dem Genfersee entlang. Bei Lausanne bog er nordwärts Richtung Fribourg ab und näherte sich ohne Zwischenfälle dem Ziel. Als er im kleinen Dorf den Hügel hochfuhr, sah er schon vom Weiten die Sternwarte. Er wusste, dass er am richtigen Ort war. Nach wenigen Minuten erreichte er die Einfahrt, parkte seinen Wagen und stieg aus. Die Aussicht auf die Voralpen und die zum Teil schneebedeckten Berge war fantastisch. Die Sonne stand zwar tief am Himmel, aber sie wärmte ihn, und auch das gab ihm ein Gefühl, dass das, was er tat, richtig war. Dabei kam ihm ein chinesisches Sprichwort in den Sinn. Es lautete:

»Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.«

»Wir werden kämpfen, wie wir als Menschen noch nie gekämpft haben«, sagte er zu sich selber.

Als er beim Eingang zum Anwesen das Tor öffnen wollte, begrüssten ihn ein paar Katzen, indem sie in verschiedensten Höhen und Tiefen miauend die reinste Kakophonie von sich gaben. Er musste lachen, was er schon längere Zeit nicht mehr getan hatte.

»Das ist ein guter Ort«, dachte er. Aber zum Nachdenken hatte er keine Zeit mehr, denn George Sanders kam ihm lächelnd entgegen.

»So, gab’s ein Begrüssungskonzert?« fragte er und bückte sich, um seine Katzen zu streicheln, was diese sich gefallen liessen. Nun wich das Miauen dem für Katzen typischen Schnurren. Das gefiel Nabil, und eine positiv anzufühlende innere Wärme stieg in ihm empor.

»Sie müssen Nabil sein«, fragte Sanders und reichte Nabil zur Begrüssung die Hand.

»Herr Sanders, vielen Dank für den herzlichen Empfang«, antwortete Nabil. Sanders war etwas mehr als siebzig Jahre alt und ein Experte auf dem Gebiet der Astrophysik, worin er seinerzeit auch promovierte. Auch kannte er sich mit verschiedenen Verschlüsslungssystemen bestens aus. Er hatte eine Leidenschaft für die Archäologie entwickelt, war zu Beginn des Jahrhunderts auch in Syrien auf einer archäologischen Grabung engagiert.

»Keine Ursache.« Beide gingen dem mit Steinen gepflasterten Weg entlang und erreichten das Haupthaus. Sie traten ein, und Sanders stellte Nabil seiner Gemahlin vor, die ihn auch aufs herzlichste begrüsste.

»Ich brauche noch etwa zwanzig Minuten, dann ist das Essen fertig«, sagte sie und zog sich wieder in die Küche zurück.

»Gehen wir in die Sternwarte hinüber«, sagte Sanders. Sie verliessen das Haupthaus, durchquerten einen langgezogenen und verglasten Wintergarten und gelangten am anderen Ende zur Sternwarte, welche im Erdgeschoss aus zahlreichen Büro- und Arbeitsräumen aber auch aus einer kleinen Küche mit Tisch bestand. Darüber befand sich das grosse Spiegelteleskop mit der dafür typischen grossen Kuppel. Auch hier hielten sich zahlreiche Katzen auf, die Sanders alle mit Namen ansprach.

»Sie mögen Katzen«, sagte Sanders bestätigend zu ihm, »denn sonst würde die getigerte Katze Ihnen nicht um die Beine schleichen. Das tut sie nur bei Menschen, die Katzen mögen.«

»Wir hatten auch Katzen.«

»Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?«, wollte Sanders wissen.

»Ursprünglich komme ich aus Kairo. Später war ich in Syrien. Studiert habe ich Computerwissenschaften in Harvard. Marcel Lavoisier habe ich in Kairo kennengelernt, und seither verbindet uns eine lange und grosse Freundschaft.«

»Dann wissen Sie, was damals passiert ist?«, fragte Sanders.

»Ja, es betraf meine Familie«, antwortete Nabil, und Sanders nickte stumm als Zeichen seiner Anteilnahme.

»Tee?«

»Gerne«, antwortete Nabil und ergänzte, »mit Zucker bitte.«

Sanders schenkte ihm aus einer versilberten Teekanne Schwarztee ein, stellte eine Dose mit Zucker hin und fragte ihn:

»Wie tief steckt ihr im Schlamassel?«

Nabil überraschte diese Direktheit, aber es war ihm nicht unangenehm, denn er hatte sich lange überlegt, wie er Sanders ihr Problem erklären sollte.

