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3. Kapitel: Vorurteile
ОглавлениеMeine neuen Freunde habe ich mir recht bequem ausgesucht. Sie wohnen gleich nebenan. Wir sind fast täglich zusammen, sitzen im Garten hinter dem Haus, werden von Uwes Mutter bestens bewirtet, unterhalten uns über die gerade gesehenen Filme, machen Pläne für die Zukunft, reden über die Lehrer und die letzten Erlebnisse rings um den Frankenteich. Dieses kleine Gewässer am Rande unserer Straße ist mehr als nur ein Ersatz für den verabschiedeten Hühnerberg. Es ist der schönste Schulweg, den man sich denken kann. Von der Lambert-Steinwich-Straße bis zur Goethe-Schule geht man durch die Anlagen, in denen es im Mai nach frischem Grün duftet, man kommt am Lambert-Steinwich-Denkmal vorbei, sieht, wie die Schwäne ein Nest bauen, die Enten munter über die seichten Wellen schaukeln, wirft einen flüchtigen Blick auf die zur Ruhe einladenden Bänke, auf denen manchmal ein in Gedanken versunkener älterer Mann sitzt, der mit sich und der Natur allein sein möchte. Dann der hohe Zaun am Franken-Sportplatz, hinter dem es am Sonnabend äußerst lebendig wird, wenn die BSG Motor aufläuft. Beim Einbiegen in die letzte Kurve wird einem schon etwas mulmig, da das Lärmen der Mädchen und Jungen von der Gerhart-Hauptmann-Schule zu mir herüber dringt. Die Romantik endet hier, die Pflicht ruft. Die letzten Schritte werden immer schwerer, der Puls schlägt höher, das Gewissen meldet ein Warnsignal. Alle Aufgaben gemacht? Gut vorbereitet auf den Unterricht? Kein Schulbuch vergessen? Kontrolle auf der Parkbank, gleich neben dem weiten Eingangstor des Sportplatzes. Na, dann, hinein in die Arena! Lehrer Willi Peters wartet schon. Erste Stunde Biologie-Unterricht. Eigentlich wollte Herr Peters uns heute abfragen, wie das menschliche Ohr funktioniert, doch das interessiert uns wenig und der Lehrer hat für das Thema auch nur bedingtes Interesse. Wir wissen, wie wir ihn auf ein anderes Gebiet umlenken können, auf ein harmloses, bei dem es keine Zensuren gibt. Ich hole aus dem Schulranzen ein paar Gräser und Pflanzen heraus, lege sie auf das Lehrerpult, sehe, wie die Augen von Herrn Peters anfangen zu leuchten. Er sortiert sie nach Art und Gattung. Er lächelt vergnügt. Wir reiben uns die Hände. Das kostet alles Zeit. Man gönnt sie ihm. Dann hebt er den Kopf. Wir sperren unsere Ohren auf. Da kommt die erste Frage: Wer kann mir sagen, was ich hier in der Hand halte? Einen schönen Stengel, Herr Peters, antwortet Klaus Mews. Die ganze Klasse kichert. Ach, was sind die Kinder heute wieder unnütz, sagt Herr Peters. Wir lachen alle. Herr Peters ärgert sich. Plötzlich fragt er mich. Ich rate drauf los. Es könnte eine Biberwell sein. Ach, Quatsch, du bist dicht dran, aber falsch. Das ist? Tommy stößt mich unverhofft ans Bein. Ich spüre schmerzhaft die Gedächtnisstütze, denke scharf nach, sage, das ist Beinwell, Herr Peters. Gut für Schmerzen, wenn mir einer gegen das Schienbein kloppt. Na, der Groschen fällt bei Dir aber ziemlich spät, sagt Herr Peters. Nun hält er uns einen Vortrag im Allgemeinen und über die verschiedenen Kräuterarten, wofür sie verwendet werden, für die Küche und die Schmerzen. Wenn ihr später den Beruf eines Kochs ergreifen wollt, müßt ihr wissen, welche Kräuter zu welchem Fleischgericht