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7. Kapitel: Zeitungsschau mit einem Maikäfer

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Heute ist ein blöder Tag. Ich sitze allein in der Mansarde. Vor mir liegen die Schulhefte. Ich komme nicht weiter mit dem Aufsatz, in dem man beweisen soll, daß die Kunst zu den Waffen gerechnet werden muß. Die Deutsch-Lehrerin, Fräulein Mittelstädt, hat uns das Thema eingebrockt. Ich kann damit nichts anfangen. Wir haben auf dem Hühnerberg schon allerhand Waffen ausprobiert, angefangen vom Katapult über den Flitzbogen bis hin zum Blarohr, aber mit der Kunst haben wir noch nie gefochten. Nun so etwas. Nur, weil der deutsche Arbeiterdichter Erich Weinert, der die Kunst als Waffe versteht, nicht auf dem Hühnerberg gewohnt hat. Ich schiebe das Deutschheft zur Seite, öffne das Fenster, stelle das Radio an und höre aus Protest Westmusik. Damit locke ich einen Maikäfer an. Er fliegt, ohne das Herein abzuwarten, gleich auf den Tisch. Ich schaue ihn mir genauer an, bestimme seinen Dienstgrad, salutiere, denn es ist ein Kaiser. Ihm ist es draußen zu kalt geworden. Das Thermometer zeigt nur 10 Grad an. Ja, was macht Seine Majestät denn hier. Er nimmt das Neue Deutschland als Wanderweg an. Mein Bruder liest nämlich neuerdings das Zentralorgan der SED. Er braucht es, wir noch nicht, und der geflügelte Kaiser interessiert sich auch dafür. Er krabbelt über die Titelseite. Gestatten, Majestät, daß ich Majestät bei der Zeitungsschau begleite, sage ich zum hohen Tier. Ich darf meinem Wunsch Ausdruck verleihen, Majestät, daß Majestät nicht all zu sehr erschrecken über die Sprache, die in diesem Organ zum Ausdruck gebracht wird, sage ich zum Kaiser, wir haben eben jetzt andere Zeiten, andere Leute sind am Ruder, es hat sich viel verändert, seit Majestät 1918 in den Sack gehauen haben. Der Kaiser ist einverstanden, daß ich ihn über die Ereignisse des Tages informiere. Große Überschrift, Erstes Bauernforum: Am Donnerstag diskutierten die Bauern der Gemeinde Leezen im Landkreis Schwerin im ersten öffentlichen Bauernforum der Nationalen Front mit dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Bezirkstags-Abgeordneten, dem Kreistierarzt, Mitarbeitern der Wasserwirtschaft, der Versicherungsanstalt und der MTS über aktuelle Fragen der Landwirtschaft.

Der Kaiser pumpt tief durch, wird ungehalten, weil keine Adelsnachrichten vorliegen. Ich bereite ihn behutsam auf den nächsten Artikel vor. Immer noch auf der ersten Seite des ND unterwegs, steht dort geschrieben, Große Aufträge in Paris: Das Tempo der Verkäufe der DDR- Exportgesellschaften auf der Pariser Messe hat sich, wie erwartet, in den letzten Tagen weiter erhöht. Vier Tage vor Messeschluß haben die getätigten Verkäufe die Vorstellungen, die man sich von den Verkaufsmöglichkeiten machte, um rund zehn Prozent überboten. - Seine Majestät ist mit dieser Prozentrechnung völlig überfordert, eilt von dannen, kriecht in eine Meldung aus Leipzig hinein, Pädagogischer Kongreß: Enge kameradschaftliche Zusammenarbeit von Arbeitern und Lehrern bestimmte die Ergebnisse des V. Pädagogischen Kongresses, der am Freitagnachmittag beendet wurde. Er beriet und beschloß die Aufgaben der deutschen demokratischen Schulen beim Aufbau des Sozialismus. Es zeigte sich, daß die Arbeiterklasse begonnen hat, die schwierigen Probleme von Unterricht, Erziehung und Bildung der Kinder zu meistern - ebenso die Wirtschaft und den Staat lenken lernte.

Der Kaiser ist fix und fertig. Ihm geht die Puste aus. Zur Erholung lege ich ihn in eine Zigarrenkiste, füttere ihn mit frischen Blättern und lasse ihn in Ruhe. Allmählich erholt sich Seine Majestät von den Anstrengungen der Zeitungslektüre. Er macht schon wieder Anstalten, über das ND zu laufen. Ich halte Seine Majestät davon ab, falte das Zentralorgan zu, wünsche Seiner Majestät einen guten Flug. Fort ist der Kaiser und wir bleiben der Arbeiterklasse weiterhin gewogen.

