Читать книгу Hart's Bay: Wo unser Herz sich entscheidet - E. P. Davies - Страница 7

Kapitel Zwei

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Finn

Finn Hart streifte das vertraute Gefühl von Verlegenheit ab, als er aus dem offenen Fenster seines Trucks auf den Hart Square blickte.

Der Platz war nahezu verlassen. Alles, was von der einst lebendigen Innenstadt geblieben war, war der Supermarkt auf einer Seite und die Bar gegenüber, die nur zeitweilig geöffnet war. In der Mitte des Rechtecks aus heruntergekommenen Gebäuden befand sich ein heruntergewirtschafteter Flecken toten Grases mit einer einzelnen Holzbank. Einige der Schaufenster waren vernagelt, die Zu Verkaufen-Schilder schon lange verblasst.

Der Supermarkt war nur bis zum frühen Abend geöffnet und was die Bar anging? Tja, es hatte keinen Sinn, dort anzurufen oder online nach den Öffnungszeiten zu schauen. Cheryl ignorierte stolz das Telefon, öffnete die Bar, wann und wie sie wollte, und hieß jeden willkommen. Am vorherigen Abend war Finn nach einem Drink gewesen, nachdem er den ganzen Tag lang mit Leuten geredet hatte, die doch nie zuhörten. Er war von seinem Haus bis zu dem Marktplatz gelaufen, den er nun aus dem Fenster seines Trucks beobachtete wie ein verlorenes Territorium.

Und zum Glück war Finn am vergangenen Abend ausgegangen. Jesse – seine hinreißenden Augen, sein schlanker Körper und freches Mundwerk – war die ganze Nacht lang durch seine Träume gewandert.

Er konnte sich nicht entsinnen, wann er zum letzten Mal einen so großartigen One-Night-Stand gehabt hatte. Er nahm an, dass Jesse ein Tourist war. Schließlich kamen nur selten neue Bewohner nach Hart's Bay, neue schwule Bewohner waren ungefähr so verbreitet wie Einhörner. Daher machte er sich nicht unbedingt Hoffnungen, dass er Jesse jemals wiedersehen würde.

Die meisten Touristen ließen ihre Fenster oben und fuhren eilig durch Hart's Bay hindurch, sobald sie einen Blick auf die heruntergekommene Innenstadt geworfen hatten. Sie zogen Hotspots wie Cannon Beach vor. Aber zu Cheryl, der Besitzerin des Cher's End Table, kamen manchmal die abenteuerlustigeren Touristen – oder die, die sich eher für ein Bud Light als für Leuchttürme interessierten.

Es kam nur selten vor, dass Finn so nah an der Heimat dazu kam, Dampf abzulassen. Er hatte sich daran gewöhnt, nach Portland fahren zu müssen, um einen One-Night-Stand zu finden. In einer Stadt mit tausend Einwohnern war an eine Schwulenbar nicht zu denken und blieb Grindr ebenso nützlich wie eine Mitgliedskarte einer erloschenen Videothek.

Cheryl scherte es nicht, wer in ihre Bar kam, aber brauchbare Männer waren normalerweise schlicht nicht dabei. Es war das erste Mal, dass Finn in Hart's Bay auf jemanden getroffen war, der so süß, abenteuerlustig und seltsam fesselnd gewesen war.

Es ging auch gar nicht nur darum, dass das Leben in einer Kleinstadt nach sich zog, dass man all seine Nachbarn kannte und keiner von ihnen schwul war. Finn war ein Hart.

Früher wäre es darauf hinausgelaufen, dass er als junger Hart in den Familienbetrieb eingestiegen wäre: die Hart-Fischerei. Mit seinen neunundzwanzig wäre Finn inzwischen ein respektiertes Mitglied des Betriebs und der Stadt. Aber das hatte sich vor rund zwei Jahrzehnten erledigt, als sowohl die Fischerei als auch die Familie Hart in sich zusammengebrochen waren.

Soweit es ihn anging, unterschätzte jeder, der wegen seines Namens nett zu ihm war, die Peinlichkeit dessen, was die andere Hälfte der Hart-Familie angerichtet hatte. Er war zu jung gewesen, um das volle Ausmaß der Vorgänge zu begreifen, entsprechend hatte er sich auch nichts zuschulden kommen lassen. Nichtsdestotrotz war Finn im Schatten dieser Geschichte groß geworden.

