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5. Kapitel: Die Leinwand ist meine Schultafel
ОглавлениеWann ist man kein Kind mehr? Wenn man vierzehn ist, sagen die Erwachsenen. Dann kriegt man einen Personalausweis, wo drinsteht, wie alt man ist, damit man nicht vergißt, kein Kind mehr zu sein. Die Größe wird vermerkt, und die Farbe der Augen und die Adresse. Und das man noch nichts ausgefressen hat, aber das steht weiter hinten. Ab heute habe ich auch so einen Deutschen Personalausweis, abgekürzt DPA. Sicherheitshalber zeige ich ihn überall herum, bei Bäcker Krowas und bei Fleischer Drews in der Fährhofstraße, im HO-Laden an der Gentzkowstraße und im Fischladen auf dem Frankendamm. Der DPA begleitet mich, wohin ich auch gehe. Ich bin stolz, im Besitz eines Personalausweises zu sein. Im Kino soll man den blauen Ausweis zeigen, wenn man über 14 Jahre alt ist, aber wie ein 13-jähriges Kind aussieht. Dort gehe ich gleich an drei Frauen vorbei. Zunächst zur Kasse, wo man die Karten kauft. Man kann im Union-Theater wählen zwischen Sperrsitz, Parkett und 1. Rang. Manchmal ist auch alles belegt, bis auf die erste Reihe. Das deutet auf einen guten Film hin. Man muß zu ihm hoch gucken. Dann zeigt man die gekauften Billetts der Kartenabreißerin vor. Sie prüft sie, ob sie gültig sind. Ist das aufgestempelte Datum von heute deutlich zu sehen und die Abrißecke noch vorhanden, darf man in den Vorraum. Wir werden weitergereicht an ein Monstrum mit Taschenlampe. Es ist die Platzanweiserin. Die Dicke wohnt gleich schräg gegenüber vom Kino, bei Uhrmachermeister Spaltner, in einer kleinen Bude. Ob mit Mann oder ohne Mann, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß sie gerne mit der Taschenlampe spielt. Ansonsten ist Frau Beyer, so heißt sie wohl, sehr streng zu den jüngeren Besuchern. Ich glaube, sie mag generell keine Kinder, denn immer meckert sie an uns herum. Wir dürfen im Kino nicht essen, keine Witze erzählen, keine Bemerkungen machen, nicht zu spät erscheinen, keinen Szenenapplaus spenden, keine Buh-Rufe ausstoßen. Nur still dasitzen und gebannt auf die Leinwand gucken, das dürfen wir. Wenn sie mich im Dunkeln auf meinen Platz führt, dann denke ich, sie würde mich viel lieber bei der Polizei abliefern. Man hat immer ein schlechtes Gewissen an ihrer Seite. Sie guckt auch ganz genau auf den Personalausweis, prüft, ob es nicht der Ausweis eines älteren Bruders ist, denn dann nimmt sie dich am Kragen und bringt einen wieder an die frische Luft. Einmal hat sie mich erwischt, wie ich gerade an zwei Erwachsenen hindurch in einen Film gehen wollte, der das Prädikat P 14 trug. Nun hole ich alles nach, was sie mir zuvor verweigert hat. An meiner Seite Peter, Ilse und Uwe. Wir sind alle filmbesessene Besucher. Das fängt schon bei der Werbung an. Wenn das erste Bild auf der Leinwand erscheint, sagt Ilse, das nehme ich. Der Friseur Haar bietet Dauerwelle und Lockenwelle an. Ich soll die zweite Werbung haben. Möbelhaus Thierfeld hat eine Lieferung mit Kleinmöbeln erhalten. Reiche Auswahl. Peter ist jetzt dran. Besuchen Sie mal wieder das Thälmann-Haus, freundliche Bedienung, schmackhaftes Essen, gepflegte Getränke, und flotte Musik. Es spielt die Kapelle Hugo Schult. Uns Uwe ist wie immer ein bescheidener Konsument. Weißkohl ist ja sooo gesund, liest er auf der Leinwand. Er wird bei seiner Mutter nur noch Gerichte mit Weißkohl bestellen.
