Читать книгу Dados Vermächtnis - E. A. Kriemler - Страница 5

2. Kapitel

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Ah, eine junge Aktivistin, voller Eifer, Energie, sehr schön, prächtig, toll. Ohne zu fragen setzt sich die ältere Frau neben Jenny, graues krauses Haar, die Bluse in Flieder, stupst sie in den Oberarm, ignoriert die beiden Männer im Raum. Gejubelt, als gesehen, dass keine alten Schachteln in der Fraktion. Die Rentnerkurse über den Sommer hätten ihr gereicht, zu viele stur, starrsinnig, borniert im Alter, vermiesen den anderen die Freude. Werde am Ende nicht selbst so, hoffentlich. Jenny nickt aufmerksam, schmunzelt leicht irritiert. Hieße Silvia, streckt ihr entschuldigend die Hand entgegen, lächelt, Jenny, sehr erfreut, frisches Blut, genau was dieses Land brauche.

Da wäre sie also, das graatländer Parlamentsgebäude, die Situation unwirklich, auch wenn sich Jenny seit drei Monaten auf diesen Tag vorbereitet. Schon der Wachposten. Sie im ganzen Leben noch nie so ehrfürchtig, respektvoll begrüßt. In der Eingangshalle die Landesväter, riesig, aus weißem Stein, imposant, die Hände beim Schwur zum Himmel. Daneben Säulen, weit über ihr zu einer hell beleuchteten Kuppel vereint, roter Granit. Den Kopf in alle Richtungen gedreht, beinahe die Treppe hochgestolpert. Die Gänge voller Stuck, leicht schimmernder Kalkanstrich, Handläufe, Türen mit Silberbeschlag. Selbst der kleine Fraktionssaal mit edlen Hölzern, haarfeinen Schnitzereien bestückt. Getraut kaum was anzufassen, sich zu rühren. Im Sitzungszimmer ein Typ mit Hemd, Krawatte, über den Rechner gebeugt, daneben ein angefressenes Käsebrot, leicht verschwitzt. Kurz hochgeschaut, genickt, als sie gefragt, ob hier die Fraktion der digitalen Gemeinschaft, sei hier richtig. Dres, sie weggewinkt, müsse noch was erledigen, wichtig, dringend, sei bald bei ihr. Er seither mehrmals laut geflucht. Muss aus Lehenstädt stammen, typisch Hauptstädter, sieht man dem an. Alle ungeheuer beschäftigt, hetzen durch die Straßen, laut gestikulierend, herausgeputzt, als kämen sie aus einer wichtigen Sitzung, ein Knopf im Ohr. Dabei die Arbeitslosenquote hier genauso hoch. Auf den zweiten Blick entdeckt man die Flicken an ihren Kleidern, hört, dass am Ende der Leitung bloß die Tante, ein aufgebrachter Vermieter. Lächerlich. Jenny in den ersten Tagen ständig angerempelt, umgerannt, angefahren, solle schauen, wohin sie latsche. Macht sie irre, ihr Stadtteil zum Glück gemächlicher, die Hektik nicht ganz so groß.

Letzte Woche in ihre Anderthalbzimmer-Wohnung gezogen, Arbeitersiedlung, Altbau, notdürftig saniert, eine halbe Stunde außerhalb der Stadt. Das Taggeld muss ja nicht gleich für die Miete draufgehen. Ihre Brüder die Matratze vom Dachboden geholt, eine Kommode ausgeräumt, zwei Lampen, ihre besten Kleider, ein paar alte Kochtöpfe in den Wagen gepackt. Zu dritt über die Autobahn gedüst, den Übergabetermin gerade noch erwischt. Herd, Kühlschrank vom Vormieter übernommen, dazu Tisch, Stühle, Geschirr aus dem nächsten Gebrauchtwarenhaus. Das neue Zuhause in einer Stunde eingerichtet, gemeinsam auf ihren Auszug angestoßen, einen Teller Nudeln verdrückt. Um acht sich die beiden Großen auf den Heimweg gemacht, seither allein in dieser Stadt. Von Mamma am nächsten Tag eine Textnachricht.