Zum Glück hatte Jesse nicht zu denen gehört, die ihn wegen seines Namens anders behandelt hatten. Sie waren nur zwei Kerle gewesen, die an einem verlassenen Steinstrand einem Bedürfnis nachgekommen waren.

Sosehr Jesse ihn gefesselt hatte, war es vielleicht besser, dass er nicht dazu kommen würde, ihn besser kennenzulernen. Am Ende war niemand der, der er vorgab zu sein.

»Hey, Mann.«

Finn zuckte zusammen und sah zur anderen Seite des Wagens, wo ein Mann auf seinen Beifahrersitz kletterte. »Hey, da bist du ja.«

»Sorry. Ich konnte mein Mittagessen nicht finden.« Justin, der Neue in ihrem Bauarbeiterteam, brauchte jemanden, der ihn mitnahm, und Finn hatte Mitleid gehabt. Bis Justin seinen ersten Gehaltsscheck bekam und sich ein eigenes Auto kaufen konnte, nahm er ihn gern mit auf ihre Baustellen.

Es kam nur selten vor, dass ihr Team hier in der Stadt arbeitete. So dringend die Gebäude auch saniert werden mussten, weigerte sich die andere Hälfte der Hart-Familie, sie instand setzen zu lassen. Was wirklich verrückt war. Finn hätte gedacht, dass sie wenigstens den Wert ihrer Immobilien erhalten wollten, wenn schon nichts anderes.

»Wo war es?« Finn hielt sich mit seiner Belustigung zurück. Justin gehörte zu den Menschen, die ihren eigenen Kopf vergaßen, doch er war bereits einer ihrer fleißigsten Arbeiter.

»Ähm, auf dem Kühlschrank.«

»Nicht im Kühlschrank?«

Justin zuckte die Schultern. »Vermutlich, weil kein Platz war. Der Kühlschrank ist voller Bier für das Spiel am Wochenende.«

Finn verbiss sich ein Seufzen. Er sah aus wie jemand, der Sport mochte. Daher hatte er gelernt, sich darüber zu unterhalten, ohne großartig eine Meinung abzugeben. »Ja? Kommen Freunde vorbei oder sollte jemand ein ernstes Gespräch mit dir führen?«

Justin lachte. »Freunde«, verriet er Finn. »Willst du auch kommen?«

»Nee, ich kann nicht. Ich bin…« Finn griff nach der ersten Ausrede, die ihm in den Sinn kam. »Schwimmen. Grillen. Am Strand grillen und schwimmen. Jepp.«

»Klingt großartig.« Justin grinste ihm zu und Finn verbarg seine Erleichterung. Justin war sowieso nicht der Typ, der sich eine Absage zu Herzen nahm. Er hatte bereits das Thema gewechselt und redete über die Rekorde seines Teams in dieser Saison.

Finn war gut darin, seine Standardbemerkungen einzuwerfen – Das war ein klasse Tor, Ihre Defense ist zermatscht worden und sein Favorit Der Schiri sollte mal zum Augenarzt –, um vorzugeben, dass er mitredete, um welche Sportart es auch ging. Zum Glück musste er nicht oft darauf zurückgreifen. Justin unterhielt sich mit seinem Gerede über Sport während der zwanzigminütigen Fahrt praktisch selbst. Alles, was Finn tun musste, war ab und zu »Hm-hm« zu sagen.

Als sie die Baustelle erreichten, war Finn leicht überrascht, den Wagen des Chefs dort zu sehen. Mike vertraute normalerweise darauf, dass Finn sich um das Tagwerk kümmerte, und es war recht selten, dass er nach dem Rechten sah. Er war selbst ein entspannter Westküsten-Vertreter.

Das bedeutete, dass es Neuigkeiten gab.

Doch bevor Finn dazu kam herauszufinden, wo Mike steckte, stand die Neuigkeit vor ihm. Oder anders gesagt stand sie neben der Tischsäge, schwang lässig einen Hammer und sprach mit einem der erfahreneren Jungs ihrer Crew.

Rainier Hart.