Wieder allein, lese ich mir den letzten Artikel noch mal durch, den vom Pädagogischen Kongreß. Wenn ich richtig verstanden habe, ist es Sache der Arbeiterklasse, die Kinder in unserem Staat richtig zu erziehen. Folglich hat meine Mutter damit gar nichts zu tun, sie bleibt außen vor, denn sie ist eine Angestellte, fällt unter die Rubrik “Sonstige”. Das Problem muß geklärt werden. Ich möchte nicht unbedingt unter falschem Kuratel stehen. Mutter, darüber wird in unserer Mansarde noch zu sprechen sein. Den Artikel schneide ich mir auf alle Fälle aus, wenn es mal hart auf hart zugeht. Im Grunde genommen darf sie ja noch nicht einmal meckern, wenn meine Sachen unordentlich im Kleiderschrank lagern. Wie oft höre ich ihren Vorwurf: Was für ein Chaos in deinen Fächern! Strümpfe liegen neben den Unterhemden, Leibchen neben den Oberhemden, Taschentücher unter den Socken. Wenn du mal später eine Frau hast, die ist jetzt schon zu bedauern. Die räumt dir nicht alles nach. Sie wird dir deine Klamotten um die Ohren hauen. Das sagt sie laut, sehr laut. Innerlich denkt sie aber ganz anders. Mutter unternimmt nämlich enorme Anstrengungen, um mich vom anderen Geschlecht fern zu halten, oh ja . Ich bin letztlich das einzige Kind, das noch beständig die Füße unter ihrem Tisch ausstreckt. An diesem kantigen, alten Familientisch soll ich kleben bleiben, bis mir die Haare grau werden. Dafür tut die Mutter alles, stopft mir die Strümpfe, bügelt meine Hemden, bereitet das Mittagessen, schmiert die Stullen für die Schule. Und falls ich mal das Stullenpaket vergesse, läuft sie mir nach, steht vor dem Klassenzimmer, wartet das Pausenzeichen ab, und reicht mir die Frühstücksdose. Daß sich die Jungens schon lustig darüber machen, wie ich verhätschelt werde, stört sie nicht. Sie sagt nur, laß es Dir schmecken, Bübi! Ich habe gute Leberwurst aufgeschmiert. Und schon huscht sie über den Flur ins Freie. Ob mich die Arbeiterklasse jemals so verwöhnen wird? Ich glaube nicht, denn nichts geht wohl über eine Mutter, die ihren Sohn liebt. Auch wenn sie in diesem Staat keine Privilegien genießt, weil sie unter die Rubrik “Sonstige” fällt, ist sie doch meine liebe, gute alte Mutti.

Wölfi schleicht auf leisen Sohlen ins Zimmer. Er sieht auf mein Deutschheft, liest die Überschrift des Aufsatzes und ein paar unverdächtige Sätze dazu. Er spottet. Na, weit bist du ja mit deinen Waffen nicht gekommen. Ist dir die Munition ausgegangen? Gib mal her. Das ist so leicht. Schreibe einfach über Victor Hugo. Setz dich mit seinem Artikel, Ich klage an, auseinander. Allein mit der Kraft seines Wortes hat er erreicht, daß dieser Dreifuß nicht zum Tode verurteilt worden ist. Ich kenne weder Victor Hugo noch den Dreyfuß. Fräulein Mittelstädt wird merken, wer mir die Feder geführt hat, mein großer schlauer Bruder, und das grenzt dann an Betrug. Victor Hugo nehme ich nicht. Sein Artikel ist mir zu politisch. Auf der Suche nach einem neutralen Thema fällt mir eben etwas ein. Mein Cousin Charly und ich, wir hatten vor zwei-drei Jahren ein sehr sonderbares Hobby. Wir sammelten die Gerüche von den Toiletten. Wo wir auch waren mit unseren Müttern, ob auf dem Hiddensee-Dampfer, in der Eisenbahn oder in einem Restaurant, da gingen wir zuerst immer auf`s Klo. Manchmal entdeckten wir irgendwelche Inschriften, etwa, ich liebe dich und so; dazwischen zwei Strichmännchen an die Wand gemalt, die sich die Hände reichen. Wie geht das, fragten wir uns. Auf einem anderen Klo sahen wir einen Drachen mit einem dünnen Strich in der Mitte. Ein Mann, der beim Pinkeln neben mir stand, sagte, das ist eine Vagina. Wir lachten über das Wort Vagina. Es klang komisch, aber wir wußten noch nicht, was es bedeutet. Unser Experte für schweinische Sachen aller Art war in die Sommerferien gefahren. Zu Hause schaute ich im Duden nach. Da stand unter Vagina: Scheide. Ich warf einen Blick auf mein neues Fahrtenmesser. Das hatte auch eine Scheide, einen Schutz für das Messer. Also, was in die Scheide gehört, muß man folglich schonend behandeln, dachte ich. Doch genaue Informationen fehlten. Sei es wie es sei, wir sammelten jedenfalls Gerüche und komische Worte. Und deswegen werde ich den Aufsatz in diese Richtung lenken. Unterstützung erhalte ich aus einem Buch, Fachliteratur für die Karriere meines Bruders, Klassischer Journalismus - Meisterwerke der Zeitung, gesammelt von Egon Erwin Kisch. Da lese ich auf Seite 367 den Artikel von Lous Sebastien Mercier über Öffentliche Bedürfnisanstalten. Das ist das Richtige. Die Handlung spielt zwar um das Jahr 1790 herum, obendrein in Paris, aber hier begegne ich tatsächlich der Kunst als Waffe. Mercier klagt auch an, beschwert sich öffentlich, daß es in der französischen Hauptstadt keine öffentlichen Bedürfnisanstalten gebe.