Kleine Pause. Das Stachelschwein erscheint. Ein Raunen im Saal. Hans-Joachim Hanisch und Axel, Triebel, Otto Stark und Inge Nass, Felicitas Ritsch und Ingeborg Krabbe machen sich lustig über die Zustände im fremden Land, über den Alltag bei uns, über komische Begebenheiten. Sie bringen uns zum Lachen. Eine gute Einstimmung für den Film. Doch zuvor noch Neues aus aller Welt, die DEFA-Wochenschau. Wir rutschen nervös auf unseren Sitzen umher. Peter flüstert, ob heute Elvis oder Bil Haley dabei ist. Bil Haley ist dabei. Gezeigt wird ein kurzer Ausschnitt von seinem letzten Konzert. Er soll die Auswüchse des Kapitalismus in unsere Köpfe hämmern. Stühle fliegen, Tische kippen um, ein Handgemenge unter den Besuchern entsteht. Und dazu die aufpeitschenden Rhythmen des neuen, wilden Tanzes. Wir trampeln mit den Füßen, sind mittendrin, für einen kurzen Moment stockt uns der Atem. Dann neue Bilder. Das Licht geht wieder an. Ein paar Takte Musik. Es wird schummrig. Der Hauptfilm läuft.
Ich rutsche auf meinem Sessel hin und her. Da sitze ich nun vor der großen Leinwand, neben mir und vorder mir gibt es nicht mehr, ich bin gefangen im Zelluloid-Streifen. Er zieht mich mit sich fort, hin zur Leinwand, die immer näher zu kommen scheint. Ich kann meine Helden schon berühren, weile schließlich unter ihnen, bin eins geworden mit der zauberhaften Welt des Kinos. Ich vergesse Zeit und Raum, Elternhaus und Schule, den Sozialismus und die Ernteschlacht. Ich bin dem Alltag entschwunden, weile gerade in einem gottverdammten Nest unterhalb des Äquators. Überall Staub und Morast. Dazu das schwüle, ungesunde Klima, das den Einwohnern, überwiegend Indios und Neger, zu schaffen macht. Doch nicht nur ihnen, sondern mehr noch den aus Europa angelandeten Existenzen. Die Angst geht bei ihnen um vor dem Fieber. So mancher Mann würde lieber heute als morgen dieser Hölle entfliehen, anstatt Tag für Tag in der Kneipe zu hocken, dummes Zeug zu reden und den Wirt um einen Schnaps anzubetteln. Doch man hat kein Geld für die Abreise. Sie sind daher zu allem bereit, würden jede Arbeit annehmen, sei sie auch noch so gefährlich, wenn am Ende mit dem sauer verdienten Lohn eine Flugkarte nach New York oder anderswo bezahlt werden könnte. Denn wer in dem Fiebernest zu lange bleibt, bleibt unweigerlich für immer. Da bietet sich ihnen eine einmalige Chance. Das in der Nähe ihres Ortes stationierte Camp der Southern Oil Company hat einen Alarmruf erhalten. Eine der Ölquellen ist in Brand geraten. Es werden vier mutige Männer gesucht, die in zwei klapprigen Lastwagen auf holprigen Straßen hochexplosives Nitroglyzerin zu der Unglücksstelle transportieren. Nur mit diesem Sprengstoff kann der Brand erstickt werden. Es geht für die Company um viel Geld, und für die vier Männer, die man braucht, um einige Tausend Dollars. Alle können das Geld dringend gebrauchen. Man rangelt um den Job. Auserwählt werden schließlich Yves Montand, Charles Vanel, Folco Lulli und Peter van Eyck. Ich bange mit ihnen, zittere, als der Lastwagen von Yves Montand an eine Klippe fährt, dem Abgrund nahe ist, im Morast versinkt. Ich trauere um Peter van Eyck, um Charles Vanel, und Folco Lulli, die auf der Strecke bleiben. Und freue mich, dass wenigstens Yves Montand es geschafft hat, der Hölle zu entkommen. Allein, die Fahrt zu einem besseren Leben dauert nur wenige Minuten. Im Übermut des eben errungenen Sieges über sich selbst dreht er den Motor seines Autos zu stark auf, lenkt waghalsig in eine Kurve ein, stürzt in den Abgrund. Aus und vorbei. Auch er hat den Lohn der Angst mit seinem Leben bezahlt. Das Licht geht an. Ich stehe erschüttert von meinem Platz auf, rede auf dem Nachhauseweg kein Wort mit Peter und Uwe. Ich bin zu betroffen. Ja, so nimmt mich das Kino mit. Und ich gehe immer wieder rein ins Vergnügen oder ins Verderben. Im nächsten Film, einem von der DEFA, steige ich auf ein Traumschiff, lasse mir von Kapitän Franz Müller sein Schiff erklären, schließe Freundschaft mit den Berliner Kindern Rolf und Reni, rauche mit dem Schiffsjungen Heini eine Casino, lerne die Freundin des Kapitäns kennen. Wir sind alle unterwegs auf hoher See, auf einem Schlepper. Eine Liebesgeschichte ist auch dabei. Ende gut, alles gut. Der Kapitän läuft in den sicheren Hafen der Ehe ein. Im Abspann erfahre ich, wer in dem Film “Das Traumschiff” mitgespielt hat, Günther Simon, Gisela Uhlen, Erich Franz und Kurt Ulrich. Ein Film zum Entspannen. Leichte Kost. Er schont die Nerven.