»Auf einer Skala von 1 bis 10 würde ich sagen 11«, antwortete Nabil und musste selber darüber schmunzeln, obwohl ihm gar nicht danach zu Mute war.

»Das habe ich mir gedacht.«

»Darf ich fragen, wie Sie zu dem Schluss gekommen sind?«

»Das hat mit Marcel, also Lavoisier zu tun. Bei allen Schwierigkeiten, die er in der Vergangenheit hatte, benutzte er noch nie den Codenamen Tycho Brahe«, antwortete Sanders.

»Und das bedeutet?«

»Das bedeutet, dass entweder der dritte Weltkrieg ausbricht oder der Weltuntergang kurz bevorsteht. Ich tippe aber auf Weltuntergang«, sagte Sanders in einem Ton, der Nabil an den tiefschwarzen britischen Humor erinnerte.

»Wie kann ich helfen?«

Nabil zog seinen 2-Terabyte-Highspeed-Memory-Stick.

»Hierauf ist ein Programmcode gespeichert, den wir bis jetzt nicht entschlüsseln konnten«, begann Nabil.

Sanders überlegte kurz und sagte zu Nabil:

»Der grösste Fehler, den die Kryptologen machen, ist immer der gleiche.«

»Und der wäre?« fragte Nabil.

»Sie wollen immer die Technologie zum Entziffern dafür einsetzen, weil die meisten Methoden ja bekannt sind. Das ist an und für sich nicht falsch. Aber der Entzifferer muss einen Bezug zur Verschlüsselung haben, ein Verständnis für die Situation rund um die Problemstellung. Er muss sich förmlich mit dem Gesuchten, also dem Ziel, verbinden und aus Sicht des damaligen Verschlüsslers denken und fühlen. Ja, er muss sich in die damalige Person hineinversetzen können. Er muss herausfinden, was die Person dachte und fühlte, als sie die Information verschlüsselte. Im Extremfall muss er wissen, was für ein Parfum die Person trug.«

»Interessanter Gedanke«, meinte Nabil.

»Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Geheimcode über den Ort eines verborgenen Schatzes gefunden. Wie wollen Sie nun den Schatz finden? Gut, Sie können Computerprogramme dafür einsetzen. Das ist soweit in Ordnung, denn die einfacheren Geheimcodes können so in überblickbarer Zeit entziffert werden. Aber gehen wir davon aus, dass derjenige, der den Geheimcode geschrieben hat, sich auch mit Kryptologie auskennt. Dann werden die Computer heiss laufen und keine brauchbare Antwort liefern. Sie wissen, worauf ich hinaus will?«, fragte Sanders Nabil mehr rhetorisch.

»Der Schlüssel«, antwortete Nabil, »alle vernünftigen Verschlüsselungssysteme beruhen auf einem Schlüssel.«

»Genau. Wie finde ich aber den Schlüssel heraus? Das ist die alles entscheidende Frage«, stellte Sanders in den Raum.

»Der Computer wird ihn nicht finden, wenn er intelligent genug gewählt wurde«, erklärte Nabil.

»Richtig, sofern er intelligent gewählt wurde. Aber bleiben wir bei unserem verborgenen Schatz. Wenn der Verschlüssler davon ausgehen konnte, dass es einmal etwas wie Computer geben würde, die in Nullkommanichts einen Code knacken können, dann müsste er ein Verschlüsselungssystem wählen, das unentzifferbar wäre«, sagte Sanders.

»Wie die Vigenère-Verschlüsselung, le chiffre indéchiffrable«, antwortete Nabil und er wusste was Sanders eigentlich sagen wollte.

Die Vigenère-Verschlüsselung stammte von Blaise de Vigenère, der als Diplomat und Kryptologe im 16. Jahrhundert in Frankreich arbeitete. Es handelte sich um ein Substitutionsverfahren. Der ursprüngliche Text wurde in Einzelzeichen, also Buchstaben zerlegt und diese durch verschlüsselte Buchstaben ersetzt, man bezeichnete das auch als Substitution. Die Verschlüsslung wurde durch einen Schlüssel aus mehreren verschiedenen Alphabeten des »Vigenère-Quadrats« ausgewählt. Dabei handelte es sich um eine quadratische Anordnung von untereinander stehenden verschobenen Alphabeten. Wollte man den Text »Wo der Schatz liegt? Unter dem Olivenbaum!« verschlüsseln, benötigte der Verschlüssler zuerst einen Schlüssel. Je länger dieser war, desto schwieriger wurde die Entzifferung. Der Schlüssel bestand beispielsweise aus dem Namen des Papageis des Verschlüsslers. Dieser hiess Victoria. Der Verschlüssler schrieb nun den Text in eine Zeile. Darüber schrieb er den Schlüssel und zwar so oft, wie nötig. Das ergab also folgendes:

