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2. Kapitel: Die neue Bleibe
ОглавлениеJa, das Intermezzo in der Lambert-Steinwich-Straße Nr. 15 ist schnell zu Ende. Etwa nach einem dreiviertel Jahr ziehen wir in die gegenüberliegende Nr. 6. Im zweiten Stock gibt es zwei kleine Zimmer, die an Junggesellen vermietet sind, an einen Eisenbahner und an einen Werftarbeiter und eine junge, schwangere Frau wohnt auch noch dort. Deswegen ist unser neues Domizil ausbaufähig, weil wir warten, daß der eine oder andere endlich heiratet. So nach und nach ziehen sie dann tatsächlich aus, und wir machen uns dort breit und breiter. Den ersten Arbeitseinsatz vergesse ich nie. Unsere ganze Mannschaft, Mutti, Wölfi, Inge und ich, bewaffnen uns mit Spänebällchen und schrubben abwechselnd mit dem linken oder rechten Fuß über die Dielen.Kurze Pause. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, öffne das Mansardenfenster der Schlafstube und schaue in die Gärten, halte Ausschau nach Vögeln und Spielkameraden. Gleich rechts, ein Haus weiter, sitzen zwei Jungens und ein Mädchen an einem Gartentisch. Sie lachen und streiten. Ich kann es nicht genau erkennen, aber es sieht so aus als würden sie mit Karten spielen, vielleicht Quartett. Unter einem Vorwand schleiche ich mich aus der Wohnung, renne auf den Hof, rüber zu den Kindern und frage, was sie gerade spielen. Ein blondgelockter Junge zeigt mir sein Blatt. Abbildungen von Schmetterlingen, also doch Quartett. Ich stelle mich vor, sie sagen ihre Namen auf, Peter, Uwe und Ilse. Im Handstreich drei Kameraden erobert, und drei sind mehr als man für die ersten Stunden in einer fremden Umgebung erwarten darf. Mehr ist zunächst nicht drin. Ich sehe schon den graumelierten Haarschopf meiner Mutter im schmalen Fensterrahmen. Gleich wird sie mitten in das muntere Vogelgezwitscher hinein nach mir rufen. Laut und vernehmlich, damit alle Bewohner des Viertels es hören können: “Komm` sofort hoch! Wie haben hier oben genug zu tun!” Na, dann, schrubben wir eben weiter den Fußboden. Mutti schwitzt, Wölfi stöhnt und Inge gönnt sich ab und zu eine Pause, in dem sie ihre Brille putzt. Wie gesagt, wir wohnen nicht in der Beletage, sondern unter dem Dach, was mit zunehmendem Alter des Hauses verheerende Folgen haben wird. Doch zunächst sind wir optimistisch, voller Tatendrang. Wir haben zwei Zimmer, ein winziges Klosett, eine Küche, in die schon bald eine Etagen-Zentralheizung eingebaut werden soll, im Flur einen Ausguß mit Wasserhahn, in dem halben Zimmer vor der eigentlichen Wohnung eine Wasch-Kommode mit einem riesigen Spiegel. Auf der dicken Marmorplatte steht eine Waschschüssel und ein Krug aus Steinzeug. Ersatz für ein Badezimmer. Die Wäsche kocht Mutti auf dem Gasherd, im größten Emaille-Topf unseres Haushalts. Bettwäsche und alles schwere Zeug bringe ich zur Wäscherei Pech. Wir richten uns ein. Zuerst das Wohnzimmer. Alles auf Teilzahlung, das rote Sofa mit den zwei Sesseln, anschließend ein neuer Tisch, ein Bücherbord und irgendwann auch ein neues Radio.
Allmählich, so ganz allmählich, mündet meine Trauer um den Hühnerberg in eine Quelle der Freude, die man hier den Frankenteich nennt. Es zieht Ruhe und Geborgenheit in unsere Herzen ein. Allein, wir haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Hausbesitzerin, eine Frau Halter, ist aus Altersgründen ganz legal zu ihren Kindern an den Rhein gezogen. Und Frau Dr. Grahl, von der man sagte, sie sei stets sehr nett und freundlich aufgetreten, hat auch das Weite gesucht. Als wollte man die Zuzügler dafür bestrafen, setzt die Kreisleitung der SED nun einen der ihren in das gemachte Nest. Er heißt Ehlers. Ausgestattet mit einer eher beschränkten Bildung, tritt er wie ein Kriegskommissar der Roten Armee auf. In der Hansa-Oberschule wirbt Ehlers für die Kasernierte Volkspolizei, stellt die Frage, ob die Schüler für den Frieden oder für den Krieg seien, und falls sie den Frieden vorziehen würden, müßten sie ihn auch mit der Waffe in der Hand verteidigen. Über die Feinde des Friedens wäre allerdings noch an höherer Stelle zu reden und zu entscheiden. Eine unverblümte Drohung. Argumentation aus der untersten Schublade, primitiver geht es nun wirklich nicht. Der Mann hat in seinem unverschlossenen Schrank seine Dienstwaffe deponiert. Die beiden Jungens spielen damit, bedrohen meinen Bruder, der erstattet Anzeige. Im angetrunkenen Zustand will Ehlers Rache schwören, wird beinahe tätlich, aber unser familieneigene Schutzmann der BSG Lokomotive, Sparte Boxen, hat ihn sofort im Griff, und die Anzeige greift auch nach Ehlers. Er wird abgelöst. Wir trauern ihm keine Träne nach.