Nach ihr ein junger Kerl im Fraktionszimmer aufgekreuzt, paar Jahre älter als sie, zerzauste Frisur, Sportschuhe, knittriges Hemd. Bei der Türe stehen geblieben, dürftig gegrüßt, drückt seither auf dem Telefon rum, sichtlich nervös. Linst zur Tür hinaus, ein Blick zur Uhr, ein halber Schritt nach vorn. Bis vorhin nicht gewusst, dass er die Einführung halte, stammelt jäh los, sollte eine Kollegin von der Bewegung übernehmen, eigentlich, stecke fest, eine gesperrte Brücke, ihr Bus seit einer Stunde keinen Meter vorwärtsgekommen. Schaut verlegen in die Runde. Na, dann wolle er mal: Sein Name sei Severin, der Fraktionssekretär, das Du für alle in Ordnung, in der Bewegung üblich, quasi die Regel, und, ja. Stockt, fummelt am Kragen herum.

Wie gesehen, sich alle mit der Bürgerplattform bereits vertraut gemacht, die Abläufe hoffentlich klar. Herzstück die Bürgeranträge, die sie übernehmen, in Kommission und Bürgerforum vertreten können, sobald diese genügend Unterstützer gefunden. Severins Worte nehmen Fahrt auf, drücken Jenny in ihren Sitz. Er offensichtlich wohler in formellen Dingen. Die Bürgeranträge in der Sommeruni zum Glück bis zum Umfallen geübt, Jenny bei dem Tempo sonst Panik gekriegt. Das Formular gleich nach der Vereidigung aufgeschaltet, dann stünde auch der Zugang zu sämtlichen Geschäften.

Zu den eigenen Dossiers erhielten sie montags jeweils aktuelle Ausdrucke, zur Sicherheit, der Zustand des hiesigen Datennetzes ja kein Geheimnis, Severin schaut kaum auf, hakt ein Punkt nach dem anderen ab, voll auf seine Notizen fokussiert. Zudem die älteren Semester Papier noch gewohnt, und wer bloß das schmale, staatliche Mobilgerät besäße, wohl auch froh darum, könnten es auch abbestellen, falls nicht. Das Ganze käme halt ohne Kommentare der Bevölkerung, Video- oder Tonabschrift, würde den Umfang sprengen. Alle wichtigen Kontakte fänden sie online oder in den Unterlagen, eine Führung durchs Gebäude gäbe es morgen in den Kommissionen, dort auch die laufenden Geschäfte erklärt und unter den Bisherigen verteilt, das erste reguläre Bürgerforum fände dann am Mittwoch statt. Er holt zum ersten Mal Luft. Hierzu noch Fragen?

Jennys Schädel sturm, knapp die Hälfte davon aufgenommen, zögert, ob sie die Hand heben soll. An der Tür ein leises Klopfen, ein hagerer Mann streckt zaghaft den Kopf herein, entschuldigt sich für die Verspätung. Mitte Dreißig, halblange dunkle Locken, Hornbrille, leichte Bräune, Dreitagebart. Solle er sich gerade vorstellen? Mersad, Antiquitätenhändler aus Markheim. Bereits für die Übergangszeit ausgelost, die letzten zwei Jahre bei den Grünen zu Gast, aus Gewohnheit jetzt ins falsche Fraktionszimmer gelatscht. Schaut in die Runde, wie’s aussieht, er nicht der Letzte, kratzt sich verlegen am Arm.

Nein, wären mit ihm komplett. Dres schaut zum ersten Mal vom Bildschirm auf, blickt in die Runde, klappt den Rechner zu, schiebt ihn beiseite. Sie vier quasi die Vertretung der Bewegung, was davon übrig geblieben, seit der großen Aktion. Die Unterstützung an der landesweiten Ziele-und-Werte-Erhebung bescheiden, nicht zu ihm gedrungen? Könne ja nicht ewig andauern, die Begeisterung. Falls er jemanden vermisse, habe sich der sicher aus dem Staub gemacht. Wie viele sich nach der Übergangszeit wieder aus dem Parlament verabschiedet, achtundzwanzig? Blickt zu Severin, dieser irritiert, überlegt, ob er darauf antworten, wie er den Faden wieder aufnehmen soll. Dres zuckt mit den Schultern, Entschuldigung, dass er das so sagen müsse.

