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4. Kapitel: Originale

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Für den Weg nach Hause hat man von der Schule aus zwei Möglichkeiten, entweder am Frankenteich entlang, oder aber den Frankendamm hoch und in die Franz-Wessel-Straße einlenken. Dort, an der Ecke zur Smiterlow-Straße, lebt ein Mann mittleren Alters, etwa vierzig Jahre alt, der stets am Fenster hängt, wenn ich dort lang gehe. Er ist immer sehr freundlich, doch ein bißchen merkwürdig. Er, den man Jule nennt, ist so friedfertig, daß selbst freche Jungens sich nicht trauen, ihn zu ärgern. Wir unterhalten uns mit ihm, so gut es eben funktioniert. Ich erzähle Jule über die Erlebnisse in der Schule, was wir gelernt haben, für welche Streiche es einen Tadel gab, daß unsere Mathe-Lehrerin ihre Monatsbinde verloren hat. Er lacht über jede Bemerkung, wackelt mit den Ohren, senkt seinen riesigen Kopf, stammelt etwas, was man nicht versteht. Vielleicht will sich Jule entschuldigen, weil er lacht wie ein heiteres Kind. Nach einer Weile wird sein Gesicht wieder ernster, er sieht uns nicht mehr, Jule ist geistig weggetreten. Sein mächtiges Haupt sinkt herab, es ist als wolle er weinen und kann es nicht. Die ganze Szene ist wie in einem Kasperle-Theater. Das Böse lauerte in der Schule, auf der Straße und bei Helmuts Vater, und “Jule” war das gute Kasperle, um den man bangt, daß ihm nichts Arges widerfährt, er uns noch möglichst lange am Fenster begrüßen möge, aber seine Tage sind gezählt.

In Stralsund gibt es noch eine stattliche Anzahl von echten Originalen, nur den einen, über den am meisten am Kamin geredet wird, habe ich nicht mehr kennengelernt. Trotzdem ist er immer noch gegenwärtig. Seine Kapricen wandern von Mund zu Mund, von Kneipe zu Kneipe, von einer Generation zur anderen. Mutter erzählt mir, der Robert Jesus hätte die Oberlippe bis über das Kinn ziehen können und die Oberlippe bis unter die Nase. Seine größten Auftritte hätte er auf dem Rummel, zwischen Kettenkarussells und Schießbuden, gehabt. Dort wäre sein Milieu gewesen. Dort habe er ein paar Pfennige verdient, um sie anschließend in Schnaps umzusetzen, denn er mochte den Alkohol gut leiden. Mutti sagt, so einer wie Robert Jesus hat ihr immer Leid getan, weil der Robert ein Mann ohne Gesicht gewesen wäre, aber ein Gesicht brauche man doch, weil darin das Leid und die Freude abzulesen sei, schlechthin die Seele eines Menschen. Aber der Robert machte seine Späße, damit die anderen, die mit dem Gesicht, sich über ihn freuten, denn sehen konnte der Robert. Er war nicht blind. Nur ein wenig verrückt. Außer der Norm. Die Erwachsenen nennen das Abnormität. Damit ging er auf die Bühne des Volkes, mitten unter die kleinen Leute. In der Kneipe des Gastwirts Hermann Dau tanzte Robert auf einem Bein, vertilgte eine Portion Fleisch wie ein Wolf, rauchte vier spendierte Zigaretten auf einmal, zeigte bereitwillig seine Narben am Kopf, die man ihm aus “Spaß” zugefügt, denn gewehrt hat sich der Robert nie. Sobald es Winter wurde, er keine Unterkunft fand, hat er einen Vorwand gefunden, um eingesperrt zu werden. So verlief sein Leben. Eine kleine Episode daraus ist inzwischen zur Legende geworden. Es soll an einem kalten Tag im Spätherbst gewesen sein, da in den Wulflam-Anlagen ein lebloser Körper gefunden worden sei. Man brachte ihn mit einer Schubkarre in die Poliklinik, und weiter zur Leichenhalle. Ein Arzt hätte in dem frisch angelieferten Toten seinen alten Patienten Robert Jesus erkannt. Der Pathologe wäre nicht verwundert gewesen ihn hier anzutreffen. Er hätte gemurmelt, ach Robert, irgendwie habe ich schon auf Dich gewartet. Der Robert hätte die vertraute Stimme gehört, wäre aufgestanden und sei, nur mit dem Leichentuch bekleidet, durch die Stadt zum nächsten Blumenladen gelaufen, um sich eine kleine Freude zur eben erfolgten Auferstehung zu machen. Manche wollen noch im Schlaf mitunter seinen Ruf vernommen haben, Jesus ist auferstanden!

Alle anderen Käuze aus Stralsund gehören zur Gegenwart. In der Regel kennt man nur ihren Vornamen oder den Spitznamen. In der Frankenstraße wohnt Flaschen-Erich. Dabei sieht man ihn nie an einer Flaschen-Annahmestelle, dann schon eher am Hafen, wo er den Leuten im Gedrängel beruhigend zuruft, Ji kümm`n all mit. Ji kümm`n all mit. So verrückt, wie es klingt, ist das aber gar nicht, was er da sagt. In der Tat passen wir alle auf den Altefähr-Dampfer rauf, wir kommen wirklich alle mit, aber wenn die Kette vor dem Anlegesteg ausgehakt wird, entsteht jedes Mal ein Gerangel um die besten Plätze. Der Erich mit der ständig triefenden Nase, ein Mann, der einfach zum lebenden Inventar des Hafens gerechnet werden muß.

