Читать книгу Dados Vermächtnis - E. A. Kriemler - Страница 6

3. Kapitel

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Sie müsse Jenny sein, sie gleich erkannt, vom Profilfoto auf der Bürgerplattform. Jenny blickt von ihrem Mobilgerät auf. Über ihr eine Bewegte, hochgewachsen, die wilden blonden Locken zu einem strengen Knoten gebunden. Streckt ihr die Hand entgegen, zieht sie lächelnd hoch. Ja, ähm, hallo. Jenny stottert, fühlt sich ertappt, streicht sich verlegen über die Schulter, den Oberarm. Hätte versucht Empfang und Galerie auf ein Foto zu bringen, daher hier herumgekauert, in der Ecke, auf dem Boden, nicht rumspioniert, bestimmt nicht. Niemand sie bemerkt, von ihr Notiz genommen, als Jenny vorhin die Schaltzentrale betreten, sich daher still umgeschaut. Die staatlichen Apparate leider ohne Weitwinkelfunktion.

Moira, stellt sich die Bewegte vor, könne sie gerne herumführen. Donnerstags eh offene Tür, in Erinnerung an die wöchentlichen Sitzstreiks, damals nach der großen Aktion. Habe sich ihr angeschlossen, gerade als die Plattform aufgeschaltet, die Fraktion für digitale Gemeinschaft ja quasi Teil der Bewegung, nicht? Jenny folgt Moira durch den Eingangsbereich, vorbei an der zusammengewürfelten Lounge-Ecke, der selbstgezimmerten Theke. Toll, dass sie in der ersten Woche vorbeikäme, habe sicher ein volles Programm. Sie es am Dienstag knapp zur Vereidigung geschafft, der letzte Platz auf der Besuchertribüne, im Verkehr stecken geblieben. Das Ereignis des Jahres, hätte es sich nie verziehen, wenn sie das verpasst. Die Stadt seit Jahren am verfallen, sage sie ihr, zum Glück nun Besserung in Sicht. Die Eröffnungsrede leider zu langfädig, einschläfernd, emotionslos, komme davon, wenn man den Staatssekretär zum Übergangspräsidenten erklärt. Dado hätte das besser gemacht. Sie ihn schon kennengelernt, nein?

In den Schaufenstern Protestaufnahmen, großformatige Plakate, an der Decke Transparente mit vergangenen Parolen. Wie Jennys altes Zimmer, bloß in riesig, gigantisch, monumental. Viele der Sprüche selbst an Kundgebungen geschrien, als Poster, Sticker an Wände, Laternenpfähle geklebt. Holen wir unsere Macht zurück! Hallt bis heute nach.

Vor Jahren hier ein Modegeschäft einquartiert, fährt Moira fort, internationale Topmarken, die alte Paradenallee vor der Krise voll davon. Die Räumlichkeiten habe die Bewegung schon gemietet, bevor der ganze Wirbel gestartet, für einen symbolischen Betrag, eine glückliche Fügung, quasi ein Butterbrot. In der Alleevereinigung habe es Aufstände gegeben, viele wollten nicht einsehen, dass die guten Tage vorbei, sich kein schicker Mieter für ihre noblen Hallen finden lässt. Die Nachbarschaft sich in den letzten Jahren ziemlich verändert: Marktstände und kleine Geschäftslokale, vergebens bemüht die weiträumigen Verkaufsflächen zu füllen. Und dazwischen Notschlafstellen, besetzte Häuser, Bretterverschläge. Die seien froh, dass die Schaltzentrale hier einquartiert. Mit einer Armbewegung weist ihre Begleiterin Jenny zur Galerie. Sie sei schon mal hier gewesen, ja? An einem offenen Podium, vor drei, vier Jahren? Schön! Die Stimme der Bewegten ruhig, einnehmend, als sei sie’s gewohnt zu leiten, zu präsentieren. Von Sinterlingen her? Das mache nichts, können ja nicht jeder in die Hauptstadt ziehen. Fast zwei Stunden? Einen Arm an ihrer Schulter führt sie Jenny durchs Obergeschoss. Kein Wunder habe sie sich bisher nie dorthin verirrt.