Victoria Victoria Victoria Victoria Vi

WoderSch atzliegt Unterdem Olivenba um

Nun war er in der Lage, die entsprechenden verschlüsselten Buchstaben mit dem Vigenère-Quadrat zu ermitteln. Dazu musste er nur den Kreuzungspunkt der durch den jeweiligen Schlüsselbuchstaben gekennzeichneten Zeile und der Spalte des Quadrats finden. Mit der Vigenère-Verschlüsselung konnte er herausfinden, dass der Kreuzungspunkt der Zeile V, also dem ersten Buchstaben des Schlüssels, mit der Spalte W, als dem ersten Buchstaben des zu verschlüsselnden Textes, den Geheimtextbuchstaben R ergab. Demzufolge lautete der verschlüsselte Geheimtext:

rwfxfjkh vbbewvot pvvkrvua gqxxbsiu h

Normalerweise wurde der verschlüsselte Text mit fixen Buchstabenlängen dargestellt oder übermittelt. Damit konnte auch verhindert werden, dass die Länge des Schlüssels verraten wurde. Der Text wäre also sinnvollerweise wie folgt verschlüsselt worden:

Rwfxf jkhvb bewvo tpvvk rvuag qxxbs iuh


Derjenige konnte also den Text entziffern, der den Schlüssel kannte, und damit durch die Umkehrung des beschriebenen Verschlüsselungsschrittes aus dem Geheimtext den ursprünglichen Klartext erzeugen.

Sanders und Nabil kannten natürlich die Vigenère-Verschlüsselung. Bis weit ins 19. Jahrhundert galt diese Verschlüsselung als nicht entzifferbar, sofern der Schlüssel möglichst lang war und nicht mehrfach für verschiedene Texte verwendet wurde. Allerdings wies der preussische Infanteriemajor Friedrich Wilhelm Kasiski in einem von ihm veröffentlichten Buch 1863, also fast 300 Jahre nach der Erfindung der Vigenère-Verschlüsselung, nach, dass es möglich war, die Länge eines mehrfach verwendeten Schlüssels zu bestimmen. Daraus konnte man oftmals den Schlüssel selber herleiten. Allerdings war es so, dass die Vigenère-Verschlüsselung nicht zu entziffern war, wenn die Länge des Schlüssels gleich lang war wie der zu verschlüsselnde Text. Dagegen konnte auch der schnellste Computer der Welt nichts ausrichten.

»Denken Sie, dass wir es mit einer Vigenère-Verschlüsselung, die einen gleich langen Schlüssel wie der zu verschlüsselnde Text hat, zu tun haben?«, fragte Nabil.

»Alles andere wäre zu einfach«, antwortete Sanders. »Aber die Frage ist, was für ein Schlüssel verwendet wurde. Da sind wir wieder bei meiner Aussage. Kennen wir die Hintergründe, die Person, die das Programm verschlüsselt hat. Je mehr Hintergrundinformationen wir darüber haben, desto grösser ist die Chance, dass die Computer fündig werden. Darf ich Sie fragen, wer oder welche Organisation es verschlüsselt hat?«, fragte Sanders.

»Das zu beantworten ist nicht so einfach«, gab Nabil eine etwas zögerliche Antwort.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Sanders.

»Wir haben keinen blassen Schimmer. Ich muss ihnen die gesamte Geschichte erzählen. Auch was Lavoisier herausgefunden hat. Es wird Ihnen nicht gefallen.«

»Das tönt interessant«, sagte Sanders.

»Das mag ja sein, aber jetzt wird zuerst gegessen«, meldete sich seine Gemahlin, die soeben zu ihnen in die Küche eingetreten war.

»Mit leerem Magen nachzudenken, ist keine gute Idee. Gehen wir essen«, sagte Sanders und bat Nabil, ihm ins Hauptgebäude zu folgen, wo ein gedeckter Tisch schon bereit stand und das Essen augenblicklich serviert wurde. Ein Arbeitsessen sollte es sein, aber was sie aufgetischt bekamen, hätte einem sehr guten Nachtessen alle Ehre erwiesen. Sie assen ausgiebig und erzählten dies und das aus ihrer Vergangenheit. Als der Kaffee serviert wurde, fragte Nabil:

»Wie sind Sie eigentlich auf den Codenamen Tycho Brahe gekommen?« Sanders musste lächeln.