Es war Jahre her, dass Finn seinen dunkelhaarigen Cousin gesehen hatte, doch er hatte ihn innerhalb eines Herzschlags erkannt. Er hatte das schiefe Lächeln ihres Großvaters und die typische Körperhaltung seiner Familie, die besagte, dass sie etwas Besseres als der Rest der Welt waren.

Wenig ging Finn so sehr unter die Haut, wie zu sehen, wie sie mit dieser Geisteshaltung in Hart's Bay herumliefen. Und dummerweise konnte er nicht mal schimpfen, dass ihnen die Stadt nicht gehörte, denn das tat sie.

Verdammt, warum war Rain hier?

Bevor er fragen konnte, erschien Mike und schleppte ihn zu einer Seite der Baustelle. »Hey, also…«

»Du hast Rain angeheuert.« Finn hob eine Augenbraue und wartete auf eine Erklärung.

Mike war in Hart's Bay geboren und aufgewachsen. Er musste wissen, dass es Wahnsinn war, Finns Cousin einzustellen. Um Himmels willen, Mikes Chef war Roy, der dritte der drei Hart-Brüder. Onkel Roy stand zusammen mit Finns Vater auf der guten Seite. Hatte er der Neueinstellung zugestimmt?

Noch verrückter war es, von Rain zu erwarten, dass er sich von Finn beaufsichtigen ließ. Und Finn würde ihn nicht mit irgendwelchem Murks durchkommen lassen, nur weil er Angst hatte, jemandem vom bösen Zweig der Harts zu sagen, was zu tun war.

»Ich glaube nicht, dass er dir Schwierigkeiten machen wird.«

Finn schnaubte beinahe vor Lachen und warf Rain einen neuerlichen Blick zu. Nun lehnte er an der Säge, die Arme verschränkt, und unterhielt sich, als würde er sich bestens mit den anderen Jungs verstehen.

Sein Auftreten ließ Finn mit den Zähnen knirschen. Das Vermögen der Harts mochte schwinden, aber er war sicher, dass immer noch genug Geld da war, um sicherzustellen, dass das jüngste von Monty Harts Kindern zeit seines Lebens nicht arbeiten musste.

Hier auf Finn zu treffen, der die Crew von Hart & Hart Construction beaufsichtigte, sollte Rain nicht überraschen. Finn führte seit Monaten die Aufsicht über diese Mannschaft. Es gab genug andere Baustellenjobs, wenn Rain zum Spaß ein bisschen am wahren Leben teilnehmen wollte. Also warum war er hier, wenn nicht, um Ärger zu machen? Vielleicht war dies die neueste Runde in Sachen Familienpolitik. Der letzte große Knall lag bereits ein paar Jahre zurück.

»Ich weiß«, sagte Mike und klopfte Finn auf die Schulter. »Aber wir haben ein gutes Gespräch geführt. Es ist ihm ernst und er ist bereit, hart zu arbeiten. Gib ihm die Chance, dich zu überraschen. Ich brauchte einen Mann mit seinen Fähigkeiten.«

»Die wären?« Finn konnte seine abfällige Bemerkung nicht zurückhalten. Er warf dem schlanken Mann auf der Baustelle einen finsteren Blick zu. »Kann er auch nur ein Kantholz heben?«

Gott, er hasste es, sich wie ein Arsch aufzuführen, aber er hatte noch nie auch nur eine positive Erfahrung mit einem seiner Verwandten gemacht. Die wenigen Harts, die noch in der Stadt lebten, gingen sich aus dem Weg und das war das Beste, was sie tun konnten. Es half, dass außer Finn alle Nachkommen ihrer Generation die Stadt verlassen hatten. Von ihrer Seite waren nur Finn, seine Eltern und Onkel Roy geblieben, auf der anderen Großvater und Rains Eltern.

»Er kommt schnell die Leitern hoch und runter. Wie eine verflixte Bergziege. Er kann sich in enge Räume quetschen. Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Haus zu bauen.« Mike beäugte ihn. »Aber das weißt du ja. Außerdem hat er sich in den letzten ein oder zwei Jahren eine Menge Erfahrung im Bau erworben. Ich glaube, er wäre ein guter Dachdecker.«

Natürlich. Das war Finns Spezialität gewesen, bevor er die Karriereleiter hochgeklettert war. Nun beaufsichtigte er den Rest des Teams und war die Verbindungsstelle zu den Chefs.