Im Sitzungszimmer eine Arbeitsgruppe, eine Frau, vier Typen, alle etwa dreißig, versammelt um die Ecke des breiten Tischs. Moira stellt die Runde mit wenigen Worten vor. Danach Umarmungen, Küsschen, ein großes Hallo. Jenny die große Beachtung nicht gewohnt, ihr beinahe zu viel, lächelt brav, windet sich. Einer der Bewegten greift ihre Hand, zieht sie zu sich hin, mittleres Alter, rundlich, lässt sie nicht mehr los. Unglaublich, dass Jenny im Bürgerforum, für ihre Sache einstehe, könne sich das gar nicht vorstellen. Eine junge Hoffnung, schlicht, unverbraucht, aus einer längst abgeschriebenen Stadt. Leute wie sie habe Dado immer gewollt. Sei stolz, gerührt zugleich. Nickend versucht Jenny ihre Hand zu befreien. Kennen sich nicht, was weiß der Kerl denn von ihr, irgendwer hier eine Akte über sie angelegt?

Sich da eine anspruchsvolle Aufgabe ausgesucht, ihr Gegenüber lässt nicht locker, die neuen Mehrheiten ja ein Witz. Die nationale Identität, die traditionelle, christliche Familie! Das die wichtigsten Ziele, Werte der Bevölkerung, ernsthaft? Während die Wirtschaft seit Jahren am Boden, die Altersvorsorge kurz vor den Kollaps? Was wollten diese Fraktionen nun machen, den lieben langen Tag? Soldaten und Flaggen in Dörfer einmarschieren lassen, Frauen schwängern, sie zurück an den Herd schicken? Sein Lachen matt. Er dafür nicht jahrelang gekämpft, wirklich nicht!

Ja, verstehe, murmelt Jenny, möchte nichts darauf erwidern, sich aus dem Fenster lehnen, vor all den neuen Gesichtern, sieht sich nach Moira um. Ja auch geflucht, als im Frühling die Resultate der Befragung veröffentlicht. Vierzehn Prozent die Nationale Identität und Autonomie angekreuzt, von allen am meisten Unterstützung abgekriegt, die Fraktion von Trachtengruppen und Waffenlobby mitfinanziert, zum schreien, was für eine Kombination. Zwei davon sogar in ihrer Kommission. Hätte gestern an der Vorstellungsrunde aber prompt auf die Falschen getippt, was weiß sie schon.

Im Sitzungszimmer über dutzend Leute, von den anliegenden Arbeitsplätzen aus allen Ecken herbeigeströmt. Jenny umzingelt, ihr leicht schwindlig, nie gedacht, dass sie eine solche Attraktion, sich sonst nie allein hierher getraut. Ein Tippen auf ihrer Schulter, ein Bewegter möchte ihr zum Sitz in der Umweltkommission gratulieren, eine hervorragende Wahl. Die Verbindung zur digitalen Gemeinschaft ja nicht für jedermann ersichtlich. Gerade im Bereich virtueller Nutzungskollektive gäbe es äußerst spannende Ansätze, gingen weit über die gemeinschaftliche Ressourcenplanung hinaus. Die Verknüpfung von ökologischer Unternehmensverantwortung mit der Gestaltungsmacht kritischer Konsumenten! Grüner Marxismus, hätte sicherlich bereits davon gehört. Er schaut sie erwartungsvoll an. Jenny starrt ihn an, ratlos, ihr Hirn all die Fachbegriffe am Sortieren. Bevor sie was sagen kann, dreht sich der andere ab, keift in Richtung eines Kollegen. Nein, er solle gar nicht damit anfangen. Internationaler Schadstoffhandel jetzt wirklich letztes Jahrhundert. Selbst wenn er’s mit datengestützten Verursachermodellen garniere. Das globale Finanzsystem sei tot, komme so schnell nicht wieder hoch. Punkt, Schluss, Aus.