Der nächste Streifen ist einen Zahn schärfer. Mutti sagt, das ist nichts für Dich. Geh da nicht hin. Der ist zu ernst. Am Ende stirbt die blonde Hexe einsam und verlassen im Wald. Ich hab ihn schon gesehen. Das würde ich mir nie wieder anschauen. Man braucht doch jetzt etwas Heiteres, einen Musikfilm oder so. Ja, ja, alles klar. Mutti hat Angst, daß ich wieder wie beim ersten Kinobesuch an ihrer Seite wegen zu heftigen Schluchzens aus dem Saal geführt werden muß. Sie schämt sich für mich, weil ich immer meinen Gefühlen freien Lauf lasse, weine und lache, mal eine heitere, dann wieder eine ernste Miene mache. Mir läuft zum Beispiel im Kino eine Träne aus dem Auge, als der Postmeister Heinrich George seine einzige Tochter Dunja verliert, weil ein vornehmer Herr aus Petersburg sie mit sich nimmt, angeblich aus Liebe. Er will sie heiraten, sagt er zum Vater. Aber das stimmt nicht. Er wollte nur sein Vergnügen. Inzwischen wartet Heinrich George jeden Tag auf Post von ihr, hofft sehnsüchtig auf die entscheidende Nachricht von der bevorstehenden Hochzeit. Aber es kommt kein Brief. Da fährt er in seiner Verzweiflung selbst nach Petersburg. Der Rittmeister Minskij, der die schöne Dunja nur noch als Mätresse betrachtet, organisiert ein Hochzeitsfest, zum Schein natürlich. Heinrich George fährt glücklich nach Hause. Viele Jahre vergehen. Rittmeister Minskij kommt wieder auf die gleiche Poststation, auf der alles seinen Anfang nahm. Er lügt wieder, sagt zu Heinrich George, seine arme Dunja sei als Frau Rittmeisterin gestorben. Mit dieser letzten Lüge hebt sich der Vorhang. Und ich bin sehr traurig.
Fernandel bringt mich wieder zum Lachen. In gewissen Nächten zieht er über die Dächer, turnt auf dem Drahtseil, überwindet schwindeltiefe Schluchten, erwischt die Ganoven, die es auf die Juwelen des Pariser Warenhauses Berthe abgesehen haben. Er ist ein Detektiv des Hauses. Sehr erfolgreich. Aber er merkt es gar nicht, weil er ja nur schlafwandelt. Trotzdem wird Fernandel, im Film Boniface genannt, belohnt, und darf sogar die Vize-Direktorin des Unternehmens heiraten. Ein Glückspilz, dieser Mann mit dem Nußknacker-Gesicht. Ich mag ihn. Das Leben ist für mich eben auch Kino. Die ernsthaften Dinge fasse ich als Spaß auf, und den Spaß als Ernst. Bei mir ist alles umgekehrt. Also, ich gehe nicht in die blonde Hexe, damit Mutti ihre Ruhe hat, ich begrüße Kathrin alias Caterina Valente. Bon jour, Kathrin, Bon jour ihr Melodien, die dieser schöne Tag uns bringt. Bon Jour, Paris. Die Sund-Lichtspiele sind gerappelt voll. Ich sitze auf dem Sperrsitz, schaue immer nur nach oben, bewundere die Stars der Leinwand und wünsche, sie würden mich mit auf Tournee nehmen. Macht doch aus dem Trio ein Quartett, die Caterina Valente, ihren Bruder Silvio Francesco, Peter Alexander und Everado Schilo. Ach, könnte das schön sein. Klingt doch sehr exotisch, und nur wer exotisch klingt, klingt angenehm in den fünfziger Jahren. Also, bitte. Nehmt mich mit auf das Traumschiff der Liebe, ich will auch nur euer Schiffsjunge sein, aber nehmt mich mit, laßt mich nicht hier versauern. Sie verstehen mich nicht. Das Orchester Kurt Edelhagen spielt zu laut.
