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Kapitel 6: Das Gottesschloss II
ОглавлениеSchweiz, Ende November 2027
Seit zwei Tagen und Nächten arbeiteten Sanders und Nabil daran, einen Schlüssel zur Entzifferung des Gottesschlosses zu finden. Sie gönnten sich kaum Pausen und sehr wenig Schlaf. Sie hatten sich so organisiert, dass immer jemand den Cray T3E im Auge behalten und ihm, wenn notwendig, neue Aufgaben zuteilen konnte.
Es war halb zehn Uhr und Zeit, ein paar warme Brötchen zum Frühstück zu verzehren. Sie fassten kurz die Ergebnisse zusammen und mussten jedoch erkennen, dass sie bis jetzt erfolglos geblieben waren. Sie versuchten alle möglichen Schlüssel. Dabei erhielten sie von einem Archäologieprofessor, der in Basel einen Lehrstuhl innehatte, tatkräftige Unterstützung. Er stellte eine umfangreiche Datenbank zusammen. Sie bestand aus etwas mehr als 6000 Keilschrifttexten mit einer minimalen Länge von 1000 Zeichen. Sie hatten ein Vigenère-Quadrat nicht mit unserem von den Phöniziern stammendem Alphabet, sondern mit einem altbabylonischen erstellt. Es hatte viel mehr Zeichen, aber der von Nabil mitgebrachte Programmcode war problemlos in der Lage, dieses Alphabet zu verarbeiten. Sie kopierten jeweils Text für Text in die entsprechend dafür vorbereiteten Programmstellen und liessen den Cray T3E damit rechnen.
Es dauerte jeweils nicht allzu lange, und der Supercomputer zeigte das Ergebnis an. Der neu erzeugte Programmcode, also das Programm, das sie »Das Gottesschloss« nannten, konnten sie anschliessend analysieren und mussten zu ihrer grossen Enttäuschung feststellen, dass nichts Brauchbares dabei herauskam.
»Wenn wir so weiterfahren, werden wir noch Monate brauchen«, meinte Sanders und fragte Nabil: »Wie viel Zeit haben wir noch?.«
»Ich weiss es nicht, aber ich befürchte, dass wir nur noch ein paar Wochen zur Verfügung haben. Das Wurmloch könnte bald geöffnet werden«, antwortete Nabil.
»Versuchen wir uns in die damalige Zeit zurückzuversetzen«, schlug Sanders vor.
»Wann herrschte der Babylonische König Ammi-saduqa schon wieder?«, fragte Sanders.
»Nach mittlerer Chronologie von 1646 bis 1626 v.Chr.«, antwortete Nabil.
»Sie sagten, in den Keilschrifttexten stehe, dass zwei Götter, die sich als Aldemakros bezeichneten, beim König zurückblieben?«
»Ja, das hat mir Lavoisier so erklärt«, antwortete Nabil.
»Ich gehe davon aus, dass sie es gewesen waren, die den Code programmiert hatten«, sagte Sanders und ergänzte, dass sie wohl bewusst einen Keilschrifttext verwendet hatten, damit später jemand in der Lage war, mit dem Programm umzugehen.«
»Das sehe ich auch so. Welchen für die damalige Zeit bekannten Text haben sie also als Schlüssel verwendet?«, fragte sich Nabil.
»Was würden wir heute als Schlüssel verwenden? Welchen Text würden wir wählen?«, fragte Sanders. Er schaute auf seine Uhr, stand auf, zog sein Smartphone aus der Tasche und rief einen befreundeten Gymnasiallehrer, der Mathematik und Physik unterrichtete, an. Er wusste, dass er in Kürze Pause haben würde, sprach auf seine Sprachmailbox und bat ihn um einen dringenden Rückruf. Nabil stand leicht verwirrt daneben, denn er konnte nicht ganz verstehen, was Sanders soeben getan hatte. Aber er entschied sich, nicht nachzufragen, stattdessen sagte er:
»Die Bibel?«
»Wäre aus heutiger Sicht eine Möglichkeit«, antwortete Sanders. Natürlich wussten beide, dass die Bibel erst im 4. Jahrhundert nach Christus zusammengestellt wurde und für ihr Problem nicht in Frage kam.