Sie übernahmen den Rohbau, sorgten dafür, dass Gebäude über feste Innen- und Außenwände verfügten, deckten Dächer und bauten Fenster und Türen ein. Kurz gesagt verwandelten sie einen nackten Betonklotz in ein richtiges Gebäude und Finn liebte es. Sie wurden früh genug Teil des Bauprozesses, dass es nur selten zu kritischen Situationen kam, und es war eine befriedigende Arbeit.

Doch jeder auf der Baustelle arbeitete. Inklusive Finn. Er hatte nie viel für Aufseher übriggehabt, die ihre Position missbrauchten, um herumzustehen und Befehle zu geben; eine Ausrede, um sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Entsprechend verbrachte Finn immer noch viel Zeit damit, über Dächer zu klettern und dafür zu sorgen, dass sie stabil und wasserdicht waren. Im pazifischen Nordwesten gab es nichts Wichtigeres.

»Gut«, sagte Finn knapp. Solange Rain keinen Unsinn anstellte, konnte Finn sich zivilisiert benehmen. Zweifelsohne würde es ihm bald langweilig werden, Bauarbeiter zu spielen, und er würde kündigen.

»Das ist mein Junge.« Mike klopfte ihm erneut auf den Arm und schlenderte mit ihm zu dem halb fertigen Gebäude. »Also, wie läuft es? Liegt ihr im Plan?«

»Wir hoffen, dass wir heute mit dem Dach fertig werden. Wo wir gerade von Rain sprachen… Es soll heute Abend regnen«, sagte Finn zu Mike. Sie hatten keine Zeit zu verschwenden. Der perfekte Zeitpunkt, um die Arbeitsmoral seines Cousins zu testen. »Wenn nicht, dann machen wir das morgen Früh als Allererstes, falls wir die Regenpause bekommen, die wir brauchen.« Wenn ich nur von Rain auch eine Pause bekommen könnte.

Manchmal lebten und arbeiteten sie nach der Wettervorhersage. Die Innenarbeiten konnten unabhängig vom Wetter fortgesetzt werden, aber sie konnten nicht zulassen, dass Wasser unter das Dach geriet.

»Super, klasse.« Mike zeigte ihm den erhobenen Daumen. »Ruf an, falls ihr was braucht.«

Er überließ Finn seiner Arbeit, also rief Finn die Jungs für ihre morgendliche Besprechung zusammen.

Finn konnte Rains bohrenden Blick spüren, als er ihnen mitteilte, dass die Dachziegel heute angeliefert werden würden, dazu die Ladung Bauholz, die gestern nicht eingetroffen war, all die Einzelheiten, die er klären musste.

Endlich sprach er das Offensichtliche auf der Baustelle an. »Und wir haben einen weiteren Neuen. Justin ist nicht mehr der Kleine. Rain, willkommen im Team.« Kein Wort über seine Beziehung zu den Firmenbesitzern, wie es sein sollte. Finn hatte sich nie darauf ausgeruht und Rain sollte es ebenfalls lassen.

»Danke.« Rains Stimme war kräftig und scharf, als er denen, die ihn willkommen hießen, zunickte. »Kann's nicht erwarten anzufangen.«

Finn erkannte das Getöse und Posieren, mit dem jeder Neue seinen Einstand gab – niemand wollte schikaniert werden und außerdem wollte man zeigen, dass man hart arbeiten konnte. Tja, sie würden abwarten und sehen, wie er sich machte.

»Worauf warten wir dann? Wir haben heute keine Zeit zu verschwenden«, sagte Finn zu ihm – und zu allen anderen. »Legt los.«

***

Wie sich herausstellte, hatte Mike recht. Was auch immer Rain in die Heimat zurückgebracht hatte, wenigstens arbeitete er sich den Arsch ab, wann immer man ihm eine Aufgabe gab.

Widerwillig legte Finn sein Misstrauen ab, aber er blieb wachsam. Solange er nicht wusste, was Rain vorhatte, würde er ihm nicht trauen, aber er konnte mit ihm arbeiten, wenn er musste.

Natürlich würde es kein Picknick werden. Die Holzanlieferung war ein weiteres Mal verschoben worden, sodass die Hälfte der Crew nichts zu tun hatte. Das bedeutete, dass er ein paar Jungs mit sich aufs Dach nehmen konnte, die nicht Rain waren. Sie arbeiteten ohnehin besser zusammen.