Da ist da noch ein Mann, den wir “Tempo” rufen. Er läuft auf und ab durch die Ossenreyer-Straße. Immer in Eile. Sein Äußeres läßt auf einen verkrachten oder abgestürzten Künstler schließen. Tempo hat lockiges, schwarzes Haar, rötliche Wangen, rot geschminkte Lippen. Er trägt einen hell gestreiften Anzug, dazu Lackschuhe. Auf dem Kopf ein kecker Strohhut, und in der Hand schwenkt er einen Spazierstock. So ist er mir unzählige Male begegnet. Über ihn ranken sich die tollsten Geschichten. Einer sagt, er hätte im Zirkus gearbeitet als Seiltänzer und wäre tatsächlich abgestürzt, ein anderer weiß von einer tragisch geendeten Liebesgeschichte zu berichten, ein dritter will in ihm einen bekannten Schauspieler entdeckt haben, der wegen irgendeines Vergehens im Gefängnis gelandet und dort verrückt geworden sei. Wie gesagt, die Spekulationen um seine Person gehen ins Uferlose. Ich hätte zu gerne die Geschichte dieses ominösen Menschen aus seinem eigenen Munde gehört. Doch ich bin zu feige, ihn auf der Straße anzuhalten, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Vielleicht wäre er auch nicht mehr geistig in der Lage gewesen, seinen Lebensweg zu schildern, und doch hat es mich später sicher geärgert, über ihn nichts erfahren zu haben. So geht man oft Leuten aus dem Wege, die mitunter darauf warten, mit dem Anderen freundlich zu reden. Denn jeder Mensch hat seine eigene Geschichte, und diese ist mitunter schillernd und abenteuerlich, aber wir, besonders wir im Norden, gehen achtlos an ihnen vorbei, suchen im Lokal krampfhaft nach einem freien Tisch, wo ein freier Stuhl manchmal viel mehr zu bieten hätte.

Im Sommer, wenn es vor Urlaubern in der Stadt nur so wimmelt, rückt die große Zeit für “Matschmul” heran. Sein Revier ist die Waldschenke, im Volksmund “Assi-Markt” genannt, wo die Fremden nach Bockwurst anstehen. Setzen sie sich zu ihm an einen verwitterten Holztisch, nimmt er sie unversehens mit auf hohe See, spinnt den Seemannsfaden weiter und weiter, umsegelt Kap Horn und das Kap der Guten Hoffnung, übersteht Stürme und Schiffbrüche, erzählt von den schönen Mädchen auf Hawaii, von wilden Stämmen an Madagaskas Küste, von der Meuterei auf der “Hertha”, und dem Streit mit seinem Kapitän. Die Leute sind hingerissen von Matschmuls Abenteuern. Sie geben ihm einen aus, manchmal auch zwei, oder ein Bier und einen Korn. Dann grient er verwegen in die gezückten Fotoapparate, zieht seine Schiffermütze schräg ins gebräunte Gesicht, nuckelt kräftig an seiner Pfeife oder summt vergnügt vor sich hin. Niemand seiner zahlreichen Anhänger aus Dresden, Leipzig oder anderswo hat je erfahren, wer er wirklich gewesen ist, ein kleiner Ganove im maritimen Kostüm, der viel Durst, aber kein Geld hatte.

Wenn es auch nur einen einzigen Menschen in Stralsund gibt, der in völliger Unschuld lebt, dann wird man unbedingt an Ingo denken. Er mag so um die dreißig Jahre alt sein. Ich sehe ihn häufig auf dem Johannismarkt, an der Seite seiner Mutter. Da steht er meistens an einer Losbude, oder an einem Karussell, beobachtet das Treiben der Leute, lacht über die belanglosesten Dinge, sieht dabei so treuherzig seine Mutter an, daß niemand es wagt ihn zu hänseln. Bei Ingo hörte der Spaß auf, den man ansonsten mit den Sonderlingen treibt. Wir haben alle Mitleid mit ihm, weil er mit dem Gemüt eines fünfjährigen Kindes denkt und fühlt. Als seine Mutti stirbt, hat Ingo kein Vergnügen mehr an den Lustbarkeiten der Schausteller. Ich sehe ihn nie wieder auf dem Jahrmarkt. Seine neue Wirkungsstätte ist die Gegend am Hauptbahnhof, wo er den Verkehr beobachtet, Leute betrachtet, die von der Reise kommen, wo er über den Verkehrspolizisten staunt, der in einer Kanzel die Autos dirigiert, und was er sonst noch zu sehen kriegt. Eines Tages ist er gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden, wie die anderen Stralsunder Originale vor ihm. Schade, er gehörte zu unserer Stadt wie das Meer und der Hafen, die Schiffe und die Möwen. Der Verlust an Sonderlingen jeglicher Art hat uns nicht gerade reicher gemacht. Ich vermisse sie.

Der Hafen meiner Träume

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