»Ein Gedicht vielleicht?«, versuchte Nabil sein Glück.
»Haben wir schon versucht. Die Gedichte sind zu kurz für einen Schlüssel, so wie wir ihn benötigen.«
Sanders spürte, dass sie auf dem richtigen Weg waren, aber ihnen lief die Zeit davon. Sie mussten unbedingt die Quellen eingrenzen, sonst könnten sie in der verbleibenden Zeit das Gottesschloss nicht entziffern. Sie hingen ihren Gedanken nach, als Sanders‘ Smartphone klingelte.
»Danke, dass du sofort zurückgerufen hast. Ich habe eine kleine Bitte an dich. Hast du am Vormittag noch Unterricht? Ja, gut. Kannst du deine Schüler fragen, wenn sie einen Text verschlüsseln müssten, was für einen Schlüssel sie wählen würden. Ja, Vigenère-Quadrat. Ich danke dir. Ja, sehr dringend«, sagte Sanders und beendete das Gespräch.
Nun war Nabil klar, was Sanders damit bezweckte. Er holte die Meinung von Gymnasiasten ein. Vielleicht hatten sie einen Hinweis, woraus der Schlüssel bestehen konnte.
»Gute Idee«, meinte Nabil.
»Ich habe die Erfahrung gemacht«, begann Sanders, »dass junge Menschen ganz anders an Fragestellungen herangehen als wir. Sie denken weniger in Leitplanken, an vorgegebene Muster oder Verhaltensweisen. Dadurch sind sie fantasievoller, kreativer und offener für Neues. Da werden oftmals interessante Ergebnisse erzielt. Natürlich haben das die Marketingabteilungen grosser Konzerne schon lange erkannt und führen breitangelegte Befragungen von Schülern durch, damit sie künftige Produkte optimieren oder sogar erst entwickeln können. Für die Spezialisten, die die Schulen aufsuchen, gibt es sogar eine Bezeichnung. Sie werden School Hunter genannt.
Im Mittelalter hatte die Kirche vorgegeben, was wahr und was falsch ist, da sie das Wissensmonopol innehatte. Auch gab sie vor, was sein könnte und was nicht sein könnte. Innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens dachten die Menschen über die Welt nach. Auch namhafte Wissenschaftler taten das. Nehmen Sie nur die Problematik der elliptischen Bahnen der Planeten um die Sonne als Beispiel. Kepler und Brahe hinterfragten, ob sich die Planeten wirklich in exakten konzentrischen Kreisen bewegten. Dies war die Vorgabe der Kirche, denn als Gott den Himmel und die Erde erschuf, war man überzeugt, dass er dies perfekt ausgeführt hat. Perfekt bedeutete, dass sich die Himmelskörper eben in perfekten Kreisen bewegten, und zwar um die Erde. Kepler und auch Brahe waren zu Beginn selbst gefangen in diesem Vorstellungskäfig. Sie hatten zwar zahlreiche Messdaten vorliegen, die bewiesen, dass die Planeten sich nicht exakt kreisförmig bewegten, aber sie überprüften und überprüften die Messungen mehrfach und zweifelten an den Ergebnissen, denn sie lagen ausserhalb der kirchlichen Doktrin. Was also nicht sein konnte, durfte nicht sein und deshalb suchten sie immer und immer wieder den Messfehler. Aber sie fanden keinen.