»Typisch Lavoisier. Er hatte schon immer einen Hang zur Dramatik«, antwortete Sanders und fragte Nabil, ob er an Zufälle glaube.

»Eigentlich glaube ich nicht an Zufälle. Vielmehr an die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis eintreten könnte«, antwortete Nabil.

»Dann sind wir schon zu zweit«, sagte Sanders.

»Kommen Sie mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Beide standen auf, verliessen das Hauptgebäude und umrundeten die Sternwarte. Auf der Nordseite standen ein riesiger Brunnen und dahinter eine Statue.

»Tycho Brahe?«, fragte Nabil.

»Ja«, antwortete Sanders. »Der Brunnen ist eine Kopie eines von Tycho Brahe angefertigten Messinstruments. Er diente ihm für genaue Messreihen«, erklärte er.

Nabil trat näher an die Statue und sagte:

»Sogar das mit der Nase hatte der Künstler, der die Statue angefertigt hatte, berücksichtigt.« Nabil erinnerte sich an den am Vortag gelesen Text. Bei einem Duell, als Tycho Brahe knapp zwanzig Jahre alt war, verlor er einen Teil seiner Nase. Eine Auseinandersetzung mit einem Studenten über eine mathematische Formel war der Auslöser. Er trug von da an angeblich eine Nasenprothese, die aus einer Gold-Silber-Legierung bestand, die er mit einer Salbe anklebte.

»Das war eben nicht der Fall. Der Künstler wusste eigentlich nicht, wer Tycho Brahe war, und erstellte eine Statue mit intakter Nase. Aber eines Tages, wie aus dem Nichts, fiel ein Teil der Nase ab. War das Zufall?«, fragte Sanders.

»Gute Frage, ich weiss es nicht. Vielleicht war das Material an dieser Stelle schlecht und bröckelte ab?«, antwortete Nabil. »Aber das tönt schon speziell.«

»Ja, ist es in der Tat. Es schien mir damals fast so, als ob mir jemand etwas mitteilen wollte. Noch heute stehe ich manchmal vor der Statue, wenn ich wichtige Entscheide treffen muss oder mich inspirieren lassen will«, erklärte Sanders.

»Damals, als Lavoisier im Krieg war, habe ich ihm eine Karte mit dem Bild der Statue geschickt. Er bewahrte die Karte in einem Buch auf, das er immer bei sich trug. Sie erinnerte ihn an damals. Sie wissen schon. Damals in Ägypten. Als sie in einen Hinterhalt gerieten, wollten sie hinter einen gepanzerten Humvee in Deckung gehen. Dabei fiel ihm die Karte aus dem Buch und landete auf dem staubigen Boden. Lavoisier bückte sich und wollte die Karte vom Boden auflesen. Genau in dem Moment, als er sich bückte, hagelte es mehrere Maschinengewehrkugeln, die exakt an der Stelle in die Panzerung des Humvee’s einschlugen, an der er vorher gestanden hatte,« erzählte Sanders.

»Er hat mir nie davon erzählt«, sagte Nabil.

»Was war das nun, Zufall oder Schicksal?«, fragte Sanders.

»Ich weiss es nicht«

»Wenn also Lavoisier den Tycho-Brahe-Code verwendet, dann muss es todernst sein. Erzählen Sie also die ganze Geschichte, damit ich mir ein Bild davon machen kann«, bat Sanders Nabil.

»Das wird eine Weile dauern.«

»Ich habe Zeit«, antwortete Sanders und fragte: »Wo übernachten Sie heute?«

»Ich habe noch nichts gebucht.«

»Dann seien Sie unser Gast. Wir haben ein Gästezimmer für Sie. Vielleicht wird uns Tycho Brahe auch beistehen, wenn es um den Code geht.«

Sie gingen wieder zurück an die Wärme und nahmen in den Büroräumlichkeiten der Sternwarte Platz. Nabil erzählte alles, was er wusste. Er liess nichts aus, auch die kleinsten Details erwähnte er.