Ein neuer Mieter zieht in seine Wohnung. Man schickt uns als Nachbarn nun gleich den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Stralsund, den Genossen Berg. Man ahnt nichts Gutes. Mutti sagt, jetzt werden wir wohl noch alle in die Partei gehen müssen. Na ja, sagte ich, die nehmen doch keine Minderjährigen, und Papa war ja bei den Braunen, und dann müßten sie dich ja auch erst umerziehen, weil Papa dich vielleicht politisch beeinflußt haben könnte. Den einzigen von uns, den sie sich schnappen werden, wird unser Großer sein, weil der studieren will. Als Mann vom Rundfunk muß er sowieso. Das ist da Pflicht bei dem Verein. Er kann schließlich nicht reden wie ein Bürgerlicher im öffentlichen Sender. Dein Sohn, Mutti, braucht zunächst politisches Rüstzeug, bevor er auf die Leute losgelassen wird. Dafür haben sie ja auch ein Rüsthaus. Bezirksparteischule heißt das, glaub` ich. Aber beim Studium verabreichen sie ihm auch schon jede Menge Politik. Mutti winkt ab. Ich soll endliche Ruhe geben. Du machst mich noch ganz verrückt mit deinen Redensarten, sagt sie. Wenn Du groß bist, kannst Du so mit mir reden, nicht jetzt. Ich ziehe mich zurück. Mit Luise, Auguste, Otilie zu streiten hat wenig Sinn. Die Partei hat immer recht, die Mütter auch. Ich habe solche Angst, daß die meine noch eine Politische wird. Sie hätte dann das Privileg, auf ein doppeltes Recht zu pochen, was kaum noch zu ertragen wäre. Inge ist fein raus, sie wohnt nicht mehr bei uns. Und wir leben hautnah mit dem obersten Hirten der SED-Kreisleitung zusammen. Ständig höre ich Schritte an der Tür. Ich höre es Klopfen. Die Partei ruft nach Mutti. Wir liegen in Bereitschaft, denken uns Dinge zur Abwehr der Werbung aus. Wir werden den Genossen Berg vertrösten, sagen, er möchte später noch mal wiederkommen, Frau Schiel wäre noch nicht so weit. Dann pocht es eines Tages tatsächlich an unserer Wohnungstür. Schweißgebadet spähe ich durch einen winzigen Spalt, sage stotternd zu Herrn Berg, meine Mutter ist krank. Sie liegt mit Fieber im Bett. Er sagt freundlich, ach das tut mir aber leid, ich wollte Euch nur einladen zum Kaffee. Bestell Deiner Mutter einen schönen Gruß von mir. Wenn es ihr wieder besser geht, dann kommt mal zu uns runter. Ich zeige Dir dann auch im Keller meine Dunkelkammer. Ich fotografiere nämlich gern, entwickle die Bilder selbst. Das wird billiger und macht mehr Spaß. Also, entschuldigt die Störung. Ach, das wollte ich Dich noch fragen, falls Deine Mutter gute Tabletten braucht, dann sagt mir Bescheid. In meinem Amt hat man eben Beziehungen. Es ist eben so. Also, dann ein anderes Mal. Tschüss.
Was war denn das für einer? Der ist 1. Sekretär der Kreisleitung der SED und spricht wie ein ganz normaler Mensch? Kaum zu glauben. Nun schäme ich mich fast, ihn derart belogen zu haben. Wenn Herr Berg so weiter macht, kriegt er es noch fertig und macht die Fotos zur Einsegnung. Ich mit der Bibel in der rechten Hand und der Fotograf mit Parteiabzeichen am Revers. Das kann doch nicht wahr sein? Abwarten. Nun wollen wir mal nach meinen neuen Freunden Ausschau halten.