Schliesslich war Kepler überzeugt, dass die Planeten sich auf elliptischen und nicht auf kreisförmigen Bahnen bewegten, in deren gemeinsamem Brennpunkt die Sonne stand. Weitere Gesetzmässigkeiten erkannte er und heute nennen wir sie die Keplerschen Gesetze. Auch vor Kepler ging es Kopernikus nicht besser. Er erkannte, dass seine teilweise ungenauen Berechnungen der Planetenbahnen nicht durch Beobachtungen gestützt werden konnten. Dies lag daran, dass der Kreis, als idealharmonisch-vollkommenes mathematisches Gebilde, die Grundlage seiner Berechnungen war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Beobachtungen richtig und seine Berechnungen, die auf einem Kreis basierten, falsch waren. Dennoch proklamierte er anhand seiner Berechnungen eine für seine Zeit revolutionäre Idee. Wir verdanken ihm das heliozentrische Weltbild, das besagt, dass die Sonne und nicht die Erde im Zentrum steht. Allerdings ging er fälschlicherweise davon aus, dass alle Planeten sich kreisförmig um die Sonne bewegten. Ich persönlich denke, dass Kopernikus dank seinen Beobachtungen schon vermutete, wenn nicht sogar wusste, dass die Umlaufbahnen nicht kreisförmig waren.
Aber hätte er sich in diese Richtung geäussert, wäre es ihm wohl wie knapp sechzig Jahre später Giordano Bruno ergangen, der die Unendlichkeit des Weltraums postulierte. Er war überzeugt, dass die damals herrschende Meinung einer in Sphären untergliederten geozentrischen Welt falsch sei. Seine Behauptungen wurden durch die Kirche als Ketzerei und Magie bezeichnet. Die Inquisition erklärte ihn für schuldig, und er wurde zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Erst im Jahre 2000 erklärte der damalige Papst Johannes Paul II., dass die Hinrichtung aus kirchlicher Sicht als Unrecht zu betrachten sei und Giordano Bruno zu Unrecht verbrannt wurde. Immerhin hatte die katholische Kirche nach 400 Jahren ein Einsehen mit ihm, was die Sache für Giordano Bruno nicht wirklich besser macht, denn er starb unter höllischen Qualen den Feuertod.
Nun, die Beispiele zeigen auf, dass vorgefasste Meinungen und doktrinäres Gedankengut den Rahmen eines Gedankenkäfigs bilden und nicht zu kreativen, offenen Lösungen führen«, erklärte Sanders.
Nabil nickte und konnte gut verstehen, was er damit meinte. Sie arbeiteten an den Schlüsseln weiter, als Sanders‘ Smartphone klingelte.
»Sanders hier.«
»Ah, danke, das ging aber schnell«, sagte Sanders und zu Nabil gerichtet deutete er an, dass es der Gymnasiallehrer war.
»Ja, habe ich, du kannst loslegen.«
Sanders hatte einen Block bereitgelegt und begann nun aufzuschreiben, was ihm diktiert wurde.
»Vielen Dank, ich denke, du hast uns geholfen. Komm doch mal wieder mit deiner Klasse auf die Sternwarte!«, sagte Sanders und beendete das Gespräch. Nun wandte er sich Nabil zu und las ihm vor, was die Gymnasiasten für Ideen hatten.
»Grabinschriften, Liebesbriefe, medizinische Texte, astronomische Texte, Gilgamesch-Epos meinte einer, Omina, also Beschwörungsrituale, Sagen, Gesetze, Babylonische Bibel, landwirtschaftliche Texte, Krönungszeremonien, Königslisten und zu guter Letzt Einführungszeremonien.«
»Erstaunlich«, meinte Nabil.
»Sehen Sie, die Gymnasiasten kommen auf alles Mögliche. Hoffen wir, dass etwas darunter ist, das uns weiterhilft.
Sie widmeten sich wieder der Arbeit. Nach einer halben Stunde vernahmen sie wiederum den Klingelton von Sanders‘ Smartphone.
»Sanders hier.«
»Ich würde gerne mit Gudea von Lagaš sprechen«, hörte er eine weibliche Stimme sagen.
»Einen Augenblick bitte«, sagte Sanders, schaute Nabil an und fragte, ob er einen Gudea von Lagaš kenne. Nabil nickte, musste leise lachen und deutete an, dass er gerne das Gespräch entgegennehmen würde.
»Ich gebe ihnen die gewünschte Person«, sagte Sanders und verabschiedete sich vom Anrufer.
Nabil nahm das Smartphone entgegen und stellte den Ton auf Lautsprecher, so dass Sanders mithören konnte.