»Lassen Sie mich zusammenfassen«, sagte Sanders. »Eine Organisation will mit Hilfe einer oder mehrerer Anlagen ein künstliches Wurmloch öffnen, damit Jesus Christus mit seiner Himmelsschar auf die Erde zurückkehren kann, um ein neues Reich Gottes zu errichten und um über die Ungläubigen zu richten. Die Organisation ist heute schon in der Lage, für kurze Zeit ein Wurmloch zu öffnen, das aber instabil ist und nach wenigen Minuten in sich zusammenbricht. Der Programmcode, den es noch zu entziffern gilt, würde zwei Dinge ermöglichen. Er würde das Wurmloch stabil halten, und es gäbe eine Möglichkeit, das Wurmloch wieder zu schliessen. Ist das soweit korrekt?«, fragte Sanders.

»Das ist korrekt. Der Code würde uns aufzeigen, wie man das gottverdammte Ding wieder abschaltet. Und die ursprüngliche Quelle besteht aus altbabylonischer Keilschrift, ist also mehr als 3000 Jahre alt«, ergänzte Nabil.

»Wir suchen also einen Schlüssel, der irgendetwas mit der damaligen Zeit zu tun hat. Wie lange ist der Programmcode oder, besser gesagt, wie viele Keilschriftzeichen wurden bereits in unser alphanumerisches System umgewandelt?«, fragte Sanders.

»Wir hatten einen Supercomputer zur Verfügung, der uns ermöglichte, die ursprünglich vorhandenen Keilschriftzeichen in Programmcodes umzuwandeln. Das war die grösste Schwierigkeit, denn der Keilschriftcode war zusätzlich sehr gut verschlüsselt, aber der Supercomputer löste die Aufgabe in einer Woche. Ein Mensch hätte dafür einige Millionen Jahre gebraucht. Aber diesen Code, wir bezeichnen ihn als das Gottesschloss, konnten wir nicht knacken«, erläuterte Nabil und sagte weiter: »Er umfasst etwa 17‘000 Buchstaben und Zahlen.«

»Wir brauchen also den Schlüssel«, sagte Sanders.

»Und einen superschnellen Computer«, ergänzte Nabil.

Sanders nickte, und es schien, als ob er in Gedanken schon durch die altbabylonische Geschichte schwebte auf der Suche nach einen brauchbaren Schlüssel.

»Schlugen alle Versuche fehl, die Länge des Schlüssels zu berechnen?«

»Ja, der Kasiski-Test blieb erfolglos.«

»Das kann nur eines bedeuten«, sagte Sanders, der Schlüssel muss nahezu gleichlang sein wie der zu verschlüsselnde Text.«

Nabil nickte, denn zu dieser Schlussfolgerung war er auch gekommen.

»Wir benötigen eine Übersicht über alle Alt- und Mittelbabylonischen Texte. Egal welchen Inhalt sie haben. Ich schlage vor, dass ich ein paar Leute anrufe, die sich damit bestens auskennen.«

»Einverstanden«, sagte Nabil.

»Haben Sie das Programm dabei, das den verschlüsselten Keilschrifttext in einen Programmcode umwandelt?«

»Ja das habe ich. Aber wenn wir eine Sammlung von in Frage kommenden Texten, also Schlüsseln hätten, würden wir einen superschnellen Computer benötigen«, meinte Nabil.

Sanders nickte, und anstelle von Sorgenfalten schien ein kurzes Lächeln über sein Gesicht zu huschen.

»Wollen Sie ihn sehen?«, fragte er Nabil.

»Wen?«, fragte Nabil, und seine Neugier war geweckt.

»Kommen Sie mit«, sagte Sanders. »Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Sanders stand auf und wies Nabil den Weg ins Kellergeschoss. Sie betraten einen grossen Raum.

»Oh mein Gott«, entfuhr es Nabil, dem es vor lauter Staunen fast die Sprache verschlagen hatte.

»Ist es das, wofür ich es halte?«, fragte er immer noch ungläubig.

»Ja, das ist mein kleiner Abakus«, sagte Sanders, und das war die Untertreibung des Jahres. Vor ihnen stand ein Cray T3E. Der Cray T3E war der erste Supercomputer, der bei der Ausführung einer wissenschaftlichen Berechnung mehr als 1 TFLOPS leistete. Der Supercomputer war also in der Lage, 1 Billion Gleitkommaoperationen pro Sekunde zu verarbeiten. Ende der 90er Jahre war er der schnellste Computer der Welt.

»Und das nennen Sie ihren kleinen Abakus«, sagte Nabil und war immer noch erstaunt, vor was für einem Computer er da stand.

»Schliesslich wollen wir doch herausfinden, wie man das gottverdammte Ding wieder abschaltet.«

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