passen, sagt er. In unserer Klasse will aber keiner Koch werden. Klaus Mews will lieber Fußballer werden, Rainer Petrik möchte gerne Arzt werden, Kronholz will wie sein Vater zur Polizei gehen, und ich will auch kein Koch werden. Egal, Herr Peters macht weiter. Er klärt uns gerade darüber auf, welche Kräuter die griechischen Götter schon auf dem Weg zum Olymp verwendeten und welche Kräuter die alten Römer auf ihren Fußmärschen durch halb Europa bei sich trugen. Herr Peters ist unterwegs zu einer anderen Welt, einer längst untergegangenen, in die er eintaucht, um die gegenwärtige Zeit zu vergessen. Wir wünschen ihm eine gute Reise. Alle dösen vor sich hin. Nur ich kann nicht einschlafen. Ich höre Wortfetzen. An meinem Gehör rauschen sie vorbei, die Namen von Herakles und Apoll, Cicero und Plinius dem Jüngeren, Cato und Demosthenes, Marc Antonio und Cäsar, Bittersüß und Bitterklee, Bingelkraut und Beifuß. Dann ein schriller Ton. Es muß geläutet haben. Die Stunde ist um. Wir haben es geschafft. Ohne Leistungskontrolle über die Runden gekommen. In den anderen Fächern auch keine Vorkommnisse. Nur während der großen Pause gibt es die übliche Schlägerei zwischen Hans-Joachim Voge und Ulli Müller. Ich gehe dazwischen, weil Ulli immer so grob zuschlägt. Er ist der Stärkste von uns, Eberhard Ihde der Klügste, Tommy der Schnellste, Wolfgang Pfeiffer der Wendigste, Klaus Mews der beste Fußballer. Damit ist auch schon die Riege der Lieblingsschüler von Klassenlehrer Horst Fiedler aufgezählt. Ich gehöre nicht dazu, bin wie immer im Mittelfeld, nur nicht beim Fußball, da spiele ich Linksaußen. Egal, wen ich auch nenne, wir alle haben Vorurteile gegen einen einzigen Schüler, der nur wegen seiner etwas brünetten Hautfarbe Schläge verdient, wie wir glauben. Helmut Berkel heißt er. Alle wissen, daß Helmut sich nicht wehrt. Selbst der Schwächste darf auf ihn einschlagen. Und wir nutzen seine Wehrlosigkeit schamlos aus. Dabei ist Helmut körperlich keineswegs von der Natur benachteiligt worden. Wir finden für sein Verhalten keine Erklärung, und wo der Verstand aussetzt, schaltet sich die rohe Gewalt ein. Einer ruft in die Runde: Helmut kriegt heute Klassenschacht. Alle sind dafür. Er hat nämlich wieder eine Eins in Deutsch für den besten Aufsatz erhalten, ist ein Streber, das muß bestraft werden, wir müssen ihm unbedingt einen Denkzettel verpassen. Wir lauern auf Helmut in den Anlagen am Frankenteich, stellen ihm ein Bein, bis er stürzt, dreschen drauf los. Wieder keine Gegenwehr. Befriedigt ziehen wir ab. Jeder geht seiner Wege, so als sei nichts geschehen. Das Opfer schweigt zu Hause über die Vorfälle in und außerhalb der Schule. Auch das wissen wir. Eines Tages bittet er mich, ihn mal bei Gelegenheit zu besuchen. Er wohnt gleich um die Ecke, in der Franz-Wessel-Straße. Ich begegne zunächst seinem Vater. Ein strenger Blick. Wer bist Du? Ein Klassenkamerad. Ist Helmut da? Ja, komm rein, mach die Tür hinter Dir zu, zieh die Schuhe aus, warte, bis ich ihn rufe. Ich werfe einen Blick in das halb geöffnete Wohnzimmer. In der Ecke am Fenster steht ein Klavier. Der Deckel geöffnet. Noten vor der Tastatur. Helmuts Unterricht endet nicht in der Schule. Er muß Klavier spielen, aber noch spielt das Klavier mit ihm. Der Vater ist darüber ungehalten. Herr Berkel