»Gudea von Lagaš«, hörte man Nabil ins Smartphone sprechen.
»Einen Augenblick, ich verbinde Sie gleich«, dazu hörte man raschelnde Geräusche, bis schliesslich eine ihnen wohlvertraute Stimme zu hören war.
»Wie läuft es bei euch, das Gottesschloss schon entziffert?« Die Verbindung war einwandfrei, obwohl Lavoisier sich irgendwo mitten im Mittemeer befand.
»Uns geht es gut. Ausser dass wir ein wenig Schlafmangel haben«, antwortete Nabil, und Sanders grüsste ihn herzlich.
»Wir arbeiten seit zwei Tagen und Nächten daran. Aber wir haben den Schlüssel noch nicht gefunden. Wie geht’s dir? Bist du noch in Frankreich?«, fragte Nabil.
»Nein, ich bin unterwegs zu unserem Treffpunkt. Ich werde wohl in drei Tagen dort sein. Aber die Jagd auf mich hat bereits begonnen. Sie wollen mich um jeden Preis ergreifen. Ich weiss zu viel«, sagte Lavoisier.
»Hinweise auf den Schlüssel?«
»Bis jetzt Fehlanzeige. Wir gehen davon aus, dass der Schlüssel sehr lang sein muss. Wir wissen, dass er sich nicht wiederholt und deshalb mindestens aus etwa 17‘000 Ziffern, was etwa 3‘500 Wörtern entspricht, bestehen muss«, antwortete Nabil.
»Wie wollt ihr weiter vorgehen?«, fragte Lavoisier.
»Ich habe einige Gymnasiasten befragen lassen. Ich wollte wissen, wo sie den Schlüssel suchen würden«, meldete sich nun Sanders.
»Zu welchen Erkenntnissen sind sie gekommen?«
»Ich lese dir vor, was sie vorgeschlagen haben. Es sind Grabinschriften, Liebesbriefe, medizinische Texte, astronomische Texte, Gilgamesch-Epos, Omina, Sagen, Gesetze, Babylonische Bibel, landwirtschaftliche Texte, Krönungszeremonien, Königslisten und Einführungszeremonien«, zählte Sanders die Hinweise auf.
»Schon eine Idee?«, fragte Lavoisier.
»Es sind Ansätze, die wir nun verfolgen werden, aber ich habe das Gefühl, dass uns die Zeit davonläuft.«
Nabil und Sanders konnten Lavoisier nicht sehen. Aber wenn sie ihn hätten sehen können, wäre ihnen aufgefallen, dass er fast augenblicklich bleich geworden war. Er wirkte vollkommen in sich gekehrt, als ob er irgendwie entrückt war.
»Marcel, bist du noch da?«, fragte Nabil. Aber Lavoisier meldete sich nicht. Sanders prüfte die Verbindungsqualität, konnte aber keine Störung entdecken.
»Marcel, Hallo«, rief Nabil ins Smartphone.
»Ja, Entschuldigung, aber ich hatte gerade ein Déjà-vu.«
»Eine deiner berüchtigten Eingebungen?«, fragte Nabil, und sein Ton sollte aufmunternd klingen.
»Eingebung wäre das falsche Wort, aber als du mir die Liste vorgelesen hattest, da fing bei mir etwas an zu schwingen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich an irgendetwas erinnere. Aber es war ein flüchtiger Erinnerungsfetzen, der wieder verschwand, doch hatte ich das Gefühl, dass es wichtig war«, erklärte Lavoisier.
»Sollen wir dir die Liste nochmals vorlesen?«, fragte Sanders. »Vielleicht kommt die Erinnerung zurück?«
»Das wäre eine gute Idee. Aber ich sage euch, wann ihr beginnen könnt.«
Lavoisier war auf der Flybridge der Ferretti-Yacht und sass auf einem mit Leder bezogenen Stuhl. Die Sonne schien, und obwohl es Winter war, fühlte es sich behaglich an. Er streckte seine Beine aus, liess die Arme zu beiden Seiten baumeln und schloss die Augen. Er atmete tief und langsam die salzige Meeresluft ein, damit er sich konzentrieren konnte.