“Sie fehlen in der Stadt, und man wird in arge Verlegenheit gesetzt, wenn man von einem Bedürfnis bedrängt wird; man wird genötigt aufs Geradewohl ein Klo in einem fremden Hause zu suchen. Man windet sich wie ein Aal, schlägt die Beine ineinander, preßt den Hacken gegen das Hinterteil, damit ja nichts passiert. Man drückt an den Klinken der Gebäude wie ein Einbrecher, obwohl man nicht die Absicht hat, etwas zu stehlen. Man will sich ja selbst erleichtern, und nicht beschweren. Was bleibt einem übrig, wenn die Türen verschlossen bleiben. Der eine stürzt sich in eine dunkle Allee und ergreift nachher die Flucht; ein anderer ist gezwungen, an einem Brunnenrand die öffentliche Sittlichkeit zu verletzen, ein weiterer läuft in gebückter Haltung an die Kaianlagen, welche eigentlich zur Zierde der Stadt gedacht sind, um dort sein kleines Geschäft zu verrichten. Und die besonders Geplagten erhöhen in höchster Not den Pegelstand der Seine. Die Orte aber, welche die Aufschrift tragen: “Es ist bei Körperstrafe verboten, hier seine Bedürfnisse zu verrichten”, sind gerade jene, in denen sich die meisten Pinkelbrüder einfinden. Das ist das Resultat der riesigen Ansammlung von Menschen in einer Großstadt wie Paris eine ist. Denn jede Sitzung bei Tisch erfordert eine auf dem Klo. Wenn es öffentliche Herbergen gibt, warum gibt es dann keine öffentlichen Bedürfnisanstalten. Die Frauen sind in dieser makabren Darbietung zurückhaltender als die Männer; sie wissen ihre Maßregeln so gut zu treffen, daß selbst die schamloseste nie das Schauspiel bietet, wie oft auf offener Straße der als gesittet angesehene Mann. Falls es eines Tages zu Studien der Ärzte über dieses leidige Unwesen kommen sollte, könnten sie an den öffentlichen Kundgebungen, von denen hier die Rede ist, nur die männliche Beschaffenheit des Leibes unterhalb der Gürtellinie bestimmen; um die der Frauen zu erfahren, müßte man anderweitig suchen.”

Etliche Jahre später haben die Pariser Stadtväter den Artikel noch einmal durchgelesen, genickt, gesagt, der Mann hat nicht Unrecht, und beschlossen, sofort mit dem Bau von öffentlichen Toiletten zu beginnen. Das ist Kunst als Waffe. Kraft der Wortgewalt von Mercier wurde in Paris ein stinkendes Übel beseitigt. Und so könnten wir in unserer Stadt auch alles, was zum Himmel stinkt, beseitigen, wenn die Journalisten ihre Feder als Waffe benutzen würden. Das ist mein Schlußwort. Frau Mittelstädt ist nicht gerade begeistert von meinem Ausflug nach Paris. Sie sagt, Eberhard, du hast eine reiche Fantasie, doch achte darauf, daß sie dich nicht am Thema vorbei in die Irre leitet.. Ich gebe dir ein “genügend”, damit bist du noch gut bedient.

Der Hafen meiner Träume

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