Wir hören nicht auf ins Kino zu gehen. Überall, wo eine Filmrolle eingelegt wird, sind wir dabei, ob im besagten UT, oder in den Sund-Lichtspielen, und falls mal aus irgendwelchen Gründen, wegen Krankheit oder Ferien, ein Film verpaßt wird, hat man ja immer noch die Kammer-Lichtspiele in der Mühlenstraße. Was auf dem Spielplan steht, ist uns eigentlich egal. Unser Geschmack ist noch ein Gemüsegarten. Mal sieht man sich einen Krimi an, dann einen Liebesfilm, mitunter sogar Märchenfilme. Einen davon, einen tschechischen, habe ich mir in der Turnhalle auf dem Jahnsportplatz angesehen. Und als in den Dänholm-Lichtspielen das Schicksal der Familie der Buddenbrooks gezeigt wird, machen wir uns auf den Weg über den Rügendamm.
Wie im Leben ist das Kino nicht frei von Pannen. Ich sitze mit Peter und Uwe im UT, auf der Leinwand herrscht größte Spannung. Ein Artisten-Trio, zwei Männer und eine Frau, arbeiten am Trapez. Die hübsche Jeannine wird von den Kollegen verehrt. Alexis verliebt sich schließlich in sie. Er nimmt sie in seine kräftigen, fangbereiten Arme, streichelt ihre Schulter, ihr kurzes, schwarzes Haar, der Schlafrock verrutscht, und dann, ja dann wirbelt der Zelluloidstreifen wild umher, macht ein Tänzchen, bis es oben im ersten Rang knackt und stöhnt. Der Film ist gerissen. Ein grobschlächtiger Kerl steht wütend von seinem Sperrsitz auf. Mit dem Rücken zur Leinwand sucht er den Filmvorführer, kann ihn aber nicht finden. So wendet er sich an die Bullaugen, aus denen der Film über unsere Köpfe hinweg auf die Leinwand kommt: Wat is dat mit die da boben, sagt er wütend. Büst all werre besoppen, oder wat? Der Mann ist echt verärgert, weil er etwas sehen will, was er zu Hause nicht zu sehen kriegt, einen Kuss, eine Bettszene, oder so etwas in der Art. Das Gebrüll macht den Filmvorführer nur nervös. Jetzt stehen die Artisten plötzlich auf dem Kopf, obwohl das in ihrer Nummer gar nicht vorgesehen war. Das Publikum feixt, der Kumpel aus der zweiten Reihe stampft mit dem Fuß auf, schiebt seine Nebenleute in die Holzstühle hinein, er rüpelt sich zum Ausgang, von wo er noch einen Fluch zum Filmvorführer ausstößt. Bei diesem Grobian kann auch die dicke Platzanweiserin Irmgard Beier nichts machen. Der Lümmel ist zu stark für sie. Wir haben den Film doch noch irgendwie bis zum Ende gesehen. Ja, manchmal geht auch das Licht plötzlich aus. Dann ruft jemand vom Personal, Stromsperre. Die Seitentür wird geöffnet. Wir stehen 20 Minuten auf dem Innenhof, als gerade die “Stechfliege” wieder zuschlagen will. Eine lockere Unterhaltung über das bisher Gesehene setzt ein, man spricht vom russischen Film, von den großen Schauspielern Sergej Bondartschuk und Michail Ulanow, wartet auf das Ende der Stromsperre und wird schließlich wieder herein gerufen. Wir sind ja so geduldig, bis auf wenige Ausraster.