Ein Raunen durch die Runde, die Antwort versteht Jenny nicht mehr. Die Aufmerksamkeit der Truppe für einen Augenblick nicht auf ihr, Jenny froh um die Atempause, macht einen Schritt aus dem Gedränge raus. Dort die nächste Bewegte, vom Gezänk der beiden gelangweilt, nimmt sie zur Seite, schirmt sie ab. Habe gelesen, sie sei Malerin, faszinierend, sei ja begeistert von den aktuellen Strömungen der bildenden Kunst... Ach, auf dem Bau, Wände und so. Schaut sie entgeistert an, sei sicherlich auch spannend, wendet sich ab, peinlich berührt.

Schnepfe. Jenny auf einen Schlag unbeachtet, allein, merkt, wie ihr das Atmen schwerfällt, mit dem Rücken zur Glaswand. Der Besuch in der Schaltzentrale, sie hatte ihn sich anders vorgestellt. Sie schließt die Augen, füllt ihre Lungen mit Luft. Die Bewegten um sie herum mit sich selbst beschäftigt, ein quasselnder Pulk. Mit jedem Atemzug steigt das Verlangen, sich zu verziehen. Wird man es ihr übel nehmen, wenn sie bereits wieder verdrückt? Jenny sieht sich um, keiner, der ihren Blick erwidert. Rücklings schleicht sie sich zur Tür.

Nein, das sehe er falsch. Zwei Bewegte versperren den Gang, eine hitzige Diskussion, Jenny bleibt regungslos stehen, flucht innerlich. Was die Bewegung brauche, seien Verbündete in anderen Ländern. Zivilisten, Leute im Untergrund, die ihre eigene Revolution aufbauten, ihre eigenen Landsleute befreiten. Ein verordneter Systemwechsel, wie solle das denn gehen? Bloß die Weiterführung bestehender Verhältnisse, weiter nichts.

Jenny betet, dass sie da nicht hineingezogen, ein Blick zurück, müsste doch einen Hinterausgang, eine Nottreppe geben. Und wer solle es dann füllen, das globale Machtvakuum? Der Zweite verwirft die Hände, schnaubt auf. Sei ein einmaliger, historischer Moment, die Chance für einen Epochenschritt. Oder wolle er warten, bis die nächste Supermacht alles an sich reiße? Die Technik, die stehe auf ihrer Seite, setze Realitäten, kollektive Werte. Andere Staaten könnten das ja nicht ignorieren. Jenny fixiert die beiden, nähert sich ihnen gebannt, einen Schritt nach dem anderen, vorsichtig, bereit zur Flucht. Gewännen zu Beginn vielleicht gerade zwei, drei Nationen, möglich, könne sein. Aber der Dammbruch käme, bestimmt.

Er hält abrupt inne, blickt sie fragend an. Suche sie jemanden? Jenny zuckt zusammen, kurz baff. Äh, ja, Severin, sei der zufälligerweise da? Die zwei ziehen lange Gesichter, ihn heute noch nicht gesehen, mustern sie schweigend. Bange Sekunden, sollen bitte weiterstreiten, sie einfach ignorieren. Der internationale Bund digitaler Republiken, der eine schüttelt den Kopf, nimmt den Faden wieder auf, welch ein Hirngespinst. Wie könne er an Diplomatie glauben, wenn sich die Nachbarstaaten nicht mal mit ihnen an einen Tisch setzten. Eine schmale Lücke, Jenny huscht an den zweien vorbei, rasch, bevor sie doch noch erkannt, eilt über die Galerie, die Treppe hinunter, dem Ausgang entgegen. In ihrem Rücken ein Ausruf, immerhin verharre er nicht in einer hirnrissigen Widerstandsnostalgie. Die letzten Schritte. Sie drückt die Klinke runter, hastet hinaus. Hinter ihr kracht die Tür ins Schloss. Jenny lässt sich gegen die Glasfassade fallen. Draußen! Sie blickt zum Himmel, atmet durch.

Dados Vermächtnis

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