Finn wusste, er hätte den Neuen Erfahrungen sammeln lassen sollen, aber wenn sich eine Regenfront näherte, arbeitete er schneller und besser mit Leuten, die er so gut wie seine Westentasche kannte.

Bis Tim einen Anruf aus der Schule bekam, dass er seine Tochter früher abholen sollte, und Finn Rain entdeckte, der unten an der Leiter stand und auf eine Aufgabe wartete.

Finn gefiel das gar nicht. Aber er schätzte, es war klug, die eigenen Freunde in seiner Nähe und die Feinde noch näher bei sich zu behalten. Er ruckte mit dem Kinn. »Du tauschst den Platz mit ihm, Rain. Wir sehen uns morgen, Tim.«

»Vielen Dank, Mann.« Tim war dankbar für den frühen Feierabend, aber genau genommen ging es nur um eine Stunde Arbeit, die sie verloren, und für jemanden mit Tims Erfahrung und Fähigkeiten war Finn bereit, die Regeln zu beugen.

»Hey.« Sobald er in Tims Geschirr geschlüpft war, kletterte Rain die Leiter hinauf, als wäre es nicht der Rede wert, und gesellte sich zu ihm aufs Dach. »Was kann ich tun?«

Keine blöden Kommentare oder schiefen Blicke. Finns Respekt für ihn nahm ein bisschen zu.

»Reich mir die Ziegel«, sagte er, während er sie Stück für Stück an ihren Platz legte. Schweigend arbeitend fanden sie viel schneller einen Rhythmus, als Finn erwartet hatte. Sie beendeten gerade die letzte Reihe, als ihnen die ersten Regentropfen ins Gesicht schlugen.

Ihm tat alles weh und er wollte nach Hause. Da das restliche Gebäude vor Wasser geschützt war, konnte er die Jungs endlich gehen lassen.

»Danke für deine Arbeit heute«, sagte Finn zu Rain. Seine Stimme kratzte, weil er so lange nicht gesprochen hatte. Den ganzen Tag über hatte er mehr beobachtet, als zu reden, um zu sehen, wie die Jungs miteinander arbeiteten. Während der vergangenen Stunde war ihm nicht danach gewesen, ein freundliches Gespräch zu beginnen, und es war ihm sicherer vorgekommen, einen Nachmittag lang einfach so zu tun, als wäre er ungesellig.

»Gern. Danke, dass du mich hier hoch gelassen hast.« Rain ging auf die Leiter zu und ließ Finn kopfschüttelnd zurück. Wer auch immer Rain mit einer Portion Demut gefüttert hatte, Finn wünschte, der Rest seiner Familie könnte ebenfalls einen Teller bekommen.

Vielleicht war diese Sache doch nicht so schlimm.

Nachdem sie die Baustelle für die Nacht abgeschlossen hatten, setzte Finn Justin am Hart Square ab. Vor dem Supermarkt zu halten, erinnerte ihn daran, dass er noch einkaufen musste.

»Ach Scheiße.« Finn konnte es nicht verschieben. Er hatte kein Brot mehr, um sich Sandwichs für das morgige Mittagessen zu machen. Wenigstens war er schon hier. Er musste nur einparken und seinen Hintern nach drinnen schleifen. Dennoch stöhnte er, als er sich aus dem Sitz schob und zum Laden ging.

Einen Einkaufskorb am Arm zu balancieren, fühlte sich merkwürdig angenehm an. Es half, nach einem langen Tag körperlicher Arbeit die Muskeln zu dehnen. Definitiv besser, als direkt nach Hause und ins Bett zu gehen – das hatte Finn in den frühen Tagen seiner Arbeitstätigkeit getan, nur um morgens steif wie ein Brett aufzuwachen.

Als er nach dem Brot griff, klingelte sein Handy. Also schob er den Korb auf den anderen Arm, warf das Brot hinein und meldete sich, ohne recht auf den Bildschirm zu schauen.