»Du kannst beginnen. Aber jeweils nur drei Hinweise auf einmal. Wenn ich »weiter« sage, dann gib mir die nächsten drei.«
»Alles klar«, sagte Nabil und begann.
»Grabinschriften, Liebesbriefe, medizinische Texte.« Es dauerte etwa drei Sekunden bis Lavoisier antwortete:
»Weiter.«
»Astronomische Texte, Gilgamesch-Epos, Omina.« Wiederum verstrichen drei Sekunden.
»Weiter.«
»Sagen, Gesetze, Babylonische Bibel.«
»Weiter.«
»Landwirtschaftliche Texte, Krönungszeremonien, Königslisten und Einführungszeremonien.«
»Geh nochmals zurück«, bat Lavoisier, der nun das Gefühl hatte, dass er sehr nahe an der Erinnerung dran war.
»Astronomische Texte, Gilgamesch-Epos, Omina.«
»Nein nicht so weit zurück.«
»Sagen, Gesetze, Babylonische Bibel«, zählte Nabil nochmals auf.
»Stopp«, sagte Lavoisier. Er konnte spüren, wie die Erinnerung versuchte, wie durch einen dichten Schleier an die Oberfläche zu gelangen.
»So muss es einem Maulwurf ergehen, wenn er sich an die Oberfläche hoch arbeitet«, dachte Lavoisier. Dann geschah es. Er sah eine Szene aus seiner Vergangenheit, als er noch in die Schule ging. Er war damals im Schloss Chambord. Er wusste seit einiger Zeit, dass die Bruderschaft des reinen Herzens dort ihren Hauptsitz hatte, denn er erinnerte sich an ein Bild mit einem Reiter und einem menschengrossen Herzen, die beide auf einem Einhorn sassen. Genau wie das Motiv auf dem Tattoo. Aber jetzt sah er eine andere Szene vor seinem inneren Auge. Er sah eine Dioritstele, die etwas mehr als zwei Meter hoch war. Sie stand in einem grossen Saal, neben einem grossen, runden Tisch. Es erinnerte ihn damals an die Tafelrunde der König-Artus-Sage. Ein älterer Mann befahl ihm laut rufend und ziemlich aufgebracht, den grossen Saal zu verlassen, denn er hatte sich in diesen hineingeschlichen, obwohl ein Schild »Kein Zutritt« an der Türe hing. Aber das Bild der Dioritstele hatte er sich einprägen können. Er wusste damals nicht, was er gesehen hatte. Erst viele Jahre später erinnerte er sich an die damalige Begebenheit. Denn er erkannte die Dioritstele wieder. Nur stand sie diesmal nicht im Schloss Chambord, sondern im Louvre von Paris.
»Marcel«, hörte er von weit entfernt eine Stimme, die ihn in die Gegenwart zurückbrachte, rufen.
»Ja, ich bin noch da«, sagte er und er tönte müde, ja geradezu erschöpft.
»Konntest du dich erinnern?«, fragte Nabil.
»Codex Hammurapi«, sagte er nur.
Sanders und Nabil nickten einander zu. Sie wussten, was Lavoisier mit dem Codex Hammurapi meinte. Nabil hatte die berühmte Dioritstele, auf die der Text, also der Codex Hammurapi, niedergeschrieben wurde, vor ein paar Tagen im Louvre gesehen. Hammurapi wurde 1792 v. Chr. gemäss mittlerer Chronologie der 6. König der ersten Dynastie von Babylon. Er bezeichnete sich als König von Sumer und Akkad. Berühmtheit erlangte Hammurapi allerdings durch den nach ihm benannten Codex. Er stellte die älteste vollständig erhaltene Rechtssammlung der Menschheitsgeschichte dar. Es gab zwar schon dreihundert Jahre früher unter dem sumerischen König Ur-Nammu eine ähnliche Gesetzessammlung, jedoch waren nur Fragmente davon erhalten. Der Codex Hammurapi beinhaltete einen Prolog, dann folgten 282 Gesetzesparagraphen, und am Ende schloss ein Epilog den Codex ab. Auch gab es über dreissig keilschriftliche Tontafeln, die denselben oder leicht veränderten Text enthielten.