Ein Seufzen, Silvias flache Hand knallt auf den Tisch, müsse die Herrschaften leider unterbrechen, bevor der Startschuss ganz ruiniert. Jenny zuckt zusammen, ihre Gedanken brodeln, gerade Dres grilliert. Dieses arrogante Getue, was erreicht er damit? Ein sanftes Ächzen, ihre Sitznachbarin stützt sich auf dem Tisch ab, steht ruhig aber entschlossen auf. Wäre zwar nicht ihr Job, doch möchte sie allen hier zur Loswahl gratulieren. Die Vereidigung zur Bürgervertreterin und zum Bürgervertreter der neugegründeten, digitalen Republik Graatland ein Stück Weltgeschichte, eine Ehre, ihnen vermutlich allen bewusst. Zum ersten Mal überhaupt es ein Staat gewagt, die Gesamtheit der Bevölkerung in den Parlamenten abzubilden. Vom Einwanderer ohne Schulabschluss bis hin zur studierten, gutsituierten Spitzenmanagerin, gemäß ihrer eigenen Interessen an einen Tisch zusammengebracht. Bereits jetzt eine einmalige Leistung eines solidarischen, zukunftsorientierten Landes, Verdienst der Bewegung, auf die sie stolz sein dürften, auch wenn von ihnen keiner zu Häuptling Dados engsten Vertrauten zähle.

Silvia schaut in die Runde, herausfordernd, ihre alte, karge Stimme bestimmt, verwehrt jeden Widerspruch. Die Revolution mit dem heutigen Tag erfolgreich zu Ende gebracht, die Politik könne sich nun Dringenderem zuwenden: Arbeitsplätze, Krankenhäuser, Armutsbekämpfung, Katastrophenschutz. Dazu brauche es motivierte, unabhängige Leute, keine Wächter der Bewegung. Sie vier müssten sich nun um das Getriebe des neuen Systems kümmern, die Feineinstellung, das Schmiermittel. Dies ihre Aufgabe, freue sich darauf. Und da sie schon dabei sei: Silvia, Rentnerin und Altparlamentarierin aus Spalenberg. Setzt sich, eine Handbewegung zu Severin, solle fortfahren, gäbe für die nächsten Tage sicher noch einiges vorzubereiten.

Trommelwirbel, ein Jubelschrei. Jenny konnte es sich nicht verkneifen, Mersad setzt in den Beifall mit ein. Silvias Ansprache sie kurz vor ´nem Loch in Hochstimmung katapultiert. Bilder einer Reportage steigen in ihr empor. Übers Wochenende auf dem Staatssender reingezogen, zur Einstimmung auf ihren neuen Job. Die Vielfalt des neuen Bürgerforums: Die erste schwarze Frau im nationalen Parlament, zweimal in Lokalwahlen angetreten, ohne Erfolg. Der zweiundachtzigjährige Berghirte, vor Jahrzehnten zuletzt außerhalb seines Heimattals. Die transsexuelle Künstlerin kurz vor der Operation. Kann es kaum erwarten die alle zu treffen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, nach dieser Rede erst recht nicht.

Dreimal in die Hände geklatscht, dankt Severin Silvia für ihre Worte, hätte es nicht besser sagen können. Jenny prustet kurz auf, verschluckt sich, beinahe ein Hustenanfall. Zu den Kommissionen: Mersad in den letzten zwei Jahren einige Erfahrungen gesammelt, Beziehungen geknüpft, daher für die eigene Kommission gesetzt. Trete dort für die Beteiligung sämtlicher Bevölkerungsschichten am politischen Entscheidungsprozess ein. Dres an seiner Seite, er aus dem Informatikbereich, kenne sich mit den technischen Möglichkeiten, all den Kooperationsprogrammen sicherlich bestens aus. Mit Silvia bereits geredet, knüpfe in der Kommission für Lohngerechtigkeit an ihre frühere politische Tätigkeit an. Da Jenny ihm nicht geantwortet, Severin zeigt auf sie, er sie nun der Umweltkommission zugeteilt. In ihrer eigenen Kommission acht Vertreter anderer Fraktionen, was zeige, dass die digitale Gemeinschaft auch über die Interessensgrenzen hinaus Unterstützung finde, wobei ...