»Hey, hier ist Finn.«

»Hey!« Er hätte Dashs Stimme überall erkannt. Sein kleiner Bruder rief mindestens einmal in der Woche an, um sich zu unterhalten. Dash war der zweitälteste der vier Jungen, wenn auch nur um Minuten älter sein Zwilling, und vor Jahren nach Connecticut gezogen, um aufs College zu gehen. Unter anderem wollte er einen guten Job finden, ohne nach Portland pendeln zu müssen. Hart's Bay konnte das Dash nicht bieten – oder etwas anderes. Connecticut hatte ihm die Freiheit geschenkt, sich selbst neu zu erfinden.

»Hey, Dash. Was gibt's?«

»Da kommst du nie drauf.«

»Du läufst weg, um zum Zirkus zu gehen?« Finn ging zum Regal mit den Molkereiprodukten, um Milch zu holen. »Wurde auch Zeit, du Clown.«

»Arschloch.« Dash lachte. »Nein, ich denke darüber nach, nach Hause zu kommen.«

»Nach Hause?« Soweit er wusste, war Dash derzeit nicht im Urlaub oder so was. »Du meinst…«

»Nach Hart's Bay.«

»Du machst Witze«, sagte Finn. Dash hatte recht. Darauf wäre er nie gekommen. »Warum?«

»Roll nur nicht gleich den roten Teppich aus«, schnaubte Dash ein wenig pikiert.

»Nein, nein, es wäre schön, dich hier zu haben.« Finn wollte Dash nicht das Gefühl geben, dass er nicht zurückkommen konnte. Es war schließlich nicht so, als wäre die Stadt nur für einen Hart-Jungen groß genug. Und er hatte seine Brüder vermisst, seitdem sie fortgezogen waren. Es fühlte sich an, als wäre er der Letzte, der die Stellung hielt.

Dash lachte. »Nur ein Scherz, Mann. Ich werde dich nerven kommen, ob du willst oder nicht.«

»Wie in alten Zeiten.« Finn grinste. »Also, was bringt dich wieder her? Die Arbeit kann's nicht sein.« Dash arbeitete als Lehrer und soweit Finn wusste, gefiel ihm das.

»Connecticut fühlte sich einfach nicht mehr nach einem Zuhause an.«

War das ein versteckter Hinweis auf Dashs Liebesleben? Verhielten sich seine Freunde schäbig? Der vertraute Beschützerinstinkt stieg in Finn auf. Zu Schulzeiten hatte er auf all seine Brüder ein Auge gehalten. »Ja?«

»Es steht noch nicht ganz fest. Wie dem auch sei: Wie geht's dir?«

Finn hatte nicht viel zu berichten, aber er erzählte von seinem Tag, während er seinen Einkauf beendete. Insbesondere davon, dass Rain nun in seiner Crew arbeitete und sich ganz gelassen gab. Nur die Tatsache, dass ein gewisser sexy Kerl durch seine Gedanken gespukt war, ließ er aus.

»Hm. Du hast recht. Ich wette, Rain hat etwas vor. Halt mich auf dem Laufenden«, sagte Dash, als Finn zur Kasse ging. Eine war derzeit leer, also ging er darauf zu.

»Mach ich. Ich muss jetzt bezahlen. Wir sprechen uns später, Mann.« Finn steckte sein Telefon ein und schüttelte den Kopf darüber, wie verrückt dieser Tag war.

Als sein Korb abgerechnet wurde, sah er auf – und erstarrte.

An der anderen Kasse stand eine Gruppe von fünf Männern in ihren Zwanzigern, die sich miteinander unterhielten. Er kannte sie nicht… bis auf einen. Einer, der unmöglich zu übersehen war, und der ebenfalls wie angefroren an seinem Platz stand und ihn anstarrte.

Jesse.

»Wir sollten uns Cheetos holen.« Ein peppiger Rothaariger grinste in die Runde und wippte auf den Zehen, während er am Ende der Kasse einen Einkaufswagen belud.

»Junge, du würdest dich von Cheetos ernähren, wenn wir dich lassen würden.« Ein Typ mit schwarzen Haaren und Fingernägeln verdrehte die Augen.

Benimm dich nicht eigenartig, sagte er sich und nickte Jesse kurz zu, dann unterbrach er den Blickkontakt, so ungern er es auch tat. Sein Herz legte plötzlich eigenartige Saltos hin und seine Gedanken, die sonst so ordentlich und geradlinig waren, flogen.

Jesse sah im grellen Licht des kleinen Supermarkts kein bisschen weniger hinreißend aus, während er dabei zusah, wie sich ein Einkaufswagen mit Lebensmitteln füllte und einer seiner Kumpel bezahlte.