ist Berufsmusiker, haut im Orchester auf die große Pauke. Und in den eigenen Wänden ist er sogar ein Dirigent, traktiert die Familie, den Helmut am meisten. Seltsam, die Mutter, der Vater und der Bruder haben alle eine helle Gesichtsfarbe, nur eben unser Klassenkamerad nicht. Herr Berkel will es nicht an die große Glocke hängen, warum Helmuts Hautfarbe so dunkel ist. Er wird ungehalten, wenn man ihn deswegen anspricht. Lieber redet er über Chopin, sagt, Helmut, diese Passage spielst du gleich noch einmal, da ist noch zu wenig Tempo drin. Üben, immer wieder üben, bis dir die Finger weh tun. Als wenn der Helmut nicht schon genug Schmerzen ertragen muß. Er wird zwar nicht mein Freund, doch bei der Klassenschacht mache ich nicht mehr mit, versuche zu erklären, warum der kleine Neger, wie wir ihn rufen, es so schwer hat mit uns und mit dem Vater und so, und allmählich hört die Prügelei endlich auf.
Nach einem Tag ohne peinliche Befragungen, strengen Tadeln, und gehässigen Strafarbeiten gehe ich munter wieder zurück in das Bürgermeister-Viertel. Der ganze Weg verlief mitten durch die Natur. Weit und breit keine Ruinen zu sehen. Einfach herrlich, denn mit zunehmendem Alter schärft sich der Blick für das Schöne, das Erhabene und mitunter Unerreichbare. Mir fällt das Lernen nicht allzu schwer, wenn mich der Stoff interessiert, doch was mich in den Bann zieht, steht meistens nicht auf dem Lehrplan. Beispielsweise bei der Erdkunde. Mir wäre Völkerkunde lieber. Ich möchte erfahren, welche Traditionen andere Menschen aus ferneren Regionen pflegen, welche Geschichte sich hier oder dort abgespielt hat,, das ist mein Ding. Wie oft nehme ich im Bett, so kurz vor dem Einschlafen, noch den braunen Schulatlas zur Hand und rechne mit dem Lineal aus, wie weit es von Stralsund nach Caracas oder Melbourne ist, nach dem ich in der Schule erfahren hatte, wie viel Erdöltürme in Baku stehen. Das Sehen und Verlangen nach der großen weiten Welt läßt mich nie mehr los. Ich kaufe ein Buch nach dem anderen. Alles Reise-Literatur. Ich lese von den Indianern am Orinoco-Fluß, den Aborigines in Australien, von den schönen Tahiti-Mädchen von Papeete, dem alten indischen Fakir in Neu-Delhi, den Sherpas von Nepal, dem Wasserträger in Casablanca, von prachtvoll gekleideten Inderinnen aus Agra, und dem toten Elvis an seinem Grab. In nicht wenigen Büchern ist ein unsichtbarer roter Faden eingelegt worden. Der Autor, meist ein Diplomat oder Journalist, sucht nach einem Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei, er sucht und sucht, und endlich findet er den Genossen, der im Bürgerkrieg in Spanien gekämpft hat oder Che persönlich kannte, im äußersten Winkel des Landes. Handelt es sich um einen Bildband, wird das Elend, die Arbeitslosigkeit, die Drogensucht, mit Farbe angemalt und die Schönheiten des Landes in Grautönen gehalten. Aber man erfährt doch am roten Faden vorbei allerhand Wissenswertes über Sitten und Gebräuche dieser exotischen Völker. Diese private Erkundung ist allerdings mit Eile verbunden, die Bücher sind meistens schnell vergriffen, sie kosten auch ein paar Mark, der Unterricht in der Goethe-Mittelschule ist billiger zu haben. Also bleiben wir weiterhin in der Zeit der guten Preise, verharren wir im Alltag der sozialistischen Epoche, gehen wir nach Hause.