Worauf sie nicht geantwortet? Etwas verpasst? Jenny aufgeschreckt, verdattert, wischt sich durch den Nachrichtenverlauf. Sich Severin gar nicht angeschlossen, verdammt, holt es schleunigst nach, nicht mitgekriegt, dass er Teil der Fraktion. Silvia lehnt sich zu ihr rüber, solle nicht aufm Telefon herumdrücken, flüstert ihr ins Ohr, ob sie mitbekommen, dass die Herren sich gerade die besten Posten zugeschanzt. Sie mir ihrer Zuteilung ja zufrieden, aber für Jenny letzte Gelegenheit zu protestieren.

Das mit den Kommissionen, wie funktioniere das? Ihr Einwurf wie ferngesteuert, reist Severin aus seinem Redefluss. Jenny unklar, was genau ihr Plan, schiebt ein Sorry nach. Die Kommissionen die zweite Dimension in der Parlamentsstruktur, müßig schreitet ihr Sekretär zu ihr hin, wie ein Lehrer kurz vor der Pension. Dort die Geschäfte behandelt, in der Fraktion bloß der Austausch unter Gleichgesinnten, nicht identisch, obwohl dasselbe Thema im Namen. Ihre Kommission mit zehn Vertretern eher klein, dem Innenministerium unterstellt. Darin jeweils die Hälfte der Fraktion vertreten, bis maximal zu einer Sperrminorität von dreiunddreißig Prozent, an der Sommeruni ihr das bestimmt jemand erklärt. Er schaut sie an, als wär sie 'ne beschränkte Göre. Am liebsten würde Jenny ihn nachäffen, kann sich knapp beherrschen. Sie vertrete nun die Anliegen der digitalen Gemeinschaft im Umweltbereich, eines ihrer angegebenen Interessen. Könne jetzt noch Einspruch erheben. Silvia stupft sie in die Seite, Jenny schaut zu ihr rüber, schüttelt den Kopf. Naturschutz eine tolle Sache, greifbar, konkret, möchte nicht wählerisch, zimperlich erscheinen, am ersten Tag. Nein? Severin dreht sich ab. Weniger kompliziert als es sich anhöre, würde es in zwei, drei Tagen bestimmt kapieren.

Wenden sich den Eckdaten der nächsten Wochen zu. Da das Telefon bereits in den Händen, prüft Jenny kurz ihr Profil, sich noch nicht viel getan seit dem ersten Eintrag. Einige Unterstützer aus Sinterlingen, Freundinnen, Mamma, die beiden Großen, ein paar Bürgervertreter, in den letzten drei Monaten kennengelernt, die großen Massen sich ihr noch nicht angeschlossen, beruhigend irgendwie. Für ihr Video an Lea ein Dutzend grüne Häkchen, dazu ein paar Fotos aus der Sommeruni, in denen sie markiert. Bleibt an ihrem Portrait kleben. Wurden alle beim selben Fotograf vorbeigeschickt, in einer Viertelstunde vielleicht hundert Aufnahmen, mit Stylistin und so. Gab noch nie ein solch bezauberndes Bild von ihr, das Lächeln, die Haare, das Licht perfekt, trotzdem meilenweit entfern von ihr, das ist nicht sie. Als hätten die eine Hülle kreiert, in die sie nun hineinwachsen soll. Keine Ahnung, ob sie das schafft, überhaupt will.

Zu guter Letzt empfehle er ihnen, in der nächsten Zeit die Schaltzentrale aufzusuchen. Bei dem Stichwort Jennys Aufmerksamkeit schlagartig wieder bei Severin. Von dort aus die große Aktion, sämtliche Kundgebungen und Verhandlungsgespräche koordiniert, ein historischer Ort. Nun träfen sich die Arbeitsgruppen der Bewegung dort. Die Idee, dass sich daraus eine Denkfabrik für die Fraktion entwickle, die Finanzierung aber so eine Sache und basisdemokratische Organisationen nun mal nicht ganz so schnell. Er hebt vielsagend die Augenbrauen. Gebe offene Abende, jeden Donnerstag, ein Besuch lohne sich, schon der Vernetzung wegen. Aber jetzt Zeit für ihre Vereidigung, danach ein großes Bankett, eventuell schaue Dado noch vorbei, man sehe sich sicherlich.

Dados Vermächtnis

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