»Das macht zehn fünfundsechzig«, sagte der Kassierer zu Finn. Wortlos zog er seine Kreditkarte durch den Schlitz. Als er wieder aufsah, waren Jesse und der Einkaufswagen bereits an der Tür.

Seine Freunde folgten ihm und sahen sich über die Schultern nach Finn um. Zwei von ihnen unterhielten sich flüsternd mit Jesse, versuchten, ihn zu bremsen, aber Jesse ging weiter, als stünde sein Hosenboden in Flammen.

Vermutlich hatte die ganze Welt mitbekommen, dass sie einander angestarrt hatten. So viel also dazu, gelassen zu bleiben. Finn errötete und steckte seine Karte ein, während er sich bemühte, nicht hinter Jesse herzuschauen. »Danke«, sagte er zum Kassierer und nahm seine Tasche. Er versuchte, bewusst langsam zur Tür zu gehen, um Jesse die Chance zu geben, sich zu entfernen.

Aber sie hatten mehr Lebensmittel umzuladen als er. Daher kam er in die Verlegenheit vorzugeben, es nicht zu bemerken, dass sich die vier anderen Männer um einen kleinen verkratzten Kombi neben seinem Truck drängten, während Jesse auf dem Fahrersitz saß. Sie alle schwiegen auffällig und sahen nicht in seine Richtung.

Als Finn aus der Parklücke stieß, wagte er einen Seitenblick und nickte Jesse erneut zu, der auf seinem Platz darauf wartete, dass sie abfahren konnten. Es machte ihn lächerlich glücklich, dass Jesse zurücknickte und ihm eine Andeutung des wunderschönen Lächelns schenkte, das er letzte Nacht gesehen hatte. Er war geflohen, aber offenbar hasste er Finn nicht oder so was. Vielleicht wollte er einfach nur nicht zugeben, dass sie etwas miteinander gehabt hatten. Das war nur fair.

Als Finn zu der kurzen Fahrt zu seinem Haus ansetzte, beobachtete er im Rückspiegel, wie die Köpfe der Männer sich bewegten und sie mit den Händen fuchtelten. Es sah nach einer Runde in der guten alten Gerüchteküche aus.

Gott, er hoffte, dass Jesse ihnen nichts erzählt hatte. Aber im Laden hatte ihre Körpersprache darauf hingedeutet, dass sie Jesse ermuntern wollten, mit Finn zu reden. Es hatte sich nicht nach Gelächter darüber angehört, wie gut – oder schlecht – er gewesen war.

Jesse lebte also hier. Am Vorabend war eine Handvoll Leute in der Bar gewesen und sie hatten gesehen, dass er Jesse mit nach Hause genommen hatte – oder vielmehr zu den Klippen, aber das musste niemand erfahren. Sobald Jesse die Nachbarn kennengelernt hatte, würde ihr One-Night-Stand nicht unbedingt ein Geheimnis sein.

An der nächsten Ecke bog Finn ab und sie ebenfalls. Er fuhr die Straße entlang, die sich in sanften Kurven vom Marktplatz entfernte, und für sie galt dasselbe. Er bog in die Straße ein, in der er lebte, und sie auch.

Der Kombi fuhr weiter – aber ehe er erleichtert durchatmen oder auch nur ein Seufzen ausstoßen konnte, bog der Wagen der Männer in die Einfahrt neben seiner ein.

Nach seinem langen Arbeitstag gestern war ihm niemand in dem seit Langem leer stehenden Mietshaus aufgefallen. Er war direkt zur Bar aufgebrochen.

Ach du Scheiße. Das Haus stand nicht länger leer.

Langsam stieg Jesse aus dem Wagen. Er wich Finns Seitenblick aus. Stattdessen ging er zur Heckklappe des Autos und riss sie auf, als hätte sie ihn beleidigt.

Dann spähte er zur Seite, traf Finns Blick – und lief dunkelrot an. Finn holte rasch seine Taschen und verzog keine Miene. Er gab sein Bestes, nicht über Jesses gekränktes Gesicht zu lachen.

Diese Stadt war seit heute auf ganz neue Weise zu klein.

Hart's Bay: Wo unser Herz sich entscheidet

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