»Wie kommst du auf den Codex Hammurapi?«, fragte Nabil.
»Ich hatte eine Art Eingebung. Die Bruderschaft des reinen Herzens hat ihren Hauptsitz im Schloss Chambord. Als Kind hatte ich mich bei einem Besuch des Schlosses verbotenerweise in einen grossen Saal geschlichen. Bevor mich ein Wärter rauswarf, konnte ich noch eine Stele sehen. Ich wusste natürlich nicht, was es war. Erst viel später sah ich das Original im Louvre. Am oberen Ende der Stele gibt es ein Relief mit der Darstellung des Königs, der vor dem thronenden Gott Šamaš, dem Sonnengott, dem Gott der Gerechtigkeit und des Wahrsagens, steht. Das Bild hat sich bei mir eingeprägt. Der betende König erhält von Šamaš, erkennbar an den Strahlen aus seinen Schultern, die Herrschaftsinsignien«, erklärte Lavoisier.
»Die Kombination der Bruderschaft und der Stele«, meinte Sanders.
»Und der Länge des Textes. Wir suchen ja einen sehr langen Schlüssel für die Entzifferung«, sagte Lavoisier.
»Wie lang ist der Codex?«, fragte Sanders.
»Ziemlich lang, die ganze Stele ist damit bedeckt«, antwortete Lavoisier.
»Wartet mal, ich schaue im Internet nach«, meldete sich Nabil zu Wort und las dann einen Text vor.
»Der Codex Hammurapi besteht aus rund 8000 Wörtern, die auf der erhaltenen Stele in 51 Kolumnen mit je rund 80 Zeilen in altbabylonischer Monumental-Keilschrift niedergeschrieben wurden. Er lässt sich grob in drei Abschnitte gliedern: einen Prolog von rund 300 Zeilen Umfang, der die göttliche Legitimation des Königs darlegt, einen Hauptteil mit nach moderner Einteilung 282 Rechtssätzen und einen rund 400 Zeilen umfassenden Epilog, der die Rechtschaffenheit des Königs lobt und nachfolgende Herrscher zur Befolgung der Rechtssätze auffordert. Die enthaltenen Rechtssätze, die rund achtzig Prozent des Gesamttextes einnehmen, betreffen Staatsrecht, Liegenschaftsrecht, Schuldrecht, Eherecht, Erbrecht, Strafrecht, Mietrecht und Viehzucht- sowie Sklavenrecht.«
»8000 Wörter! Das sind etwa 40‘000 Keilschriftzeichen«, sagte Sanders, und er sagte das mit einem Anflug von Begeisterung.
»Ist das lang genug?«, fragte Lavoisier.
»Der verschlüsselte Code beinhaltet etwa 17‘000 Buchstaben und Zahlen. Der Codex ist also lang genug, um unser Schlüssel zu sein«, bemerkte Nabil.
»Wusstet ihr, dass ein Asteroid Ende der 90er Jahre den Namen Hammurapi erhielt?«, klärte Sanders alle auf, denn als Astrophysiker schien ihm das wichtig zu sein.
»Nein, war mir nicht bekannt. Deshalb haben wir dich ja im Team«, witzelte Lavoisier und sagte:
»Dann macht euch ans Werk!« Er wollte schon auflegen, als Nabil eine Frage stellte, die er am liebsten nicht gehört hätte.
»Wir sind beide in drei Tagen in Kairo, wirst du hingehen?«
»Ich weiss nicht, ob ich das kann«, antwortete Lavoisier, und all die Erinnerungen kamen bei ihm wieder hoch. Die Fahrt, die Explosion, das viele Blut. Aber er wusste, dass kein Weg daran vorbeiführen würde, wenn er seinen inneren Frieden finden wollte.
»Ich werde dich begleiten, das sind wir ihr schuldig.«